Bruno hat jetzt in einem kleinen Kreis zugegeben, dass er, Bruno, seit vielen Jahren an einer Krankheit gelitten habe, die wegen ihrer Heimtücke und ihrer Unsichtbarkeit für andere Menschen kaum Möglichkeiten der Heilung geboten hätte, dass jetzt aber der Zeitpunkt gekommen sei, an welchem er, Bruno, allen Mitmenschen, Freunden, Bekannten und Verwandten freudig mitteilen könne, dass er nun geheilt und gesund sei.

Die Umsitzenden, so wurde berichtet, hätten erstaunt aufgeschaut und einige von ihnen hätten geäußert, dass ihnen bislang nicht bewusst geworden sei, dass er, Bruno, überhaupt jemals krank gewesen wäre, vielmehr habe er immer einen gesunden und robusten Eindruck hinterlassen und um welche Erkrankung, bei allem Respekt, es sich denn gehandelt habe, wenn man fragen dürfe.

Darauf soll Bruno eine Pause eingelegt und schließlich geantwortet haben, selbstverständlich dürfe man nach dieser heimtückischen Erkrankung fragen. Er, Bruno, könne mit seiner Antwort möglicherweise helfen, dass diese Heimsuchung nicht so lange im Verborgenen bliebe wie bei ihm, sondern dass durch seine Mitteilung andere Menschen, die die versteckten Anzeichen nun zu deuten wüssten, viel früher einer Heilung gewiss sein könnten. Und nach einer weiteren Pause habe Bruno schließlich die Erkrankung als »die Stoipa« bezeichnet und wiederum gewartet, bis einer der Umsitzenden die Frage an ihn, Bruno, richtete, was um Himmelswillen diese Stoipa denn sei und was sie anrichte.

Bruno habe sich nun zurückgelehnt, wie es Experten tun, denen man mühevoll ihre Kenntnisse, Erfahrungen und Erforschungen abringen müsse. Dann habe er darum gebeten, dass man ihn während seiner Ausführungen nicht unterbrechen möge, damit er im Zusammenhang alles erklären könne. Schließlich habe Bruno nicht ohne sich noch einmal zu räuspern, erläutert, dass es sich bei der Stoipa um eine Erkrankung handele, die grundsätzlich alle Menschen des Erdballs zu befallen imstande sei und keine Unterschiede zwischen Geschlecht, Herkunft, Religion, Weltanschauung, Hautfarbe, Migrationshintergrund oder sexueller Orientierung mache, dass es für diese oft verborgene Heimsuchung, die nur an kleinen Anzeichen im Verhalten der Befallenen erkannt werden könne, auch keine medikamentöse Behandlung gäbe, zumindest derzeit nicht.

Die Stoipa, so sei Bruno fortgefahren, äußere sich darin, dass der Befallene etwas behaupte, was es in der Realität überhaupt nicht gebe oder was für alle in der Welt eine vollkommen falsche Behauptung sei. Wenn nun der von der Stoipa Heimgesuchte auf die Unwirklichkeit oder Falschheit seiner Behauptung vorsichtig aufmerksam gemacht werde, dann würde der Erkrankte mit der ihm zur Verfügung stehenden Sturheit und Entschlossenheit auf die Richtigkeit seiner Behauptung dringen und so lange daran festhalten, bis alle Menschen seines sozialen Umfeldes ermattet darauf verzichteten, den Heimgesuchten noch eines Besseren zu belehren, worauf der Erkrankte umso überzeugter sei, dass seine Behauptung über alle Zweifel erhaben und damit Bestandteil der Wirklichkeit geworden sei. So ungefähr, habe Bruno seine Ausführungen geschlossen, so ungefähr seien die Anzeichen der Stoipa zu benennen.

Auf diesen Bericht hin hätten die Umsitzenden eine gewisse Zeit etwas ratlos umher geblickt. Schließlich habe jemand aus dem Kreise vorsichtig erwähnt, dass er noch niemals von dieser Krankheit gehört habe, ihm der Name Stoipa auch nicht geläufig sei, er somit zu diesem Zeitpunkt gewisse Zweifel habe, ob es diese Erkrankung überhaupt gebe.

Auf diese Einlassung hin habe Bruno aber sofort empört reagiert und vehement darauf hingewiesen, dass er, Bruno, es sei und niemand sonst in diesem Kreise, der schließlich jahrelang an dieser Erkrankung gelitten habe, jede Phase dieser Heimsuchung an sich selbst habe untersuchen können. Er habe es nicht nötig, seine Aussagen von Unwissenden und Leugnern bezweifeln zu lassen. Alle anderen täten gut daran, sich die Bezeichnung »Stoipa« einzuprägen. Auch wenn die Übertragungswege noch nicht erforscht seien, bestehe doch eine immense Gefahr nicht nur für die Umsitzenden, sondern möglicherweise früher oder später für die gesamte Menschheit. Er, Bruno, wisse genau, wovon er rede.

Da nun alle im Kreise sorgenvoll schwiegen, schließlich der vorgenannte Zweifler auch zugab, dass offensichtlich die Stoipa eine Tatsache sei, wie Bruno ohne Zweifel gerade belegt habe, sei Bruno zufrieden aufgestanden und habe ruhig und gelassen die Runde mit einem freundlichen Abschiedsgruß verlassen.


© Rolf Kirsch


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