Früher war es schön. Wir hatten noch einen blauen Himmel mit weißen Wolken, die am weiten Firmament dahinzogen wie leise vorbeifahrende Segelschiffe. Manchmal waren die Wolken aber auch grau und schwarz aus denen es dann regnete. Wisst ihr eigentlich, was dieses Wort überhaupt bedeutet – Regen?

Jaaa..., wir genossen es, wenn er plötzlich als frischer Platzregen herunter kam und wir das kühlende Nass auf unserer trockenen Haut verspürten. Und nicht nur das! Wir konnten das saubere Wasser der Wolken sogar noch trinken. Es schmeckte einfach köstlich. Die ganze Landschaft veränderte sich nach solch einem grandiosen Naturereignis wie auf wundersame Weise. Sie verwandelte sich überall in ein gewaltiges grünes Pflanzenmeer. Doch, doch, es stimmt wirklich! Wir konnten es tatsächlich noch selbst erleben, wie sich das ganze Land veränderte. Es kam uns oft so vor, als würde die Erde mit ihrem gewaltigen Odem neues Leben in uns alle einhauchen. Und dann dieser feuchte Dunst am Morgen, der über dem gesamten Tal lag und die Sicht zum fernen Horizont versperrte. Ach ja, Nebel nannte man das…, jetzt fällt es mir wieder ein.

Später kam die Sonne. Ja, ihr habt richtig gehört! Ich sagte SONNE! Sie durchbrach mit ihren wärmenden Strahlen die sich langsam nach und nach auflösende Wolkendecke und bald darauf leuchtete das ganze Land unter ihrem hellen Licht wie ein bunt blühender Garten Eden.

Wir haben auch noch echtes Gras kennen gelernt. Wenn der Wind blies, wogte es hin und her und die Wasserperlen darauf schimmerten in allen Farben des Regenbogens. Ach, war das schön! Einfach herrlich dieses glitzernde Spiel mit den Farben.

Niemand von euch hat jemals den Duft von frischem Gras oder feuchter Erde gerochen. Oh Kinder, es tut mir ja so Leid für euch.

Oft lag’ ich mit meinen Freunden mitten in diesem Pflanzenmeer aus Grün, und gemeinsam lauschten wir dem Rauschen eines nah gelegenen Waldes. Es war irgendwie seltsam, wisst ihr. Da lag man dann einfach so herum, alle Viere von sich gestreckt und fühlte sich vollkommen schwerelos dabei. Das Ächzen der Bäume klingt mir heute noch in den Ohren, wie auch das Zwitschern der Vögel, die es damals in unendlicher Zahl gab. Lebend habt ihr keines dieser seltsamen Geschöpfe je zu Gesicht bekommen. Mich betrübt das sehr! Heute kann man sie nur noch ausgestopft in den Museen oder als Computeranimation betrachten. Mit wildem Flügelschlag stießen sie hoch bis zu den weißen Wolken und segelten tatsächlich wie kleine Miniaturflugzeuge in der Luft herum. Manche dieser scheuen Tiere fraßen uns aus der Hand, wenn man nur genug Ausdauer zeigte und ihnen das richtige Futter anbot.

Dann gab es da aber auch noch Insekten. Habt ihr eigentlich schon mal lebende Insekten gesehen?

Nein?

Das dachte ich mir!

Wie konnte ich nur so dumm fragen.

Im Verhältnis zu den Vögeln waren zum Beispiel die Mücken sehr, sehr klein. Ihr Summen war allerdings überaus lustig. Dann wussten wir, dass sie schon ziemlich nah bei uns waren und uns stechen wollten.

Wisst ihr Kinder..., Mücken haben einen schlanken Körper mit zarten, durchsichtigen Flügeln. Direkt am Kopf trugen sie einen kleinen Minirüssel mit dem sie das Blut ihrer Opfer aussaugen konnten. Und wenn sie sich mit Blut voll gesogen hatten, waren sie doppelt und dreimal so dick wie vorher, sodass manche von ihnen nicht mehr dazu fähig waren, richtig zu fliegen. Meist tauchten sie in großen Schwärmen auf oder tanzten über der sonnigen Landschaft im Zickzackkurs hin und her. Ja, selbst diese kleinen Biester haben wir bewundert. Sie waren überaus filigrane Geschöpfe, die von Mutter Natur in unendlicher Zahl hervorgebracht wurden. Aber wer weiß das schon von euch. Wer weiß das schon...

Noch interessanter dagegen waren die vielen verschiedenen Käfer und Schmetterlinge. Im Naturmuseum gibt es eine Menge Nachbildungen von ihnen. Wir haben früher diese Tierchen noch gefangen. Ja, ehrlich! Ich weiß aber nicht mehr, wann ich zum Beispiel zuletzt einen Maikäfer oder einen bunten Schmetterling lebend gesehen habe. Muss ungefähr 2025 gewesen sein. Da war ich gerade mal 12 Jahre alt.

Nun ja, meine lieben Kinder, so war das damals. Ich erzähle euch hier keine Märchen. In den Ferien sind wir draußen unter freiem Himmel herum gelaufen, haben in den Wäldern Räuber und Gendarm gespielt oder sind an warmen Tagen an den Badesee gegangen. Den ganzen Tag waren wir an der frischen Luft gewesen. Der Wind ist uns noch durch die zerzausten Haare gefahren, wenn wir im Herbst Drachen aufsteigen ließen.

Das alles haben wir gemacht, meine Kleinen. Leider ist das schon so lange her. Ich kann es mir selbst beinah nicht mehr vorstellen. Oder bin ich einfach nur vergesslich geworden? Muss wohl am Alter liegen!

Könnt ihr euch das überhaupt vorstellen, dass wir damals keine Schutzanzüge tragen mussten und auch noch ohne Atemschutz nach draußen gehen konnten? So sauber war die Natur, bevor die große Katastrophe über uns hereinbrach und der Himmel sich verdunkelte. Siebzig Jahre ist das schon her. Mein Gott, wie die Zeit vergeht! Jetzt bin ich alt und grau und besitze nur noch meine Erinnerungen an eine schönere Zeit.

Ja, ja, so war es! Niemand von euch kann sich eine grüne Landschaft vorstellen, nicht wahr? Das kann man eben nur dann, wenn man sie selbst mit eigenen Augen gesehen hat. Alles war wunderschön.

Dort, wo einst grüne Wiesen wuchsen, verschlungene Wildbäche rauschten und ausgedehnte Wälder bis zum weiten Horizont reichten, da ist heute nur noch tote Wüste. Was haben wir Menschen uns bloß damit angetan! Der Himmel ist nicht mehr blau, sondern schwarz und hässlich geworden. Die Sonne versteckt sich dahinter, als wolle sie mit uns nichts mehr zu tun haben. Und was ist aus den einst herrlich weißen Wolken geworden? Sie schauen jetzt dunkel und unheimlich aus und sind voller Gift. Ihr trübes, stinkendes Regenwasser verseucht noch immer das Land. Wie lange wird es dauern, bis sich Mutter Natur von diesem Frevel des Menschen wieder erholt hat? Ich kann es nicht sagen, meine lieben Kinder.

Der alte Mann hielt plötzlich mit dem Reden inne. Tränen liefen ihm über seine faltigen Wangen. Dann rief er die Kinder über die interne Funkeinrichtung der Schutzanzüge wieder alle zu sich heran und ließ durchzählen. Anschließend mussten sich seine Schützlinge jeweils zu zweit in einer Reihe hintereinander aufstellen. Es waren ungefähr zwanzig Kinder an der Zahl. Eine Zeit lang blieben sie in ihren unförmigen Schutzanzügen am gleichen Fleck stehen, bis der Greis schließlich das drei Meter hohe Schleusentor aus purem Edelstahl über einen versteckten Schalter in der Betonwand in Betrieb setzte.

Als es weit offen stand, gingen die Kinder in den dahinter liegenden Dekontaminationsraum, wo sie abermals warten mussten. Wieder drückte der Alte einen Schalter, diesmal von innen. Als das schwere Stahltor der Luftschleuse mit einem polternden Geräusch in die Verriegelung einrastete, schaltete sich das Raumlicht automatisch an. Eine weiße Dampfwolke strömte geräuschvoll von der Decke auf den alten Mann und die ruhig da stehenden Kinder herab. Das ging solange, bis plötzlich ein akustisches Signal ertönte und eine freundliche Frauenstimme aus dem Hintergrund sagte: „Die Messungen der Kontaminationswerte haben Null angezeigt. Die Reinigung ist abgeschlossen. Bitte betretet jetzt den nächsten Raum..., einer nach dem anderen! Dann legt den Schutzanzug ab! Anschließend begebt ihr euch in den Duschraum und wartet dort auf weitere Anweisungen. Vielen Dank!“

Alles verlief reibungslos wie immer. Der alte Mann kannte sich mit dieser Prozedur aus.

Draußen, in einer stillen Welt ohne Leben, wurde es bereits langsam Nacht, als die Kinder von ihren Eltern auf der anderen Seite des Schleusensystems im Innern der gewaltigen Anlage in Empfang genommen wurden.




Nach und nach stiegen sie alle in den bereitstehenden, leise surrenden Personentransporter ein, der von einem Androiden gesteuert wurde. Nachdem jeder seinen Platz eingenommen hatte, schlossen sich die seitlichen Einstiegstüren mit einem kurzen Zischen und das bullige Fahrzeug setzte sich langsam in Bewegung. Es fuhr dorthin, wo sich die hell erleuchtete, futuristisch aussehende Millionenstadt tief unter der Erde befand.




Ende

(c)Heiwahoe


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Beschreibung des Autors zu "Erinnerungen eines alten Mannes"

Ein alter Mann erzählt den Kindern von einer Welt, wie sie einmal war. Doch das ist schon lange her.

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