(Klasse_B) Laila Pächter / (w) / geb. 13.05.2146
Akte IO-W-24685545-MIZA

Auslese – 31.12.2148 bestanden EM-C-45246

Auslese – 01.06.2149 bestanden EM-C-1298

Auslese – 31.12.2149 bestanden EM-C-989

Auslese – 01.06.2150 bestanden EM-C-28

Auslese – 31.12.2050 bestanden EM-B-3189

Auslese – 01.06.2151 bestanden EM-B-3129

Auslese – 31.12.2151 bestanden EM-B-3085

Auslese – 01.06.2152 bestanden EM-B-2956

Auslese – 31.12.2052 bestanden EM-B-2310

Auslese – 01.06.2153 bestanden EM-B-2107

Auslese – 31.12.2153 bestanden EM-B-2093

Auslese – 01.06.2154 bestanden EM-B-1873

Auslese – 31.12.2054 bestanden EM-B-1702

Auslese – 01.06.2155 bestanden EM-B-1651

Auslese – 31.12.2155 bestanden EM-B-1493

Auslese – 01.06.2056 bestanden EM-B-1328

Auslese – 31.12.2156 bestanden EM-B-1292

Auslese – 01.06.2157 bestanden EM-B-1203

Auslese – 31.12.2157 bestanden EM-B-1194

Auslese – 01.06.2158 bestanden EM-B-1110

Auslese – 31.12.2158 bestanden EM-B-1056

Auslese – 01.06.2159 bestanden EM-B-938

Auslese – 31.12.2159 bestanden EM-B-825

Auslese – 01.06.2160 bestanden EM-B-781

Auslese – 31.12.2160 bestanden EM-B-705

Auslese – 01.06.2161 bestanden EM-B-672

Auslese – 31.12.2161 bestanden EM-B-636

***


Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts hatte die Zahl der menschlichen Bevölkerung der Erde Neuneinhalb Milliarden erreicht. (...)
Wenige Jahre später ereignete sich ein großer Zusammenbruch, als es im Streit um Ressourcen zu Scharmützeln und schließlich zu Kriegen kam. (...)
Ein halbes Jahrhundert lang währte vollständiges und völliges Chaos. In diesen Jahren rief sich eine Gruppe ins Leben, die das Ziel einer neuen Staatenbildung verfolgte (...) schließlich Erfolg und mit den neuen Staaten brachte sie auch ein System, um zu verhindern, dass die Weltbevölkerung auf mehr als vier Milliarden anwuchs. Dieses System, das junge Menschen auf ihren Wert für die Gesellschaft prüfte und problematische und subversive Faktoren aussonderte, wurde Auslese genannt.

***


21.04.2162 – 23:09

Bemüht leise schlichen die zwei durch die Korridore, lugten um die Ecken und horchten auf die Schritte der Uniformierten. Wenn tatsächlich jemand in dieser Nacht durch die Gänge des Mädchenflügels patrouillierte, bemerkte er sie nicht. Immer noch auf der Hut öffneten sie die Tür zum Waschraum und schlossen sie hinter sich, erleichtert und auch ein wenig überrascht.
Drinnen brachen sie sofort in Kichern aus. "Du bist wahnsinnig", erklärte Laila und drehte an einem der großen Wasserhähne: "Und leichtsinnig!" Sie versuchte, die Zeichen und Muster auf ihren Armen mit Wasser zu entfernen, aber sie verblassten nicht. In leichter Panik sah sie sich nach einer Bürste oder dergleichen um und entdeckte dabei, das Halie sich nicht, wie angenommen, ebenfalls wusch, sondern sich langsam im Licht drehte und ihre Gestalt im Spiegel bewunderte. Genau wie auf Lailas eigenen Armen waren auch auf Halies Muster und Symbole gemalt. Das kalte Neonlicht lies die schwarze Farbe fast leuchten. Ihre Freundin warf in einer anmutigen Geste die Haare in den Nacken. "Ich sehe aus wie eine Göttin!"
"Du siehst so aus, aber du bist keine. Und wenn du weiter solchen Lärm machst, kommt noch jemand!", entgegnete sie sachlich.
"Das ist jetzt auch egal." Halie lächelte beunruhigend.
Laila fühlte, wie eine zentnerschwere Last sich auf ihr Herz senkte. Sie schlug die Augen nieder. "Müssen wir jetzt darüber reden? Wir hatten so viel Spaß."
"Es ist eine Tatsache, Laila. Ich weiß, was ich tue."
Sie fühlte, wie Tränen ihre Augen füllten. Langsam sank sie auf den kalten, gefliesten Boden. Die Worte, die sie ihr niemals gesagt hatten, lasteten schwer auf ihrer Seele.
"Morgen", flüsterte Halie.
Nein. "Nein!" Mit angstvoll geweiteten Augen schaute Laila zu ihrer besten Freundin hinauf. Zu ihrer einzigen Freundin.
"Es muss sein. Wenn ich es morgen nicht tue, tue ich es nie."
"Dann tu es nie!"
Halie sah ihr in die Augen und sie konnte den Schmerz darin sehen. Stumm schüttelte sie den Kopf. Laila brach in Tränen aus. Am Boden kauernd, schluchzte sie und hätte am liebsten geschrien.
Dann spürte sie Halies Arme um ihre Schultern und ihre Hand, die über ihren Kopf strich.
"Was soll ich denn machen?" Sie klang, als würde sie ebenfalls gleich weinen.
Laila fand vor Schluchzen keine Zeit, zu antworten, aber das war gar nicht nötig.
"Soll ich warten bis zur nächsten Auslese? Damit sie es tun? Ich kann nicht mehr. Du weißt das."
Ja, sie wusste. Nur zu gut. Sie atmete bewusst, aus, ein, aus, ein, um nicht zu schreien und den ganzen Trakt auf sie aufmerksam zu machen. Dann flüsterte sie ihre lange verborgene Anschuldigung. Die letzte Möglichkeit, Halie noch umzustimmen.
"Du lässt mich allein."
Kurz verharrten ihre Hände, dann fuhren sie damit fort, ihr tröstend über den Kopf zu streichen. "Ich weiß", wisperte sie zurück.
Laila hob den Kopf. Sie sah ihr in die Augen, sah Schmerz darin, ein Flehen um Vergebung, aber auch eine düstere Entschlossenheit. Die letzte Hoffnung schwand.
Sie schluckte hart. "Morgen also."
Auf Halies Nicken folgte Stille, nur gestört vom Plätschern des Wassers aus dem Wasserhahn, den Laila nicht wieder zugedreht hatte.
Langsam stand sie wieder auf. Sie fühlte sich taub, seltsam leer. Mit zwei Schritten durchquerte sie den Raum und stellte den Hahn ab. Dann wandte sie sich wieder Halie zu, umklammerte mit den Händen krampfhaft den Rand des Beckens. Es war kalt.
Halie kniete noch dort, wo sie Laila umarmt hatte, und starrte auf den Boden. Schließlich atmete sie einmal tief ein und aus und ging dann zu ihr.
Die Tränen, die vorher in ihren Augen zu sehen gewesen waren, waren verschwunden. Aus ihnen sprach nun einzig und allein ihre Entschlossenheit.
"Ich muss dich um etwas bitten."
"Alles", gab Laila zurück.
Halie kam nah an sie heran und starrte ihr tief in die Augen. Ein Zittern schien sie zu überkommen und sie blinzelte zweimal. "Vergiss mich nicht", hauchte sie.
Laila musste erneut schlucken und die Tränen aus ihren Augen blinzeln. Aber ihre Stimme zitterte nicht. "Niemals."
Eine ganze Weile starrten sie sich noch in die Augen, dann wandte Halie sich abrupt ab und drehte einen der anderen Wasserhähne auf. „Dann sehen wir mal, wie wir diese Farbe von der Haut kriegen!“, rief sie unbeschwert.
Langsam löste Laila ihre Hände vom Beckenrand und trat zu ihrer Freundin.

***


29.04.2162 – 09:41

So schwer war es gar nicht, die Dinge in die Hände zu bekommen. Sie löste Aufgaben, Klasse-C Aufgaben für solche, die Angst vor dem Versagen hatten. Laila wünschte ihnen insgeheim Glück, auch wenn sie nach außen hin hart blieb. Sie wünschte ihnen Glück und wusste trotzdem, dass sie alle bei der nächsten Auslese verlieren würden. Es war unverzeihlich, sich einmal zu verschlechtern.
Das Problem, mit dem sie am meisten gerechnet hatte, tauchte überhaupt nicht auf. In den Archiven ihres Trakts lagerten einige der als hindernd eingestuften Texte des letzten Jahrhunderts. Als Gegenleistung für ihre Hilfe stahlen sich die Klasse-C-Schüler in die Archive. Sie waren ausgeschildert, sie fanden schnell, was sie suchten. Aber sie mussten sich verstecken, deshalb konnten sie das Gedicht nicht mitnehmen. Der Junge hatte sich die ersten Zeilen gemerkt. Und das war es, ihr Geschenk für eine Tote.
Als sie an jenem Tag kurz vor Mitternacht in die Schlafsäle geschlichen waren, ihre Haut frei von den verräterischen Malen ihrer verbotenen Nachtbeschäftigung, hatte sie von Halie Abschied genommen. Hatte sich geschworen, sie niemals zu vergessen.
Am nächsten Tag wachte sie auf und wusste, es war vorbei. Sie wartete, dass jemand ihr leeres Bett bemerkte. Wartete, dass ein Uniformierter erklären würde, was mit ihr passiert war.
Doch nichts geschah. Der Ablauf blieb gleich. Ihr Bett wurde von einer Aufsteigerin belegt und niemals hörte sie irgendeine Frage nach ihrer Freundin.
Laila war entsetzt. Fragen kamen ihr in den Sinn und ließen sie nicht in Ruhe. Was war, wenn es schon vorher welche wie Halie gegeben hatte? Waren sie alle vergessen worden, vertuscht von den Verantwortlichen und gestrichen aus den Akten? Und wie sollte sie, Laila, es schaffen, in dieser Umgebung nicht zu vergessen?
Der Alltag kam ihr unrettbar schwarz vor. Wie sollte sie weitermachen können, ohne ihre Stütze und einzige Freundin? In weniger als zwei Monaten war die nächste Auslese. Sie konnte nicht lernen, konnte sich nicht konzentrieren. Und selbst wenn sie die Auslese bestand, was dann? In einem halben Jahr wäre die nächste Auslese. Dann die nächste und nächste. Einmal ein Fehler zu viel, ein einziges schlechteres Ergebnis als beim letzten Mal, und alles wäre vorbei. Wie sollte sie bis siebzehn überleben? Wie sollte sie sich jedes Mal aufs Neue aufraffen? Sie sah keinen Sinn.
Wichtigen Menschen, wurde gelehrt, hatte man im letzten Jahrhundert Gedenksteine errichtet. Laila kannte keinen Menschen, der wichtiger war als Halie für sie.
Niemand verdiente einen Gedenkstein so sehr wie sie. Und dann, so dachte sie, könnte kaum jemand sie vergessen. Ein letztes Geschenk für eine Tote: Erinnerung.
Natürlich konnte sie keinen Stein aufstellen. Sie konnte aber Worte in einen Baum ritzen. Oder auf eine der Außenhofmauern schreiben. Oder auf eine der Traktmauern. Es war eine merkwürdige Erleichterung, wenn man die Konsequenzen seines Handels ignorieren konnte; und es war unglaublich, wie sich die Möglichkeiten vervielfältigten.
Die Idee, ein Gedicht aufzuschreiben, kam eigentlich von Halie selbst. Sie war immer der Meinung gewesen, wenn die Verantwortlichen der Ersten Tage der dachten, diese Gedichte wären hinderlich für ihr System, wären sie förderlich für uns.
Das Laila kein ganzes Gedicht hatte, wirkte irgendwie passend. Zuerst war sie ziemlich sauer auf die beiden Klasse-C-Schüler, dass sie das Gedicht nicht mitgebracht hatten. Aber dann hatte der Junge die erste Strophe rezitiert, und das hatte so gepasst, so gut ausgedrückt, was sie Halie sagen wollte, dass ihr fast die Tränen kamen.
Die beiden hatten es natürlich gemerkt. Als sie schließlich gingen, konnte sie nicht umhin, ihnen nachzusehen und sich zu fragen, ob sie jemanden davon erzählen würden. Die Vorstellung gefiel ihr. Wenn sie starb, würden zumindest ein paar sie in Erinnerung behalten, als jemand, der Regeln gebrochen hatte. Als Mensch und nicht als Faktor.
Sie wusste nicht genau, wann sie es machen würde. Sie würde morgens aufwachen und wissen: Heute. Ich tue es heute oder nie.
Aber langsam wusste sie, wie genau sie Halies Gedenkstein schaffen würde. Eine Wand im Korridor oben an den Sälen. Bäume konnten gefällt werden, eine Traktmauer übermalt. Die Wände oben konnte man nicht streichen, ohne dass es in den Sälen auffiel, den Korridor konnte man nicht sperren, ohne den täglichen Ablauf durcheinander zu bringen. So oder so, was sie getan hatte, würde bemerkt werden.
Schreiben würde sie mit der schwarzen Tintenfarbe, die Halie aus den Verwaltungsräumen gestohlen hatte. Wie Laila nur zu gut wusste, war sie sehr, sehr schwer abzukriegen. Und was sie schreiben würde, wusste sie ebenfalls.
Nachdem sie den Gedenkstein erschaffen hatte, würde sie in den Innenhof rennen, zu dem alle Schlafsaalfenster lagen. Und dort würde sie auf die Uniformierten warten.

***


03.05.2162 – 20:58

Vorsichtig, möglichst lautlos legte sie ihren improvisierten Pinsel ab. Laila trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ihr Werk.

Hier gedenke meiner Freundin Halie,
die den Tod diesem Leben vorzog.

Du bist ein Schatten am Tage
und in der Nacht ein Licht,
Du lebst in meiner Klage
und stirbst im Herzen nicht.

Kurz nickte sie, dann wandte sie sich um. Ihr Ziel war der Innenhof. Sie schlich, horchte an den Ecken auf Schritte.
Noch kam es darauf an, nicht erwischt zu werden.

***


03.05.2162 – 21:07

Wenn sie kommen, werde ich schreien, ermahnte sie sich. Sie würde so laut schreien, dass die anderen es alle mitbekamen, dass sie an die Fenster liefen und sie sehen konnten. Sterben sehen konnten. Sie, da war Laila sich ganz sicher, würde nicht so schnell vergessen werden.
Noch war es ruhig. Ihnen war noch nicht klar, wo Laila war. Noch nicht.
In der kalten Luft wurde ihr Atem zu weißen Wölkchen. Um sich zu wärmen, rieb sie mit den Händen über ihre Arme. Es half nichts – und was brachte es schon, sich jetzt noch warm zu halten? Laila verschränkte stattdessen die Arme und hielt ihre zitternden Finger so unter Kontrolle. Immer hatte sie Angst vor der Auslese gehabt, jedes halbe Jahr aufs Neue, es hatte sie jedes Mal viel Mut gekostet, in das Prüfungszimmer einzutreten. Jetzt wusste sie, dass das nichts gewesen war im Vergleich zu dem übermenschlichen Mut, den Halie aufgebracht hatte und den sie jetzt benötigte – dem Mut zu sterben.
Zuerst hörte sie nur leise Schritte, dann rief jemand etwas und schon hallte lautes Poltern und Stampfen aus dem Korridor, der an der Innenhoftür lag. Eisige Kälte, die rein gar nichts mit dem Winter zu tun hatte, breitete sich in ihrem Inneren aus, sie konnte kaum atmen. Die Tür wurde aufgerissen, ein kalter, heller Lichtstrahl blendete sie. Ach, verdammt, schoss ihr durch den Kopf, ich kann das nicht. Auf einmal fand Laila ihre Beine wieder, drehte sich um und lief so schnell sie konnte zum Ausgang, während hinter ihr mehrere Stimmen gleichzeitig ihren Namen schrien. Sie sah nicht zurück – sie lief um ihr Leben.

***

Du bist ein Schatten am Tage
und in der Nacht ein Licht;
Du lebst in meiner Klage
und stirbst im Herzen nicht.

Wo ich mein Zelt aufschlage,
da wohnst du bei mir dicht;
Du bist mein Schatten am Tage
und in der Nacht mein Licht.

Wo ich auch nach dir frage,
find ich von dir Bericht;
Du lebst in meiner Klage
und stirbst im Herzen nicht.

Du bist ein Schatten am Tage
und in der Nacht ein Licht;
Du lebst in meiner Klage
und stirbst im Herzen nicht.

Aus den Kindertotenliedern
Friedrich Rückert


© Stefanie T.


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Beschreibung des Autors zu "Auslese"

Ich weiß auch nicht genau, welche Art Text das ist :-)

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