I
Ein neuer Morgen erhebt sich über der deutschen Hauptstadt, Berlin. Gegen acht Uhr sind die Straßen bereits von Menschenmassen, Autos, Bussen und Lastern hoffnungslos überfüllt, und doch gibt es eine Ordnung in diesem augenscheinlichen Chaos. Jeder Passant, jeder Auto- und jeder Busfahrer weiß, wohin er fährt. So geschäftig und friedlich diese Stadt auf den ersten Blick zu sein scheint, so erkennt man auf den zweiten das auswuchernde Leid und Unrecht. Das Verbrechen, welchem sich diese Geschichte widmet, geschieht nicht in Kreuzberg oder Neukölln, den gut bekannten Brennpunkten der Kriminalität, sondern im gutbürgerlichen Südwesten der Metropole.
Mit seiner Viertelmillion Einwohner, seinen zahlreichen Seen, Parks und Villen liegt der Bezirk Steglitz-Zehlendorf etwas außerhalb des turbulenten Großstadtlebens. Eine Ausnahme bildet die Schloßstraße mit ihren vielen Läden und Einkaufszentren. Geschäfte reihen sich dort an weitere Geschäfte, Kaufhäuser und große Einkaufkomplexe. Auf den menschengefüllten Bürgersteigen, zwischen Dönergeruch, Blumenduft und Abgasen, hört das Individuum auf zu existieren, es wird Teil einer undefinierbaren Menge. Sobald es jedoch in eine der unzähligen Seitenstraßen einbiegt und sich von der Masse löst, erlangt es seine Einzigartigkeit zurück.
In der Rothenburgstraße, einer ruhigen Parallelstraße der Schloßstraße, steht das Fichtenberg Gymnasium. Das gelbe Hauptgebäude mit braunem Satteldach entstand noch zu Zeiten des Kaiserreichs. Die Blumenornamente an den Geländern, die in den Stein gemeißelten Symbole zwischen den Fenstern des 1. und 2. Stocks und das mit Holz und Kinderfiguren umrahmte große Fenster im ersten Stock, direkt über den Haupteingang, erinnern an die Zeit des ausgehenden Jugendstils in den 1910ern. Doch mittlerweile scheint die Fassade des alten Baus renovierungsbedürftig, denn der Putz beginnt sich großflächig zu lösen. Geht man durch die orange-braune Tür hinter den Steinbögen, so betritt man das Foyer. Es ist eine etwas altmodische, dennoch schöne, weiß-orange gestrichene Aufenthaltshalle. Zur Rechten fallen die Holzbänke und die schlichte Glasvitrine auf, sowie die verschnörkelten Lampen an den Säulen des Raums, Relikte aus vergangenen Jahrzehnten. Nur der schwarze Bildschirm mit dem Vertretungsplan zur Linken, oberhalb des Büros der Hausmeisterin, ermöglicht dem Besucher eine Orientierung in der Zeit.
Vom Foyer aus gelangt man über eine Haupt- und zwei Nebentreppen, sowie eine Vielzahl von Gängen zu den, über vier Stockwerke und drei Flügel verteilten Dutzenden von Unterrichtsräumen. Der Flügel zur Linken beherbergt das große Lehrerzimmer und das Büro des Schuldirektors im Erdgeschoss, die Biologie- und Chemielabore im ersten, die Fachräume für Physik und Musik im zweiten und die Kunsträume im dritten Stockwerk. Geradeaus befinden sich die Fachräume für Gesellschaftswissenschaften, weitere Klassenräume, die für die Mathematikkurse und den Sprachunterricht der Oberstufe und ganz oben ein weiterer Werkraum für Kunst sowie ein Erholungsraum für Lehrer. Der Flügel zur Rechten ist weder über das Erdgeschoss, noch über den dritten Stock betretbar. Vom Untergeschoss aus erstreckt sich über zwei Etagen die Turnhalle, darüber liegen u.a. weitere Lehrerzimmer. Im zweiten Stock befindet sich schließlich die Aula der Fichtenberg, ein großer Raum mit rotem Boden und langen, bogenförmig zulaufenden Fenstern, die ein wenig an ein Kirchenschiff erinnern und von braunen, dicken Vorhängen umrahmt sind. Vorne auf der breiten, holzbeplankten Bühne finden Ansprachen an die Schülerschaft, Feste, Konzerte, Theateraufführungen und nicht zuletzt Einschulungen und Abiturzeugnisvergaben statt.
II
Es ist ein grauer Morgen, Anfang Dezember, der Herbst schickt sich an, in den Winter überzugehen, und in einigen Schulräumen ist es nun empfindlich kalt, da auch die alte Heizungsanlage schon bessere Zeiten gesehen hat und so manches morsche Fenster einen feinen aber beständig kalten Luftzug in das Innere des Gebäudes entlässt.
Die Hausmeisterin, Frau Saunar, eine dynamische, schlanke Mitdreißigerin, mit halblangem kastanienbraunem Haar macht ihren morgendlichen Rundgang durch die Flure der Schule. Sie trägt Jeans und dunklen Pullover. Gerade macht sie Halt vor den Schautafeln neben der Tür des Physikraumes im 2. Stock des linken Gebäudeflügels als die Glastür am Ende des Ganges aufgestoßen wird und die kurzgewachsene, rundliche Gestalt von Angelika Kalis, Geschichtslehrerin am Gymnasium, mehr stolpernde als laufend auf sie zueilt. Unter dem stets auffälligen, maskengleichen Makeup der Lehrerin ist deren Gesicht kalkweiß, die Augen entsetzt aufgerissen, der Mund, Unverständliches stammelnd, grotesk verzerrt. „Angelika!“ ruft Frau Saunar „was ist mit Ihnen?“ während ihr die angesprochene in die geöffneten Arme sinkt.
Es dauert einige Momente, bis einzelne verständliche Satzfragmente aus dem Mund der Angesprochenen hörbar werden: “Er liegt da … tot … es ist grauenvoll … da oben … eingequetscht … die Dachkammer war offen … ich wollte bloß die Tür schließen.“ Einige Schüler eilen herbei, während die Lehrerin wie in Zeitlupe zu Boden gleitet. Die Hausmeisterin schickt ein Mädchen zum Sekretariat, Hilfe und einen Krankenwagen zu holen. Einen Jungen weist sie an, etwas Wasser zu besorgen, zwei andere Schüler, die Füße der Zusammengebrochenen hochzulegen, deren Nacken sie stützt.
Als der Schüler mit einem Glas Wasser zurückkommt, erscheinen auch die ersten Mitglieder des Lehrerkollegiums und bemühen sich um die langsam wieder zu sich kommende Kollegin. Die ganze Schule, bis vor wenigen Momenten noch morgendlich friedlich-geschäftig, gleicht jetzt einem Bienenstock, einer unüberschaubaren Masse von hin- und hereilenden Körpern, Gesten und Geräuschen, welche die ungeheure Nachricht und zahllose Vermutungen und Gerüchte in Windeseile bis in die letzten Winkel des Gebäudes verteilt.
Frau Saunar beschließt, der Sache selbst auf den Grund zu gehen. Sie eilt die Stufen zum Dachgeschoß hinauf, dorthin, wo sich nach Angaben der Geschichtslehrerin etwas Fürchterliches ereignet haben muss. Die Tür zu den Kunsträumen steht offen, „seltsam“, denkt sie, und erinnert sich an Angelikas Worte, „der ganze Bereich ist doch wegen des morschen Daches gesperrt.“ Eine der Türen zum Dachboden steht ebenfalls offen, „hier muss es sein.“ Noch ein paar Schritte und sie versteht, was Angelika so entsetzt hat: Unter einem herabgestützten Dachbalken, Schindeln, Schutt und Staub liegt der leblose Körper des Schuldirektors.
III
Eine Stunde später, die Situation in der Schule hat sich mit Eintreffen der Polizei in geordnete Bahnen begeben. Der Fundort der sterblichen Überreste des allseits beliebten Schulleiters Leppin wurde abgesperrt. Man beschließt, die Schüler nach Hause zu schicken, während die Lehrer und Angestellten der Schule befragt werden. Angelika Kalis hat sich soweit erholt, dass auch sie Auskunft geben kann. Warum sie zum Dachgeschoß hochgestiegen sei, könne sie gar nicht so genau sagen, Frau Saunar, die dabei steht, weiß jedoch, dass sich die Lehrerin morgens vor Unterrichtsbeginn gerne noch etwas zurückzieht, um sich zu sammeln. Sie hat sie dabei schon einige Male beobachten können. Die Tür zum Dachgeschoß habe offen gestanden, obwohl die eigentlich verschlossen sein müsse, wegen der Unfallgefahr. Sie habe nachschauen wollen, ob jemand dort oben sei und habe dann gesehen, dass auch eine zweite Türe zum Dachboden geöffnet war. Den Anblick, als sie hineinschaute, werde sie nie vergessen können. Sie stockt einige Male während sie über den Leichenfund berichtet. Nein, angefasst habe sie nichts und auch niemanden sonst da gesehen oder gehört. Sie sei sofort nach unter gelaufen, um Hilfe zu holen.
Die Hausmeisterin gibt ebenfalls ihren Bericht des Vorfalls zu Protokoll. Die Polizisten scheinen sich einig zu sein, dass der Unfall schon am Vorabend passiert sein müsse. Ob sie etwas von dem Einsturz gehört habe, wollen sie wissen. Nein, aber wegen des Sturms in den vergangenen Stunden sei dies auch unwahrscheinlich, da die Hausmeisterwohnung im Erdgeschoss des Gebäudes liegt.
Die anderen Lehrer und Angestellten haben ebenfalls nichts beobachtet oder gehört. Als letzte habe wohl die Betreuerin der Theater AG das Gebäude gegen 20:00 Uhr verlassen. Ihr und ihren Schülern sei aber nichts aufgefallen. Ob Herr Leppin zu diesem Zeitpunkt noch im Gebäude gewesen sei, wisse sie nicht zu sagen, aber möglich sei es, da er jetzt oft noch später arbeite, um Gelder für die Sanierung des Gebäudes zu organisieren.
Ungewöhnlich ist eigentlich nur die Aussage der Deutschlehrerin, Frau Regenbrecht, sie behauptet am Vortag wegen eines Notfalls in der Familie nicht zum Dienst erschienen zu sein und auch heute Morgen erst spät zur Schule gekommen zu sein. „Komisch“ denkt die Hausmeisterin, „ ich könnte schwören, ihren Wagen gestern Abend vor der Schule gesehen zu haben.“ Überhaupt scheint ihr, abgesehen von der armen Angelika Kalis, die ganze Situation am meisten zu Herzen zu gehen. Sie weiß nicht recht, wohin mit ihren Händen und mit ihrem Blick, während sie die Fragen der Polizisten beantwortet.
Die Glastür am Ende des Ganges, durch die die Geschichtslehrerin heute Morgen gestützt kam, öffnet sich. Man transportiert den Leichnam des unglücklichen Schuldirektors ab. Frau Saunar erklärt sich bereit, die Leiche zu identifizieren. Als der Beamte den Leichensack ein Stück weit öffnet stockt ihr das Herz. Dem blutverschmierten Kopf des toten Direktors wurde ein Ohr abgetrennt.
IV
Spät am Abend ist wieder Ruhe in das Schulgebäude eingekehrt. Die Polizei hat das Dachgeschoß bis zum Abschluss der Untersuchungen versiegelt. Der beschädigte Teil des Daches wurde notdürftig befestigt und abgedichtet. „Zum Glück hat der Sturm nachgelassen“, denkt Frau Saunar. Sie ist jetzt alleine im Gebäude. Trotzdem macht sie heute noch eine Extrarunde durch das spärlich beleuchtete Gebäude. Als begeisterte Hobbydetektivin drängt es sie natürlich, den Dachboden in Augenschein zu nehmen, das fehlende Ohr des Direktors geht ihr nicht aus dem Kopf. Es war, wie mit einem Messer abgeschnitten worden, da war sie sich sicher. Aber wie, um Gottes Willen, war das möglich? Kein Dachbalken und auch keine Dachschindel konnten einen solchen Schnitt hinterlassen.
Sie weiß jedoch ihre Neugier zu zügeln, denn schließlich kann sie das Polizeisiegel nicht einfach aufbrechen und wer weiß, ob der Dachstuhl nicht noch weitere morsche Balken hat. Als sie in die Nähe des Sekretariats im Erdgeschoss kommt, glaubt sie, aus dem angrenzenden Direktionsbüro ein Geräusch zu vernehmen. Atmete da nicht jemand schwer? Sie tritt näher an die Bürotür und lauscht. Plötzlich ein Kraxen wie von berstendem Holz und etwas Metallisches fällt zu Boden. Jemand muss im Büro sein und etwas mit Gewalt aufgebrochen haben. Sie drückt die Klinke der Bürotür hinunter, die Tür ist unverschlossen. Sie öffnet die Tür mit einem Ruck aber als ihre Hand nach dem Lichtschalter greift, taucht direkt vor ihr ein Schatten auf, sie bekommt einen Stoß, verliert das Gleichgewicht und eine dunkle Gestalt drängt sich währenddessen an ihr vorbei in den Flur, läuft zur Flügeltür und verschwindet nach rechts durch den Haupteingang. Da aber ist die Hausmeisterin schon wieder auf den Beinen und nimmt die Verfolgung auf. Durch die Flügeltür ins Foyer, weiter in den Vorraum und auf die Straße. Blick nach rechts, Blick nach links, da heult auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Motor auf. Der Wagen macht einen gewaltigen Satz nach vorne, der Fahrer schaltet, während das Fahrzeug für Sekundenbruchteile innezuhalten scheint, dann verschwindet es mit quietschenden Reifen in der schwach beleuchteten Nebenstraße. Frau Saunar ist sich sicher, den Wagen der Deutschlehrerin Frau Regenbrecht erkannt zu haben. „Verdammt“, denkt sie, „wie konnte ich mich so überrumpeln lassen!“ Wenigstens weiß sie wem das Fluchtfahrzeug gehört. Die Ilka Regenbrecht wird sie sich Morgen zur Brust nehmen.
Zurück im Schulgebäude untersucht sie das Büro des verstorbenen Direktors. Der Einbrecher hatte tatsächlich den Schreibtisch aufgebrochen, für die Türen aber muss er Schlüssel besessen haben. Der Rest des Raumes ist unangetastet, er wusste also was er suchte und wo es zu finden war. Was aber könnte, falls sie es war, die Deutschlehrerin gesucht haben. Leppins abgetrenntes Ohr war schon seltsam, aber der Einbruch heute Nacht lässt überhaupt nur einen Schluss zu: Sein Missgeschick war kein Unfall. Ihr Blick fällt auf einen Gegenstand am Boden, dort wo der Einbrecher mit ihr zusammengestoßen war. Ein Notizbuch! Sie bückt sich, hebt es auf, … der Terminkalender des Verstorbenen. Den also hat der Einbrecher gesucht und bei seiner überstützten Flucht gleich wieder verloren. Sie nimmt ihn an sich und überlegt, ob sie die Polizei anrufen soll. Diesmal aber siegt die Hobbydetektivin in ihr, sie wird diesen Fall selbst untersuchen. Frau Saunar schlägt den braunen, mit Leder umspannten Kalender auf, überfliegt ihn kurz im schwachen Licht einiger weniger Lampen und währenddessen beschließt sie, Frau Regenbrecht am nächsten Tag Rede und Antwort stehen zu lassen.
V
Am nächsten Morgen ist sie immer noch kein Bisschen vorangekommen. Dieselben, unbeantworteten Fragen, welche ihr noch beim Schlafengehen durch den Kopf gingen, lassen ihr auch heute keine Ruhe. Die Spur des Terminkalenders erwies sich als wenig ergiebig: Gespräche mit den Eltern der Schüler, Termine beim Bezirksamt wegen der Sanierung, ein Essen mit Freunden, kein Eintrag für den Abend des vermeintlichen Unfalls. Sie ist enttäuscht. Zumal die Deutschlehrerin am Morgen auch nicht zum Unterricht gekommen ist. Allerdings sieht es so aus, als wären viele Lehrer und Schüler heute nicht erschienen. Doch halt, fehlt da nicht eine Seite im Buch, genau für den fraglichen Abend. Jetzt bei Tageslicht kann man es erkennen. Ob das der Einbrecher getan, und dann das Buch weggeworfen hat? Eher nicht, denn die Seite wurde sauber herausgetrennt, mit einem Lineal vielleicht und dafür hatte der Einbrecher gestern gewiss keine Zeit.
Heute Morgen hat sie das Polizeisiegel am Dachboden untersucht und glaubt, sie könne es unbemerkt vom morschen Türrahmen lösen. Vielleicht findet sich ja ein Hinweis dort. Sie beschließt, es am Abend zu versuchen. Bis dahin sind die täglichen Pflichten des Hausmeisters dran. Auf ihrer Runde bemerkt sie die gedrückte Stimmung in den Gängen, alle sind wie unter Schock, sprechen leise oder starren vor sich hin. Tatsächlich sind nur wenige Schüler und Lehrer gekommen. Der Tod des Direktors geht jedem an die Nieren. Im Foyer greift sie sich eine Tageszeitung. „Steglitzer Schuldirektor tot aufgefunden“ heißt es im Lokalteil. Sie überfliegt den Artikel nach möglichen Hinweisen. „Bei der Inspektion des Dachbodens von herunterstürzenden Dachbalken getötet […] großer Verlust […] von Schülern und Kollegen geschätzt […] diverse Blutergüsse an Bauch und Rücken, Quetschungen am Hals[…] Lage der Leiche“, der Journalist muss wohl Hobbypathologe sein, so wie er minutiös alle Details auflistet. Die Polizei geht von einem Unfall aus. Sie stutzt, kein Wort von dem fehlenden Ohr, welcher Zeitungsschreiber würde sich solch eine Nachricht entgehen lassen?
Sie beschließt, vor der Eingangstür zu fegen Die Blätter sind dieses Jahr spät gefallen und noch immer liegen täglich große Mengen trockenen Laubs auf den Stufen zumal sie gestern nicht zum Fegen gekommen war. Einige Blätter bleiben an den Borsten kleben, sie will sie mit der Hand abziehen und blickt entgeistert auf ihre Finger. „Ist das etwa Blut?“ Sie schaut sich um, niemand in der Nähe, schaut wieder auf die rotbraune klebrige Masse auf ihrer Hand. „Ganz bestimmt ist das Blut!“ und dort liegt noch mehr blutiges Laub, auf einer der Treppenstufen sieht sie ebenfalls Blutspuren. „Könnte dies der Tatort sein und das Blut dem armen Rainer Leppin gehören?“
Im ersten Antrieb will sie die Polizei rufen, doch dann erinnert sie sich an den Zeitungsartikel: Unfalltot: affirmativ, das fehlende Ohr nicht erwähnt, die Leiche wurde bewegt, bis unter das Dach geschleppt, der Einbrecher, der Kalender mit der herausgetrennten Seite. Was, wenn da jemand etwas zu verbergen sucht? „Mache ich mich dann nicht zur Zielscheibe, so ohne weitere Beweise?“ Sie beschließt die Blutspur wieder mit Laub zu bedecken und rückt zur Sicherheit den schweren metallenen Mülleimer vom Schuleingang an diese Stelle.
VI
Am Abend im Rathaus des Bezirks. Bürgermeister Norbert Kopp gibt eine Pressekonferenz zur Sanierung der öffentlichen Gebäude in Steglitz-Zehlendorf. Wie üblich ist die Mehrheit der Journalisten Mainstream-gebürstet und stellt zuvor abgesprochene Fragen. Ein, zwei kritische Nachfragen gibt es trotzdem, die aber vom Baustadtrat mit Plattitüden abgebogen werden. Umso erstaunter sind die anwesenden Journalisten, Schüler- und Elternvertreter als der Bürgermeister zum Stand der Schulsanierung berichtet, die Fichtenberg-Oberschule werde in Kürze umfassend saniert werden und die diesbezüglichen Bemühungen des unglücklich zu Tode gekommenen Direktors ausdrücklich würdigt.
Ganz hinten im Saal steht die Deutschlehrerin, Frau Regenbrecht. In ihrem Gesicht ist kein Erstaunen zu erkennen, eher eine Mischung aus unterdrückter Wut, Abscheu und unbändigem Willen. Von hinten tritt die Schulhausmeisterin Frau Saunar an sie heran. „Meine Liebe, ich weiß, was Sie getan haben und warum. Aber der Mord an Herrn Leppin kann nicht ungesühnt bleiben.“ Diese Worte hören und in Tränen auszubrechen ist für die arme Frau Regenbrecht eins. Die Hausmeisterin zieht sie mit sich aus dem Raum, ohne dass die Umstehenden den beiden Frauen viel Beachtung schenkten. „Leppin und ich waren an dem Abend mit dem Bürgermeister verabredet. Uns fällt die Schule auf den Kopf und diese dummen Bürokraten und Möchtegernpolitiker kümmern sich nur um ihren eigenen Vorteil.“ „ Wir waren vor der Schule verabredet, aber ich kam etwas später und fand ihn halb tot auf den Stufen. Diese Schweine, hatten ihn zusammengeschlagen und -getreten, ihm sogar ein Ohr abgeschnitten, weil er auf die Sanierung bestand und, wie sie sagten „nicht hören wolle“. Er hat es mir noch erzählen können bevor er starb. Eine Warnung sollte es sein, für alle die, die ihre Grenzen überschreiten.“ „Er ist in meinen Armen gestorben, es war so schrecklich.“ Sie beginnt wieder zu weinen und die Hausmeisterin streicht ihr beruhigend über den Kopf.
„Und dann kamen Sie auf die Idee, es als Unfall darzustellen und den Bürgermeister mit der Seite aus dem Terminkalender zu erpressen, wenn er nicht das Geld für die Schule zur Verfügung stellt, nicht wahr?“ „Ja, ich rief einen Freund an und der half mir den Toten in eine Plane zu wickeln und unters Dach zu schaffen. Ich wusste, wo ein Balken morsch und lose war und den haben wir zum Einsturz gebracht.“
„Ich weiß“, sagte die Hausmeisterin, „ich habe die Spuren gefunden, als ich wusste, wonach ich suchen muss, ebenso die Plane mit den Blutflecken im Baustellencontainer“
„Ich dachte, bei dem Sturm würde niemand Verdacht schöpfen und es wäre bewiesen, dass das Gebäude einsturzgefährdet ist. So wäre sein Tod wenigstens zu Etwas nutze gewesen. Aber wie sind Sie darauf gekommen?“
„Durch Ihren Einbruch und den Fund des Terminkalenders. Die Seite war sauber herausgetrennt, so als ob man sie nicht vernichten, sondern noch benutzen wolle. Dafür blieb aber während des Einbruchs keine Zeit und das hieß, dass derselbe, der die Seite herausgetrennt hatte, noch einmal zurückkam, um einen Hinweis zu beseitigen, etwas was er in der Tatnacht übersehen haben musste: Den Abdruck des Kugelschreibers auf der folgenden Seite, den Beweis für den Termin beim Bürgermeister“.
„Die Sekretärin hatte wohl tagsüber die Schreibtischschublade abgeschlossen, so dass ich sie aufbrechen musste. Und dann standen Sie plötzlich in der Tür und ich bin in Panik weggelaufen.“, gesteht sie.
„So … kommen Sie, wir wollen nicht den letzten Akt verpassen“, holt die Hausmeisterin Frau Regenbrecht wieder in die Gegenwart zurück. „Als ich die Meldung in der Zeitung las, vermutete ich, dass bei der Polizei jemand auf Anweisung des Rathauses die Sache mit dem abgetrennten Ohr der Presse vorenthalten hatte und wandte mich direkt ans BKA. Die Beamten sind schon da, um Bürgermeister Kopp nach der Pressekonferenz mitzunehmen.“
„Ich hoffe, dass man auch die Mitwisser schnappt und die Schläger, die den armen Herrn Leppin so bestialisch ermordet haben“, sagt Ilka Regenbrecht. „Bestimmt, der Bürgermeister ist kaum der Mensch, der die Schuld auf sich allein nimmt. Diejenigen, die die Schulsanierung über so viele Jahre verschleppt haben, werden auch nicht ungeschoren bleiben, wenn Kopp erst einmal auspackt. Ich denke es gibt bald einen großen Kehraus in Berlin.“


© Pepito


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Beschreibung des Autors zu "Der Fichtenberg-Fall oder Der Tote auf dem Dachboden"

Ein brandheißer, aktueller Krimi aus der Schreibwerkstatt des Fichtenberg-Gymansiums.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und tatsächlichen Ereignissen sind vom Autor voll beabsichtigt.

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Kommentare zu "Der Fichtenberg-Fall oder Der Tote auf dem Dachboden"

Re: Der Fichtenberg-Fall oder Der Tote auf dem Dachboden

Autor: Pepito   Datum: 20.12.2014 13:42 Uhr

Kommentar: Und hier der Link zu der wahren Story mit Presseartikeln und Fotos:
http://fichteos.wordpress.com

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