Liebes Tagebuch,
ich sitze im Bus. Am Fenster. Meine Aussicht ist die Autobahn. Neben mir sitzt ein Mädchen mit einer Barbie in der Hand. Es ist Sommer und alle riechen streng nach Schweiß. Deswegen sitze ich am Fenster. Heute gab es ein paar Tote. Nicht viele, aber ein paar. Häufigste Diagnose: Herzstillstand. Im Krankenhaus brauchen wir mehr Personal, aber niemand will mehr Krankenschwester werden. Arzt. Das wollen sie werden. Aber Krankenschwester? Da bin ich wohl die einzige…
Noch 6 Stationen.
Der Mann hieß Matthias. 35 Jahre alt und war wegen seinem Blinddarm da. Es gab Probleme. Er strab. Ich mochte Matthias. Jetzt ist er weg. Wie schnell so etwas geht. Menschen sterben ohne sich verabschieden zu können. Er war 35. Vater von einer 6-jährigen. Hat er mir erzählt. Ich mochte ihn. Jetzt ist er tot und seine Tochter hat keinen Vater mehr. Einfach so. Aus dem Nichts.
Noch 5 Stationen, dann bin ich bei meinem Freund. Er hat für mich gekocht. Ein Dinner zu zweit. Er hat noch nie gekocht. In den 10 Jahren Beziehung hat er nie für mich gekocht, aber heute kocht er für mich. Er liebt mich wohl sehr. Ich ihn auch.
Noch 4 Stationen.
Ich glaube, er macht mir einen Heiratsantrag. Sonst würde er nicht kochen. Und er liebt mich und ich ihn. Ich schaue aus dem Fenster. Ein LKW fährt neben dem Bus. Ziemlich schnell für einen LKW. Egal.
Im Bus fängt ein Baby zu schreien an. Die Mutter beugt sich über den Kinderwagen und tröstet es.
Noch 3 Stationen.
Unter den toten war auch ein Baby dabei. Ein Frühchen. Kam zwei Monate zu früh auf die Welt. Er hat gekämpft. Er hieß Jack. War das erste Kind seiner Mutter. Jack hatte noch ein ganzes Leben vor sich. Aber er starb. Er hat gekämpft, aber verloren.
Noch 2 Stationen.
Bald bin ich bei meinem Freund. Ich liebe ihn. Und er mich. Auf der anderen Seite des Busses sitzt ein alter Herr. Mit einer Lesebrille auf der Nase und einer Zeitung in der Hand. So einen hatten wir heute auch. Er hieß Franz. Er war schon öfters bei uns. Wegen Herzproblemen. Er starb an einem Herzinfarkt. Seine Frau war bei ihm als er starb. Sie hielt seine Hand und half ihm. Sie war traurig. Sehr, sehr traurig. Sie liebte ihren Franz. Doch Franz ist jetzt tot. Und seine Frau ist traurig. Sehr, sehr traurig.
Nur noch eine Station, dann bin ich bei ihm. Ich liebe ihn sehr. Und er liebt mich. Ich war heute auch traurig. Menschen sterben einfach so. Sie können nicht mal ihre Sätze ausreden, weil sie gerade sterben. Das macht mich sehr traurig…
Ich hoffe, dass er mir einen Antrag macht. Ich will heiraten bevor ich sterbe, denn ich liebe ihn. Sehr. Ich schaue wieder aus dem Fenster. Bald bin ich da.
Der LKW fährt komisch. Zu schnell. Viel, viel zu schnell. Und er wackelt. Egal.
Bald bin ich bei ihm. Ich liebe ihn und er


© Elmas


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