Feierabend

Die milden Strahlen der Oktobersonne fielen durch das Schaufenster der Buchhandlung Litera in Bad Seelburg, auf das Gesicht von Bernd Baer, dem Inhaber, ein untersetzter Mann jenseits der 50 mit einer Art Kassenbrille auf dem rundlichen gutmütig wirkenden Gesicht. Er schaute auf den PC-Monitor mit dem Tagesumsatz, dann auf seine Uhr: Bis 18.20 Uhr hatte die Buchhandlung ganze 45,85 € eingenommen. Dafür hatte er seine Zeit von 10 Uhr bis jetzt hier zugebracht, Regale abgestaubt zum x-ten Mal, Leseexemplare von Neuerscheinungen durchgeblättert, Brötchen gegessen und aus dem Schaufenster hinausgeglotzt. Er überschlug die bisherigen Einnahmen seit Jahresanfang, das ergab, dass er kaum mehr als die Betriebs- kosten für seinen Laden erwirtschaftet hatte. Ein Zustand, den er sich nur durch das Einkommen seiner Frau als pensionierte Gesamtschulrektorin erlauben konnte, er also eine luxuriöse, weil im Grunde unwirtschaftliche Tätigkeit ausübe. Öfter war er schon kurz vor dem Hinschmeißen gewesen. Aber was wäre denn die Alternative ? Er war jetzt 59 Jahre alt und für andere zumindest qualifizierte Arbeitsstellen schlicht nicht verwendbar geschweige denn motiviert. Er hatte schließlich den Buchhändlerberuf erlernt und wollte als solcher sein Berufsleben beschließen. Seine Hoffnungen auf Erlöse in etwa der Größenordnung der 80er, 90er Jahre hatten sich bald als trügerisch er- wiesen. Seit Jahren hatte sich auch hier, so wie ja eigentlich überall, die unselige Angewohnheit breit gemacht, prinzipiell bei amazon zu bestellen, was im Grunde ja unsinnig ist, weil eigentlich jedes Buch von ihm übernacht vom Großhändler besorgt werde konnte, auch die ebooks und die selfpublishing Autoren. War es den Seelburgern denn wirklich egal, wenn er aufgab und in die Ladenräume dann die nächste Spielhölle oder die dritte Dönerbude einzog? Die Fußgängerzone hatte schon in den letzten Jahren immer größere Lücken bekommen, Fensterfronten glotzten wie leere Augen auf die Vorbeigehenden. Letzten Sommer hatte Bernd ein selbstgemaltes Schild vor seinen Laden gestellt: “Gute Bücher kauft man nicht am Amazonas, sondern am Seelbach.” Aber nach drei Wochen musste er es auf Anordnung des Ordnungsamtes entfernen, weil es das zu schmale Trottoir für die Fußgänger verstelle.

Ein Eierkopf mit Hornbrille und Kinnbart ausgestattet streckte sich an der Eingangstür vorbei in den Laden, äugend, ob der Inhaber zugegen war und zog vorsichtig seine lange schmale Figur nach. Es war niemand Geringeres als Oberstudienrat Horst Bamberger, der gekommen war, um nach seinen gestern telefonisch bestellten Büchern zu fragen. “Nun, werter Herr Ursus, mercator libris, gehe ich richtig in der Annahme, dass die bestellten Bücher da sind?” Oh Gott, dachte Bernd, wenn er doch nur dieses Akademikerimponier-Quacksprech mal lassen könnte! “Freilich, Herr Bamberger” - er griff in das hinter ihm stehende Regal und holte die neue Helmut-Schmidt-Biographie hervor sowie einen Prachtbildband mit italieni- scher Renaissancemalerei, als Geburtstagspräsent für die Ehegattin Laura ausersehen. Bernd mochte ihn nicht besonders, obwohl er zu seinen besten Kunden zählte, er wusste selbst nicht so genau warum, vielleicht einfach, weil dieser Lehrer war, seine eigene Frau Luisa sah er als Ausnahme von dieser Zunft an.
“Was bin ich Ihnen schuldig?” Die Formel, die er beim Einkauf immer gebrauchte. (Mehr Respekt, weniger gönnerhafte Herablassung, erwiderte Bernd im Stillen.) “Nun … die Biographie 35 und der Bildband 58,50, das sind
93,50, bitte.” Bamberger legte einen Hunderter auf den Tresen, energisch, wie eine Trumpfkarte beim Skat. “Bitteschön, das stimmt so”, scherzte er. Bernd ging nicht darauf ein, übersah des Grinsen des anderen und gab das Wechselgeld heraus, fast unmerklich stöhnend. “So Herr Bamberger, Sie sind wohl mein letzter Kunde heute, in 15 Minuten mache ich zu. Wenn ich fragen darf: Seit wann haben Sie eigentlich schon Feierabend?” Er fragte dies, obwohl er an einer ehrlichen Auskunft zweifelte. Der Pädagoge erwiderte: “Natürlich dürfen Sie fragen. Ich finde das sogar gut. Also, ich werde den ganzen Abend mit der Korrektur von Latein-Klassenarbeiten beschäftigt sein, mindestens bis zehn Uhr. Wissen Sie, das verstehen ja viele nicht, dass der Arbeitstag von uns Lehrern, zumal eines Gymnasiallehrers, für mich wohlgemerkt, nicht für den Sport- oder Musikkollegen, mit so anspruchsvollen Fächern wie Latein und Geschichte am hiesigen – renommierten! - Humboldt-Gymnasium nicht einfach mit der letzten Unterrichtsstunde mittags endet. Oh nein, ich, also meine Wenigkeit, bin bis abends im Dienst.” Er räusperte sich. “Wenigstens temporär.”

Bernd stimmte vorsichtig zu, aber wandte ein, dass Bamberger ja nicht jeden Abend eine Arbeit korrigieren müsse und insofern doch ein großes Maß an Zeitsouveränität habe, verglichen mit durchschnittlichen Angestellten, deren Arbeitstag nie früher als 5 oder 6 Uhr oder auch 7 Uhr ende, je nachdem wie lange die Wegezeit hin und zurück vom Arbeitsplatz dauere. Zumal diese Normalarbeitnehmer ja nicht über so viel Ferienzeit verfügen. Bernd bemerkte die senkrechte Falte auf des Pädagogen Stirn und biss sich auf die Zunge, immerhin war der Pauker ja ein Kunde, den er nicht verlieren durfte. Unbeirrt fuhr der Herr Oberstudienrat fort mit seinen Klagen: “Und dann noch diese dauernden Konferenzen am Nachmittag, wenn man schon vom Unterricht total fertig ist, sinnloses Gelaber von Kollegen mit Profilneurose, die ziehen sich in die Länge! Ach ja, und dann die permanenten Fortbildungen durch Seminare irgendwo in Buxtehude, natürlich über das Wochenende, früher wurden wir dafür feigestellt in der Woche, da ist schon mal das Wochenende im A …, im Eimer.” Bernd schaute ihn fasziniert an. (Sieh an, der Oberlehrer kann ja auch Umgangssprache.) Also am Montag sind Sie dann wieder in der Tretmühle und stehen vor der Klasse, und das vor diesen Rotzbengeln, die nur ihre Zeit absitzen. Also wissen Sie, wenn ich vergleiche von vor 30 Jahren, wo ich noch Sallust und Plinius durchgenommen habe und heute reichts nur noch zum Gallischen Krieg. Mit Ach und Krach! In der Oberstufe! Und die Krönung von allem ist der Bürgermeistersohn, dieser Paul, Paul heißt faul, hehe. Und begriffsstutzig. Der ist bei mir in der Zehnten. Da wird erwartet, dass ausgerechnet ich bei der Notengebung nicht nur ein Auge zudrücke sondern beide, bei der Jahresnote, damit er nicht nochmal wiederholen muss. Sein Vater ist mit mir ja im selben Tennisclub, Sie verstehen ...” (Na dann geh doch in den Kegelclub oder spiel Federball auf deiner Gartenwiese!) Bernd schaute verstohlen auf die Armbanduhr. (Wann ist der Kerl denn jetzt fertig mit seinem Jammern?) Bamberger, jetzt richtig in Fahrt, fuhr fort mit seiner Suada: “Und als ob das nicht schon genug wäre, ich muss als Klassenlehrer mit diesen nervenden frechen verwöhnten pickeligen Pubertierenden einmal im Jahr eine Klassenfahrt unternehmen. Da bin ich in der Woche praktisch rund um die Uhr in der Verantwortung, sozusagen ein 24-Stunden-Arbeitstag. Und dann müssen Sie noch froh sein, dass eins von diesen Gören nicht schwanger zurückkommt – oder einer von den Burschen mit einer Alkoholvergiftung. Mit 16 dürfen die ja heut schon saufen!” Auf jede dieser Auslassungen hätte Bernd, er wusste es ja schließlich von seiner Gattin besser, der ehemaligen Lehrerin, die den Schulbetrieb kannte wie keine andere, erwidern können, relativieren, sogar widerlegen, wenn, ja wenn nicht das Angewiesensein auf den literaturbeflissenen Beamten als gut zahlenden Kunden seiner Meinungsfreiheit Grenzen setzte.

Nach dem Bezahlen der beiden Bücher, die der Lehrer in seinen mitgebrach- ten Beutel steckte, drehte dieser seinen Kopf noch seitwärts und nach hinten. “Hmm, sagen Sie … Ich wollte noch eine Kleinigkeit für mich persönlich, mehr sowas Belletristisches … geben Sie mir noch 5 Minuten, gell.” “Selbstverständlich Herr Bamberger, Sie können auch noch eine Viertelstunde gucken, Sie wissen, der Kunde ist König. Und Sie sind ja fast schon Kaiser!” Bernd hasste sich sofort für diese Schleimerei. Bamberger überflog flüchtig die Stapel der amerikanischen Thriller, natürlich alle Bestseller, auch einige kleinere Stapel deutscher Romane, oft Regionalkrimis, natürlich aus Rhön, Spessart, Vogelsberg und und und, die sehr großen Anklang beim Publikum fanden ungeachtet ihrer literarischen Qualität. Von dieser Genreliteratur hielt er ohehin wenig und wandte sich dann der rückwärtigen Regalwand mit einer Handvoll großformatiger und bibliophiler Bände zu. Bernd sah dies mit Genugtuung und ging nach hinten. Bamberger hatte gerade einen Band mit erotischen Fotos in der Hand und stierte sich durch die Seiten. Beim Nahen des Buchhändlers stellte er das Buch schnell wieder ins Regal. “Veritable Preziosen, Chapeau, Monsieur Baer!” (Oha, Französisch kann er auch!) “Ich sehe, Sie sind ein Connaisseur”, kam Bernds Replik, der mittlerweile direkt neben ihm stand, um sachte einen kleinen Band herauszuziehen.”Das kann ich Ihnen wärmstens empfehlen. Schauen Sie mal: Ein schönes Reprint einer Jugendstilausgabe der Briefe der Liselotte von der Pfalz, von, warten Sie mal, 1910, vom Zabelt und Sander Verlag, mit Halbleder und Goldprägung.” Nach kurzem Durchblättern dankte der Historiker dem Buchhändler für den Rat, nicht ohne noch kurz gelogen zu haben, dass er das Buch schon als Student besessen, dann aber verloren habe, und legte das Büchlein auf den Ladentisch.

Nach dem Bezahlen schloss Bernd die Kasse ab, schaltete die Beleuchtung aus, ließ die Jalousien herunter und komplimentierte den Kunden mit aller gebotenen Höflichkeit aus der Tür, um seinen Feierabend anzutreten. Bamberger verabschiedete sich mit einer angedeuteten Verneigung, stieg in seinen VW Touran und fuhr davon. Seine Kinder waren erwachsen und schon längst aus dem Haus, was sollte also diese spritfressende Benzinkutsche? Da nutzt dann der Jutebeutel auch nichts. Und außerdem: zum Haus Bambergers im Neubaugebiet waren es knapp zehn Gehminuten, also was soll's? Bernds Gefühle waren zwiespältig: Einerseits hätte er Lust gehabt, mit diesem eingebildeten Kerl über seine Privilegien und deren zweifelhafte Berechtigung zu streiten, andererseits war es ja dessen üppige Dotierung, die ihn zu einem eifrigen Käufer machte von gebundenen Ausgaben, Bildbänden, Hörbüchern und damit den Laden sozusagen über Wasser hielten. Und Geschmack hatte er zweifellos, und solche Leute gibts immer seltener. Er ging ein paar Schritte, da fiel ihm ein, dass der Staatsdiener vor nicht langer Zeit sogar davon gesprochen hatte, dass er auf burn-out-Diagnose spekuliere (das waren natürlich nicht seine Worte) und die daraus folgende Frühpen- sionierung, wegen Dienstunfähigkeit, ohne Abzüge. So fertig sah der noch gar nicht aus, wahrscheinlich in Bernds Alter, Ende 50. Bernd ging ein paar Schritte weiter, da kam ihm noch etwas hoch, wie geistiger Schluckauf: Für seine Schüler schien er nicht zu brennen, so wie er über die sprach. Will er am Ende länger vom Staat für sein Nichtstun als Pensionär als für sein Tun als Lehrer bezahlt, sprich alimentiert werden? Letztlich vom Steuerzahler, also auch ihm? Seine Frau Luisa als ehemalige Lehrerin sagte oft, viele haben nie gebrannt, bevor sie einen auf burnout machten. Da kam Bernd eine spontane Idee: Er rief Luisa an. “Isaschatzi, ich bin's. Hör mal, ich habe heute einen so fantastischen Umsatz gemacht, da können wir heute ruhig mal ausgehen. Komm doch am besten gleich in die Weinstube, wir können ja dort zu Abend essen, so ne Kleinigkeit halt. Vielleicht können wir auch draußen sitzen, es ist ja heute total sonnig geworden.” Luisa sagte mit Freude zu, die Ironie in seinen Worten nicht überhörend. Außerdem hatten sie nichts mehr Gescheites zum Abendessen im Kühlschrank. Bernds Groll war geschmolzen, seine Stimmung begann sich aufzuhellen mit den milden Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht.

Doch dann wurde es schlagartig düster, als er am nächsten Haus vorbeikam. Aus dem Briefkasten von Thierfelders ragte ein schmales Paket, unverkennbar eine Buchsendung. Sein kurzer Blick darauf ergab, es war amazon, bei dem diese Nachbarin, oder ihr Mann oder ihr Sohn bestellt hatten. Unglaublich! Hundert Meter entfernt von einem Buchladen zu wohnen und dann bei der Konkurrenz zu kaufen, war geradezu ein feindseliger Akt. Seit einem Jahr hatte er diese Zicke nicht mehr in seinem Laden gesehen. Besagte Frau, gerade von der Arbeit in einer Rechtsanwaltssozietät im Nachbarort gekommen, hatte eben das Garagentor heruntergelassen, hinter dem sie ihren schicken nagelneuen metallicblauen Minimorris geparkt hatte. Bernd wechselte auf die andere Straßenseite und warf ihr einen Blick zu, in dem die ganze Wut des bedrohten Mittelstandes aufblitzte, wandte dann den Kopf sofort wieder. Gleich darauf errötete er über seine geradezu kindische Dummheit. Auch fühlte er Neid auf ihr schickes Auto an ihm nagen; er und Laura zusammen hatten nur einen 20 Jahre alten Fiat Punto. Noch blöder wäre es nur gewesen, wenn er sie angeschrieen hätte, etwa so: Was ihr dummer Kuh/Tussi/Zicke denn einfiele, einen Nachbarn und soliden Geschäftsmann, ehrbaren Kaufmann und erstrangigen Kulturträger zu schädigen, nur um diesen Multimilliardär Jefff Bezos von diesem amerikanischen Dreckskonzern, dieser Riesenkrake amazon noch reicher zu machen. Wie bescheuert denn das sei, sie sei ein hirnloses Herdentier, ihrer akademischen Bildung zum Trotz. Doch Bernd war beherrscht genug, sich das, zumindest in nüchternem Zustand, zu verkneifen. Seit einem Jahr hatte sie nichts mehr gekauft bei ihm. Bernd wusste es noch, es war ein preisreduziertes Kochbuch, Mängelexemplar, von Gräfe und Unzer für 4,50 €.

Kurz vor der Tür der Weinstube wäre er fast in Mirko Vujovic, den Busfahrer hineingerannt. Der kam mit einem 6er Pack Bier und zwei Tüten Chips vom Kiosk. “Hallo Mirko. Ist das deine normale Ration für den Feierabend?”, scherzte Bernd, “und gibt's noch einen Slivovitz hintendrauf?” Mirko nahm es nicht krumm. “Nein Bernd, immer Kruskovac, weißt doch. Nachher kommt Fußballspiel, in halbe Stunde, kannst du kucken auf sky. Ich kucke mit mein Kumpel Dragan, brauche bissje Esse und Trinke”. Bernd entschuldigte sich für seine Ahnungslosigkeit in Sachen Fußball und fragte, wer da gegen wen antrete. “FK Roter Stern Belgrad gegen Borussia Dortmund.” (Aha, Relikt aus Titos Jugosozialismus. Bernd mochte diese Ostblocknamen, zum Beispiel Lokomotive Leipzig, Dynamo Dresden.) “Ist kein EM-Spiel, sondern Freundschaftsspiel, aber trotzdem ...” Seine geröteten Augen glänzten. Bernd war absolut fußballignorant, aber er wünschte den Sieg der Serben, als Balsam für Mirkos Patriotismus. “Sag Mirco, seit wann hast du heute Feierabend?” Mirko sagte: “So seit 6 Uhr, wie immer. Wieso?” “Und wann fängst du mit deiner Arbeit an?” Er hatte dies früher schon einmal gefragt, aber diesmal wollte er es nochmal hören eingedenk des “unermüdlichen” Einsatzes des Oberpädagogen, nur so zum Vergleich. “Jeden Tag um 5 Uhr ich aufstehn, bin ich viertel vor 6 an Busdepot von Kreisverkehrsgesellschaft. Um 6 fängt an 12-Stundenschicht, aber ein Stunde Mittagspause, is normal.” Auf Bernds verwunderte Miene ergänzte er, sie bekämen natürlich Freizeitausgleich, um die tarifliche Wochenarbeitszeit einzuhalten. Jedenfalls sei er jetzt mit zunehmendem Alter – Mirko war erst 54, sah aber mehr als zehn Jahre älter aus, - also älter als ich, dachte Bernd - abends immer todmüde, sodass ihm spätestens um halb zehn vor dem Fernseher die Augen zufielen. Auf Bernds Nachfrage nach Frau und Kind hörte er, die Frau habe fünf Putzstellen, heute abend sei sie jedenfalls weg bis 8 Uhr, ihr Geld bräuchten sie zusätzlich, um über die Runden zu kommen. Zur Familie gehöre ja noch Snesana, die ältere Schwester Saschas, die jetzt erst mal ihr Abi bestehen müsse. Und der Sohn hoffe jetzt übrigens morgen auf eine gute Note bei der neulich geschriebenen Lateinarbeit. Bernd nickte. Der 12-jährige Sascha hatte beim Bamberger Latein und bekam von Bernd regelmäßig Nachhilfe in verschiedenen Fächern, kostenlos einmal die Woche, und vor allem ohne Wissen des Paukers, der ruhig denken solle, dass das Migrantenkind aus eigener Kraft wenigstens befriedigende Noten erziele.

Mirko verabschiedete sich herzlich und eilte nachhause, wobei Bernd, der schon etwas ungeduldig geworden war, erleichtert endlich dem vereinbarten Treffpunkt zustrebte, um dort seine Isa vorzufinden. Und tatsächlich saß sie schon da, des schönen wenngleich kühlen Wetters wegen draußen an einem rotweiß gedeckten Tischchen und hatte schon ein Glas Rotwein vor sich stehen. Sie sah prächtig aus, seine Isa, war heute wieder beim Frisur gewesen. Bernd ging auf sie zu und gab ihr ein leichtes Wangenküsschen. “Hallo, Isaschatzi, Deine Haare sehen wieder bezaubernd aus. Gell, Du hast eine fränkische Domina bestellt, ganz so, wie es unserer Beziehung entspricht.” Worauf Isa lachend erwiderte: “Iwo, das ist ein badischer Spätburgunder, den trink ich hier doch immer. Nimm du doch einen Grauburgunder, der passt perfekt zu dir, wenn ich auf deine Haare schau.” Das tat Bernd denn auch und bestellte gleichzeitig eine große Käseplatte, die ihr Abendessen sein sollte. “Na, was war heute los in deinem Laden?” “Eigentlich nichts, aber dann zum Schluss kam noch mein bester Kunde, der ...” “... Oberstupidienrat, ich weiß. Aber jetzt lass mal, ich hab heute ein sehr interessantes Gespräch gehabt beim Friseur. Die Frau Reuter, die kennst du doch, die hat mir von ihrem Urlaub erzählt und gemeint - - - Oh, da kommt ja unser Essen.”
Nach den ersten hungrigen Bissen schaute Bernd auf und blinzelte in den heute besonders schönen Sonnenuntergang hinein, den Mircos Frau heute nicht sehen würde, und war zuversichtlich, jetzt endlich von seinen melancholischen Gedanken abgelenkt zu werden beim Plaudern mit seiner Frau. Jetzt war richtig Feierabend!


© Björn Scherer-Mohr


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Beschreibung des Autors zu "Feierabend"

Frustration eines Buchhändlers
Arroganz eines beamteten Gymnasiallehrers

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