Viele Wege führen nach Rom heißt ein Sprichwort. In meinem Fall sagen meine Eltern, viele Wege führen von dem kleinen Kaff wo ich herkomme in unsere schöne Landeshauptstadt nach Dresden. Und so sitze ich im Auto neben meiner Mama, der Papa wollte hinten sitzen. Bei der 25minütigen Reise, die wir zum Hauptbahnhof unternehmen, fahren wir an so vielen Ecken meiner Jugend vorbei, dass mir vor lauter Erinnerung ganz flau wird. Meine Eltern plappern und erzählen mir, dass jetzt der Herr Müller das Grundstück dort gekauft und dass Familie Maier ein neues Haus hier gebaut hat. Ich merke, wie ich abschweife und wie sich immer mehr Gedankenschnipsel aneinanderpuzzlen. Ungefragt läuft auf einmal ein Soundtrack in meinem Kopf. Theatre of Tragedy heißt die Band. Damals lief ein bestimmtes Album auf Dauerrotation in meinem Discman, immer wenn ich unterwegs war, also fünf von sieben Wochentagen. Manchmal wollte der Discman nicht wegen der Kälte und es hat die Batterien im Sauseschritt entladen, daran erinnere ich mich. Und an Zschertnitz, da war eine Studentendisco, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere. Dafür aber an den Geruch dort drin, an die Emotionen und wie ich mir jeden Mittwoch dort die Seele aus dem Leib getanzt habe.
Ich komme an einer anderen kleinen Studentendisco vorbei.. dort war ich freitags immer zuhause.. es lief Gothic und überall brannten Kerzen. Scheiss auf Brandschutz, das fand ich damals schon klasse. Ich erinnere mich an Matthias mit seinen Grübchen und wie er mich immer angeschaut hat wenn ich getanzt habe. Wie ich aber nicht hinbekommen habe, den einen Schritt auf ihn zuzumachen. Wie er einige Wochen später dann mit seiner neuen Freundin in die Disse kam. Mindestens so lange wie ich dort hingegangen bin, waren die beiden ein Paar.
Ich sehe rückblickend so viele Herzenssplitter meines jüngeren Ichs. Möchte sie gern aufsammeln. Möchte mein 17jähriges Ich gern umarmen. Ihm sagen, es wird alles gut, halte durch. Du wirst noch durch viele dunkle Täler gehen und auch oft nicht mehr aufstehen wollen. Aber Du wirst! und es wird sich lohnen. Ich bin nachdenklich. Solche Zeitreisen tun mir weh, mehr als ich ertragen kann. Deswegen nehme ich mein jüngeres Ich, ganz behutsam mit federleichten Fingern. Wickle es ein in schwarzes Tuch wie in Mutter Erde und stecke es zurück in die Schublade, die immer wieder aufspringt, wenn ich mich dort aufhalte, wo ich mal zuhause war.
Von den vielen Abzweigungen, zwischen denen ich im Leben habe wählen können, gibt es immer und immer wieder ein, zwei, die mich nicht loslassen. Eine davon ist, was wäre wenn ich meine Heimat nie verlassen hätte? Hätte ich Familie? Kinder? So viele Emotionen stecken in diesen Fragen. In diesen Bildern, die sich unweigerlich dazufügen. Ich versuche, nie daran zu zweifeln, wo mein Weg mich letztlich hingeführt hat. In eine tolle Stadt. In die Arme einer großartigen Frau. In eine Zukunft voller Möglichkeiten. Und doch waren die prägendsten, fulminantesten Erlebnisse, Fehler, Liebeleien, Herzschmerzerlebnisse, Parties alle in dieser Zeit, in dieser Stadt. Ich war so oft verliebt, verknallt. So oft wurde ich enttäuscht und in den Himmel gehoben, ausgenutzt und weggeworfen. Diese Menschen - ich erinnere mich an jeden einzelnen - waren für mich in genau diesen Momenten alles. Und ich habe mich wie alles für sie gefühlt. Den Zauber, der diese Zeit umweht hat, habe ich nie wieder so gespürt. Vielleicht schmerzt es deswegen so. Alles schmerzt. Jede Erinnerung und doch nehme ich mir, wenn sie aufkommen, immer ein wenig Zeit um in ihnen zu baden. Tränen brennen hinter meinen Augen. Tränen um die junge Frau, die soviel gegeben hat. Tränen um die Frau, die heute sehnsuchtsvoll und traumatisiert zugleich auf ihr jüngeres Ich zurückblickt. Und ja, ich umarme sie in Gedanken fester. In Gedanken lasse ich meinen Tränen freien Lauf und halte sie einfach nur.
Das Leben isst einen dunklen Alptraum und
verdaut ihn zu einer romantischen Insel,
die man angeblich verschieden interpretieren
kann, darf, soll, nein, unbedingt muss!
Denn ungestüm [ ... ]
Wenn Macht regiert durch Angst und Schrecken,
Blutspuren manch Bürgersteig bedecken.
Mord und Totschlag den Tag „versüßen“,
Menschen mit ihrem Leben büßen.
Licht malt helle Leuchtspurbahnen
in den Alterungsprozess,
Dinge, die von weither kamen,
setzen sich in Träumen fest,
die dir längst Vergangenes bringen
und dein Hiersein noch [ ... ]
Du findest die Hose! Aber die
Strümpfe sind weg. Du suchst die
Strümpfe. Und findest das Hemd.
Und findest die Schuhe. Und den
Schal. Nur nicht die Strümpfe.
Dann setzt Du die Brille auf. [ ... ]