Faul zu sein hat einen ganz miesen Ruf. Heutzutage sollen wir ständig etwas schaffen, Neues lernen und aktiv sein. Neulich kam ich an einem Wellnessstudio vorbei, vor dem ein Plakat stand: "Einfach mal eine halbe Stunde faul sein - gönnen Sie es sich!" Wieso denn bloss eine halbe Stunde? Warum nicht vier Stunden, zwei Wochen oder einen ganzen Monat? Warum, frage ich mich, ist Faulsein gesellschaftlich gleichbedeutend mit Schokoladeessen oder Heimlich-eine-Zigarette-Rauchen? Warum soll man es sich "gönnen" und das auch nur gelegentlich?
Zunehmend stelle ich bei mir eine gewisse Altersradikalität fest, mit der ich mich recht rebellisch gegen den uns permanent verordneten Selbstoptimierungswahn in Job und Freizeit wehre. "Was ist Ihr Ziel? Wie wollen Sie sich weiterentwickeln? Worin wollen Sie sich verbessern?" Vielleicht mal gar nicht?! Vielleicht einfach mal innehalten und zufrieden mit dem sein, was man bisher erreicht hat?
Immun bin ich auch gegen die zahlreichen "Achtsamkeitsratgeber", die mittlerweile die Regale unserer Buchhandlungen stapelweise füllen und uns den Weg weisen wollen, wie es uns gelingt, unser Seelenleben zu "detoxen", unser Leben allgemein zu "entschleunigen", Blockaden zu lösen und alles wieder in Balance und Harmonie zu bringen. Ich brauche das wirklich nicht. Ich möchte einfach nichts mehr "müssen". Mich nicht erklären oder gar dafür schämen, dass ich in meiner Freizeit nicht sofort in hektische Betriebsamkeit verfalle. Ich habe mir mein Nichtstun schliesslich hart erarbeitet: Mit quietschenden Reifen schlittere ich auf die 60 zu, habe nahezu allein ein Kind grossgezogen, gearbeitet, seit ich 21 bin, nebenbei den Haushalt geschmissen, unser Sozialleben organisiert, mich um alles und jeden gekümmert, der Hilfe braucht. Bis heute.
Den Rest der Zeit möchte ich faul sein. Ich möchte mich nicht dafür rechtfertigen müssen, dass ich die klitzekleinen Lücken in meinem Kalender nicht damit füllen mag, Japanisch zu lernen, Power Yoga zu machen, makrobiotische Kochkurse zu belegen oder für einen Halbmarathon zu trainieren.
Klar bedarf es schon einer gewissen Standhaftigkeit, am Montagmorgen den Kollegen nicht wirklich etwas Spektakuläres berichten zu können. Weder habe ich am Wochenende einem indianischen Schamanen in einer Schwitzhütte Gesellschaft geleistet, um zu der Eingebung zu kommen, dass mein Krafttier eine Kreuzotter ist noch habe ich am Wald baden oder am Kräuterlehrpfad teilgenommen. Ich habe mich nicht von meinem Partner getrennt, nachdem er beim Bungee-Jumping in die Hose machte, Müslischalen in der Toskana getöpfert oder ayuvedische Salben hergestellt. Auch das Stand-up Paddeln, das Paragliding, der Stadt-Triathlon und die Besteigung des Matterhorns fand ohne mich statt.
Stattdessen habe ich es fertig gebracht, den ganzen Sonntag im Schlafanzug herum zu lümmeln, ohne krank zu sein. Glücklicherweise erwartete ich keinen Besuch bzw. kündigte sich auch keiner überraschend an. Der hätte sich bei meinem Anblick sicherlich verwirrt gefragt, ob er sich in der Tür geirrt hat. Ich selbst konnte das ungeschminkte Gesicht mit den Waschbäraugen im Spiegel im ersten Moment auch nicht als das meinige identifizieren ( am Vorabend war ich zu faul gewesen, meine Wimperntusche abzuschminken). Zudem sah ich in dem Flanellpyjama, den rosaroten Plüschsocken und den senkrecht steil nach oben ragenden Haarbüscheln aus wie ein Teletubby. Aber was sind solche unbedeutenden Äusserlichkeiten gegen das unbeschreibliche Gefühl von kolossaler Freiheit, sich mal nicht selbst optimieren, schöner, schlanker,klüger werden zu müssen! Mal etwas völlig sinnloses zu tun, einfach nur dazusitzen und mehr oder weniger blöde zu gucken!
Gut, die Dreiviertelstunde, die ich bei ohrenbetäubender Jodelmusik den Wetterbericht der gesamten Schweiz im Teletext ertrug, weil ich die Fernbedienung nicht holen wollte, die kilometerlang ausserhalb meiner Reichweite auf einem anderen Tisch lag, werde ich verschweigen.
Einer Studie zufolge, schuften nur 2,6% der Ameisen unaufhörlich. 75% aller Koloniemitglieder schieben ganz gemütlich einen Halbtagsjob und ganze 25% tun so gut wie gar nichts und sind stinkfaul. Es ist zwar nicht bekannt, ob es bei den Insekten auch Burn-out gibt, aber wenn ja, liegt es wohl auf der Hand, welche Gruppe daran erkranken würde.
Ich finde, darüber sollten wir alle einmal nachdenken. Ganz entspannt und in aller Ruhe. Vielleicht im Liegen. Und wenn wir dabei einschlafen, dann sollten wir uns das auch "gönnen."


© Madeleine Tara


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