FRÜHLING

Du sitzt ahnungslos an deinem Schreibtisch, da fängt urplötzlich diese Winterfliege wie verrückt an die Fensterscheiben zu trommeln. Oder du fährst im Bus, denkst an nichts und entdeckst in der Menge plötzlich eine Frau, die ein grasgrünes Kleid trägt.
Das ist der Moment, wo dein inneres Auge aufmerksam wird und in dir die Erkenntnis dämmert: Es wird Frühling.
Nun fängst du an, nach mehr Anzeichen zu suchen, und einmal aufmerksam geworden, häufen sich diese. - Hier sieht ein Grasbüschel merkwürdig grün aus, dort tanzt ein Schwarm Mücken in der Sonne, und etwas weiter sieht ein Gärtner prüfend in den Himmel. Morgens malt dir die Sonne komische Kringel an die Wand, und die Vögel singen so laut, dass es dich nicht mehr im Bett hält.
Da willst auch du nicht zurückstehen und denkst allen Ernstes darüber nach, deine dicken Winterjacken endgültig in den Schrank zu verbannen.
Auch nimmst du langsam Abschied von der Heizung. Wie einem guten, alten Freund legst du noch einmal die Hand auf sie und sagst so oder ähnlich: "Meine liebe Heizung, ich danke dir, dass du mir über die kalten Zeiten hinweggeholfen hast, aber trotzdem kannst du mich jetzt gern haben und übrigens hast du manchmal ganz gemein geklopft und ich habe mir die Hände an dir verbrannt."
Nach dieser kurzen Rede öffnest du das Fenster, schaust hinaus und stellst fest, dass es draußen doch noch recht kühl ist.
Auch fängst du jetzt an, Spaziergänge zu machen und entdeckst bei dieser Gelegenheit die ersten Frühlingsblumen. Wenn du ein gefühlvoller Mensch bist, musst du nun in Entzückensschreie ausbrechen, alle dir begegnenden Menschen belästigen und ihnen das Wunder zeigen. Und wenn du ein Tagebuch führst, dann kannst du dort einen entsprechenden Vermerk machen.
Desgleichen musst du den ersten Schmetterling notieren und dabei nicht vergessen zu beachten, ob es ein bunter oder ein einfarbiger Falter ist. War er bunt, so verspricht der Sommer aufregend zu werden, war er aber einfarbig, so wird er furchtbar langweilig.
Natürlich ist das Unsinn, denn es gibt Menschen, die die Mona Lisa höchst langweilig finden, und andere, die die Verhältnisse der Nachbarn sehr interessieren. Diesen wird der Sommer bestimmt nicht langweilig werden, denn ein Nachbar lässt sich immer irgendwo auftreiben. Da kann man natürlich den Schmetterlingen keine Schuld geben, aber da unsere Urgroßmütter schon danach geguckt haben, kann man es ja auch tun.
Nun sprießt alles; der warme Regen hat die Knospen mit einem Knall aufspringen lassen, und der Goldregenbusch öffnet seine hundert Augen vom Winterschlaf. Auch im Keller sprießt es. Wenn man in die Kartoffelkiste fasst, kann man es deutlich spüren.
Ordentliche Menschen werden jetzt aufmerksam und entfalten eine wilde Tätigkeit. Sie klettern auf sämtliche Fensterbänke, stellen die Wasserkübel massenweise im Zimmer herum und sind eifrig bestrebt, die Gemütlichkeit aus dem Haus zu vertreiben. Unverständlich ist dabei ihre gute Laune. Manche hört man sogar "Alle Vögel sind schon da", singen.
In solchen bewegten Zeiten ist es für dich am besten, einen langen Spaziergang zu machen. Du kannst allerhand Neues sehen; du kannst zum Beispiel die Kleingärtner, Bauern und sonstigen fleißigen Menschen beobachten, die mit Begeisterung im Bauch unserer Mutter Erde wühlen. Die einen tun es aus Vergnügen, die anderen aus beruflichen Gründen. Wenn sie etwas streuen, dann nennt man das: säen, kriechen sie aber auf dem Boden herum, dann pflanzen sie Zwiebeln oder meinetwegen auch Kartoffeln. Dies nur zum besseren Verständnis, denn es ist davon abzuraten, sie zu fragen, man könnte dich sonst als Städter erkennen und das ist gleichbedeutend mit Dummkopf.
Überhaupt das Fragen. Willst du die Psyche eines Bauern ergründen, dann frag ihn, wie seine Kartoffeln stehen. Im Sommer versichert er dir, noch nie so gute Kartoffeln gehabt zu haben, aber nach der Ernte jammert er, dass ihm alles missglückt sei. So war das schon bei den alten Germanen, und so ist es bis heute geblieben, woraus du das beharrliche Wesen unserer Bauern erkennen kannst.
Du marschierst weiter und möchtest am liebsten bis an das Ende der Welt wandern, denn die Frühjahrssehnsucht hat dich ergriffen. Du kannst dich auch in das Gras setzen und den Wolken nachträumen, die gleich großen Federbetten am Himmel in unmessbare Weiten dahinziehen. Du träumst von der Ferne und wünschst dich in ein Land, wo es nur schön ist und alles Schöne nur für dich da ist.
Jedoch sind solche Träume vergänglich, und ein über den Weg hüpfender Frosch gemahnt dich wieder an die Wirklichkeit.
Wenn du in der Stadt wohnst, kannst du beobachten, wie in den Anlagen die Bänke aufgestellt werden, und wie der eine oder andere Mutige sich für ein paar Minuten darauf wagt, bis ihn der nächste Frühjahrsregen wieder vertreibt. Man nimmt ihn aber nicht ernst, diesen Regen, hört man doch aus jedem Radio das stereotype "Auf Regen folgt Sonne ..."
Bald brennt die Sonne auch dir wieder auf die Stirn und unwillkürlich fällt dir ein Spruch aus deiner Kindheit ein:
"Die Sonne schien ihm auf das Hirn, da nahm er seinen Sonnenschirm ..." Das bezog sich auf südlichere Gefilde, aber da du ein gewöhnlicher Mitteleuropäer bist, nimmst du nun deine Sonnenbrille und siehst auf einmal die Welt viel bunter als sie ohnehin ist.
Eines Morgens wachst du auf und im Garten blühen sämtliche Obstbäume. Nun weißt du, dass der Frühling endgültig seinen Einzug gehalten hat und dass es jetzt Zeit ist, alle guten Vorsätze, die man im Winter gefasst hatte, in die Tat umzusetzen. Man kann zum Beispiel seine Schulden bezahlen oder sich mit seinem Nachbarn vertragen. Diese Versöhnung sollte aber eine Gründliche sein und nicht etwa so, dass man dem Guten die Hand gibt und sagt: "Wir wollen uns wieder vertragen; Sie sind zwar ein Stinkstiefel, aber da ich den Frieden liebe biete ich Ihnen die Hand, woraus Sie ersehen können, was für einen guten Nachbarn Sie an mir haben."
Solch eine Rede führt in den meisten Fällen zu Komplikationen und der alte, paradiesische Zustand ist neu wiederhergestellt.
Nein, die Wandlung soll innerlich sein, dein altes Ich soll überwunden werden, so wie es dir ja sämtliche Bäume und Büsche vormachen. Wenn du allerdings genauer hinschaust, siehst du hier und da auch einen Ableger, und das ist gut so, denn das Allzugute ist wie das Allzuschöne meist langweilig und darum darfst du auch nicht auf die Liebespaare schimpfen, die alle Bänke im Park besetzt halten. Gönn ihnen die kleine Freude, es ist ja Frühling.


Frank Olaf Paucker


© Frank Olaf Paucker


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Beschreibung des Autors zu "FRÜHLING"

Fiel mir so am Frühlingsanfang ein

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Kommentare zu "FRÜHLING"

Re: FRÜHLING

Autor: Philipp Hegmann   Datum: 12.04.2011 16:41 Uhr

Kommentar: Ein sehr guter Text!
Ich finde auch, das wir die Schönheit der Natur mehr schätzen sollten.
Gefällt mir wirklich :)

Re: FRÜHLING

Autor: FrankOlafPaucker   Datum: 13.04.2011 9:02 Uhr

Kommentar: Danke schön. Wenn die Tage länger werden, werde ich immer ein bisschen sentimental. Dann schreibe ich schon mal gerne auf, was mir beim Laufen so durch den Kopf geht. :-)

Re: FRÜHLING

Autor: Philipp Hegmann   Datum: 16.04.2011 16:52 Uhr

Kommentar: Das geht mir genauso ;o)

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