Ich hätte es ahnen müssen, denn es ist überhaupt nicht meine Art, mich auf Parkbänke zu setzen, wenn schon jemand darauf sitzt.
Die schwarzhaarige Schönheit rutschte nicht bereitwillig zur Seite. Nein, sie rückte sogar, sobald ich saß, näher, ergriff meinen Arm und wies damit auf eine Katze, die unter der nächsten nicht besetzten Bank ihr tödliches Spiel trieb.
Dieses schwarze Biest, spielte mit einer winzigen Maus, die, obwohl schon blutend, immer wieder dem Raubtier zu entkommen suchte. Und blieb sie einen Moment erschöpft und regungslos liegen, schubste die Katze sie mit der Pfote, sodass sie wieder ein paar taumelnde Schritte lief, bis die Katze sie erneut einholte und in ihrem Maul zurück unter die Bank trug, um dort erneut ihr Tod bringendes Spiel zu beginnen.
Die junge Frau griff immer wieder nach meinem Unterarm. Und wenn das schwarze Rautier, den kleinen Nager erneut eingefangen hatte, packte sie so kräftig zu, dass sich ihre Fingernägel in das Fleisch meines Unterarms eingruben.
Sie kam mir bekannt vor. Zugleich war ich mir sicher, dass sie eine Fremde bleiben würde.
Ihre Schönheit hatte nichts Außergewöhnliches, aber auch nichts Durchschnittliches.
Die Blässe ihrer fast durchsichtigen Gesichtshaut erschien noch blasser durch die vollen schwarzen Haare, die ihr bis zur Hüfte reichten. Schwarz war auch ihr langer weiter Pullover, der ihre Rundungen weiträumig umhüllte. Eine enge glänzende Lederjeans ließ er erst ab Oberschenkelmitte abwärts frei.
Als die schwarze Katze sich mit der toten Maus im Maul endlich trollte, stand die schwarze Frau auf und stöckelte ohne Abschieb auf den hohen Hacken ihrer Lederstiefel davon.

Wieder getroffen habe ich sie vor Monaten im Kino. Bei einem Film über Untote. Den Filmtitel habe ich vergessen.
Sie saß zufällig neben mir und schwieg. Als wir nach dem Filmende aufstanden, gingen wir wortlos ins Bistro neben dem Kino. Sie sprach wenig und ich bemühte mich die ganze Zeit Konversation zu machen.
Danach trafen wir uns häufiger dort.
Sie trank jedes Mal Bionade. Ich Cappuccino. Essen mochte ich nie etwas, denn in ihrer Nähe verspürte ich keinen Appetit. Sie aß immer ein Sandwich mit Käse, redete wenig und bürstete häufig ihr Haar.
Bei unserem letzten Treffen fragte sie, ob sie mich auch einmal in meiner Wohnung besuchen dürfte. Ich willigte ein, obwohl ich eigentlich nicht wollte, da ich sie von Beginn an für eine geschickte Diebin hielt , eine, die ständig unbemerkt und erfolgreich auf Beutezug geht.
Sie kam nicht, als ich auf sie wartete. Dafür traf ich sie beim nächsten Mal wieder im Bistro.
Stets nahm sie mir nur wenig. Nur meinen Humor, den glaubte ich vor ihr retten zu können. Vor allem meinen schwarzen. Sie lachte nie, auch nicht, wenn ich einen meiner Witze erzählte, mit dem ich bei Anderen immer Lacherfolge hatte.
Selbst wenn sie nicht in meiner Nähe war, spürte ich die Verluste, nach immer kürzerer Zeit.
Allein wenn ich mir vorstellte, in ihrer Nähe zu sein, begann ich zu frieren.
Und dabei verloren sich irgendwie Körperkraft, Beweglichkeit, Gedächtnis und schmerzfreie Zeiten.
Aus reiner Vorsicht habe ich mich nie wirklich in sie verliebt. Und doch fehlte sie mir, wenn ich sie ein paar Tage nicht sah.

Menschen müssen höheren Mächten wohl Menschliches zuschreiben, sonst passen die nicht in ihre begrenzte Vorstellungswelt. Auch nicht in meine. Selbst den Tod, den nie jemand sah und der schweigend und unauffällig seiner Arbeit nachgeht, soll wie ein menschliches Skelett aussehen.
Sie sieht mich selten an, aber wenn, dann saugen sie an mir - ihre tief liegenden blauen Augen in dem blutleeren Gesicht.
Manches Mal lockt mich der Mut, manchmal auch Übermut nahe an Abgründe, deren Anblick in mir das lustbetonte Kribbeln unterhalb der Gürtellinie erzeugt.
Sie, die zwischendurch immer wieder ihr langes schwarzes Haar bürstet und sich mir beim zweiten Mal im Bistro als Lydia vorstellte, sie ist ein Abgrund. Den Namen habe ich ihr nie geglaubt und ihn daher immer wieder vergessen.
Eine Diebin wird sie bleiben, eine, die ihren wahren Namen nicht verrät.
Zudem habe ich sie in Verdacht, immer einmal wieder einen Freund, Verwandten und Nachbarn aus dessen und meinem Leben verschwinden zu lassen. Dabei weiß ich noch nicht einmal, ob die vielen Toten der letzten Zeit Lydia vor ihrem Ableben überhaupt kannten.
Zunächst habe ich ihr, obwohl ich immer fror, gern etwas von mir erzählt. Ja, ich hielt die Gänsehaut für ein Zeichen meiner Erregung. Sie weiß viel aus meinem Leben. Und sie wollte immer mehr wissen. Sie selbst aber wollte mit mir vor allem über den Tod reden, da er nach ihrer Ansicht zum Leben dazugehört. Ohne den Tod, wäre Liebe überhaupt nicht nötig, behauptete sie. Und als ich sie bat, mir das zu begründen, zuckte sie mit den Schultern und meinte, das würde ich schon noch begreifen.
Inzwischen besuchte ich Friedhöfe und Mausoleen, las aufmerksam Todesanzeigen in der Presse und in Schaukästen von Kirchengemeinden, ging zu Veranstaltungen von Bestattern sowie zu Lesungen und Vorträgen. Wahrscheinlich war ich längst süchtig, träumte ich doch bereits von Hochhäusern, von deren Balkonen ich mich stürzen und von Aussichtstürmen, die mir zum Absprung dienen könnten.
Mord verabscheute ich, auch in kleinen Portionen. Mit Lydia, da war ich sicher, käme ich irgendwann nicht umhin, Menschen ins Jenseits zu befördern. Spätestens dann wollte ich mich von ihr trennen.
Bin schon verwundert, auf welche Gedanken mich ihre Blässe und meine Kälte brachten.
Vermutlich alles nur, weil ich in jener Lebensphase angekommen war, die mir nach allgemeinen menschlichen Erfahrungen nur noch begrenzte Lebenszeit lässt. Zudem hatte ich sie in Verdacht, sich mit Vorliebe älteren Männern zu nähern.
Bei einer Werbeveranstaltung eines Bestatters behauptete jener auch, der Tod gehöre zum Leben dazu. Nun für den Bestatter war das verständlich. Immerhin bestritt er damit seinen Lebensunterhalt.
Die Begegnungen mit ihr gehörten inzwischen zu meinem Leben. Machte sie sich rar, sehnte ich mich nach ihr. Und oft war ich schon Stunden vor ihr im Bistro und wartete auf sie.
Vor einer Woche rief sie an, sie wäre gerade in der Nähe, ob sie nicht doch einmal bei mir vorbeikommen dürfte. In gut einer Stunde wollte sie bei mir sein.
Obwohl ich sofort fror, behauptete ich, es würde mich freuen.
Es klingelte. Ich ging langsam zur Tür. Öffnete.
Herbert Schulte, mein Nachbar aus der Wohnung unter mir, sah mich bittend an. Er hatte vor Monaten einen Schlaganfall und konnte längere Zeit nicht reden. Seit er es wieder konnte, besuchte er mich häufig und redete ununterbrochen.
„Darf ich reinkommen? Wie findest du mein neues Flanell-Oberhemd. Original kanadisches Holzfällerhemd.“
Es spannte leicht über seinem Bauch. Herbert sah, dass ich es sah. „Ach, das wächst mit. Nach der nächsten Wäsche…, du wirst schon sehen.
„Ich erwarte Besuch. Aber komm ruhig rein. Allerdings muss ich noch schnell zum Bäcker, um ein paar Tortenstücke zu holen.“
Herbert lachte. Dabei gruben sich seine Lachfalten nur in seine rechte Gesichtshälfte. Die linke war noch immer gelähmt. „Dann mach ich doch schon mal Kaffee,“
„Lass dir ruhig Zeit. Ich fahre zum Konditor in der Innenstadt. Der hat echt gute Torten. Bin in etwa einer halben Stunde zurück. Und mein Besuch heißt Lydia. Du kannst sie ja ein wenig unterhalten, bis ich zurück bin.“
Im Laden des Konditors drängten sich die Kunden. Nach fast einer Stunde stand ich wieder vor meiner Wohnung und schloss die Tür auf. In meinem engen dunklen Flur roch es nach Lydias schwerem Parfüm.
Ob Herbert doch gegangen war? Ich hörte ihn nicht reden. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Lydia ihn mit ihrem Schweigen sprachlos gemacht hatte.
Die Wohnzimmertür war angelehnt. Vorsichtig drückte ich sie auf.
Herbert lag da. Mit aufgerissenen Augen und aufgeknöpftem Hemd. Halb auf dem Sofa und halb auf dem Boden.
Ich rief nach Lydia, rannte zum Bad, ins Schlafzimmer und zurück ins Wohnzimmer.
Sie war gegangen. Herbert atmete nicht und war noch warm.


© Karl Feldkamp


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Beschreibung des Autors zu "Die Diebin"

Lydia ist eine Frau von der sich der Mann bestohlen und geschwächt fühlt.
Trotz Bedenken lädt er sie schließlich zu sich nach Hause ein.

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