Da ist sie wieder – diese altvertraute, fast schon schreiende Stille, die mich umfängt wie ein schützender Beistand; der Umarmung eines alten und doch verkannten Freundes gleich, genauso kostbar wie sie flüchtig ist -weichend unter der sinisteren Ägide des Inszenators, dessen Wort Gesetz ist in seinem Reiche, das unangefochtene Absolutum darstellt in einer Welt, die sich allen profanen Gesetzgebungen, jedweden profanen Verhältnismäßigkeiten entsagt.
Ein Peitschenknall zerfetzt diese Stille; die Akteure werden angekündigt, einhelliges Klatschen stimmt ein – ich betrete die kreisrunde Manege und bin wieder allein.
Der Handlungsort ist grell beleuchtet und karg, wie eine Leinwand, die es zu bemalen gilt.
Nun richtet sich der allgemeine Blick auf die Mitte des Platzes, dort steht der Direktor auf einem Podest – ein Dirigent mit Peitsche anstatt eines Stabes, bereit, eine Sinfonie ad infinitum zu dirigieren, wartend auf das Ensemble.
Jenseits des Rampenlichts sitzen lichtlose, gesichtslose Schemen – kaum auszumachen im dunklen Domizil des Voyeuristen – den illusorisch distinguierten Schein wahrend, bis sich unweigerlich das Innerste nach außen zu kehren beginnt, unsere eigene Blöße relativierend, ja gar negierend in ihrer selbstverschuldeten Ignoranz.
Niemand weiß wirklich genau, warum sie gekommen sind – ob sie zuschauen, um zu verdrängen, um Trost zu suchen oder ob sie letzten Endes doch nur nach Zerstreuung gieren, doch das ist nicht von Bedeutung.
Jenseits der Bühne sind sie alle gleich – ein Publikum; der Mob aus Schaulustigen, den es zu unterhalten gilt, Gaffer des weltweit größten Autounfalls – oder doch eher eines Stunts?
Der Direktor spricht – mit einer erwartungsvoll um Beifall heischenden Servilität und zugleich richtend – die letzten apostrophierenden Worte, eine beängstigende Stille kehrt ein – dann eröffnet ein dezidierter Peitschenknall unsere namenlose Seelenpein.
Immer und immer wieder defilieren wir, jeder für sich allein, nahezu saltatorisch anmutend an unserem Publikum vorbei; unerbittlich von der Peitsche des Inszenators angetrieben, die, einem Metronom gleich, die Rasanz des Scheines ungebändigt aufdreht – höher, weiter schneller.
Ich bin innerlich ausgebrannt, fühle mich gleichsam aber so lebendig wie nie zuvor, versinke im berauschenden Blendwerk der Formen und Farben, Kunststückchen und Skurrilitäten, aus der Ferne den bittersüßen Klang des Publikums vernehmend, den ich zu hassen gelernt habe, von dem ich jedoch aber auch nicht loskomme.
Nicht nur mir setzt diese Endlosschleife an glamourösen Gipfelpunkten zu.
Einer meiner Mitstreiter stürzt neben mir zu Boden, paralysiert im Staub verharrend, akzentuiert von den gewissenlos gleißenden Lichterfluten der Scheinwerfer, denen das Lux Aeterna weichen muss, doch ich habe unter Tränen gelernt, die Gefallen zu ignorieren, denn wir alle sind bloß winzige Zahnräder in der gigantischen Maschinerie der Suggestion, Akteure in dieser ominösen Scheinwelt, deren Grenzen wohl nie ganz genau definiert sein werden und die gleichermaßen geliebt wie auch gehasst wird: „The show must go on!“
Auch ich, so ist mir klar, werde eines Tages in dieser Manege zusammenbrechen, wenn ich keine Alternative, keinen Ausweg finde, doch ich habe die Orientierung verloren.
Werder vermag ich es, mir über die Zuschauertribünen hinweg einen Weg in die fremde Freiheit zu bahnen, noch ist es mir überhaupt erst möglich, das drohende Dunkel zu lichten, an wohlwissend messender Sehstärke zu gewinnen – das Szenarium und die Diskrepanz, Licht und Schatten machen meinen Blick stumpf, berauben mich meiner suggestiven Souveränität.
Wer weiß denn schon, was fernab dieses theatralischen Trauerspiels, dieses tränenreichen Traumgebildes liegt?
Ob hinter den Kulissen nicht bloß ein noch viel größeres Publikum darauf wartet, unterhalten zu werden, sollte ich Ahnungsloser letzten Endes doch nur ein Gefangener der Freiheit sein, und nicht umgekehrt, so wie sich der hybride Inszenator letztendlich der Suggestion beugen muss, ausgesondert, als Unterworfener dazu verdammt, den ewigen Tanz der Marionetten feil zu bieten.
Alles, was ich weiß, ist, dass ich doch nur wieder im Kreis laufen werde – eine weitere Marionette, gefangen im kalten Scheine des Rampenlichtes, horchend auf die Stille – ihr entgegenfiebernd, sie jedoch zugleich auch fürchtend; dabei geflissentlich meine Masken präsentierend, obgleich - oder doch eher gerade weil - ich mein Gesicht schon längst verloren habe.


© nickname_0815


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