Es ist ein Morgen wie jeder andere. Ich steige wie immer in die volle Regionalbahn ein und fange an mich zu fragen, was wohl all diese anderen Menschen außerhalb dieser Bahn so machen. Nicht beruflich. Sondern auf einer anderen Ebene.

Was denkt der Kerl da drüben wohl? Den sehe ich zum ersten Mal. Wieso hat er im Winter keine vernünftige Jacke an? Ist dem nicht kalt? Hat er die einfach nur vergessen, weil er spät dran war? Oder ist der gefühlsmäßig so abgestumpft, dass er nicht mal Minusgrade mitbekommt? Vielleicht hat er auch einfach keine Kohle für vernünftige Klamotten. Vielleicht hat er noch nicht mal ein gültiges Ticket. Der Kontrolleur war aber erst vor einigen Tagen hier und wird dann wohl heute nicht auftauchen. Ich werde es also nicht erfahren.
Mein Blick schweift zu dem Kerl neben ihm. Der schaut schon ein bisschen verzweifelt auf sein Smartphone. Sieht aus als wäre er Mitte 30. Vielleicht völlig gestresst. Er muss zur Arbeit fahren um eine Familie zu ernähren und zweifelt an seinem Leben. Und das noch dutzende Jahre bis zur Rente. Vielleicht ist auch eines seiner Kinder krank oder seine Frau abgehauen. Sein Blick könnte alles bedeuten. Vielleicht überlegt er auch, ob er nicht einfach seinem nervigen Kollegen heute einen Bleistift ins Auge rammen soll.
Wer kennt all diese Menschen schon wirklich. Hat nicht jeder solche Gedanken? Ich frage mich, was die anderen hier wohl über mich denken. Aber die meisten sind zu vertieft in ihre dutzenden kleinen Geräte. Kriegen nicht mal mit, wenn man sie Minuten lang beobachtet. Sie lesen Mails, schauen Serien, scrollen durch endlos wirkende Ansammlungen sinnloser Videos, Tweets, Reels oder wie das alles heißt. Manche tippen ihre Kennworte für jeden lesbar ein oder schauen ihren meist negativen Kontostand traurig an.
Ob die junge Dame gegenüber von mir vielleicht sogar eine Mörderin ist? Das frage ich mich schon seit Wochen. Schließlich sehe ich sie, seitdem ich diesen Zug nehme, jeden Tag. Morgens in der Frühe und dann wieder am Nachmittag. Aber ganz sicher sein, kann man sich nicht, auch wenn ich schon länger weiß, dass sie einen langweiligen Bürojob macht. Das hält sie ja nicht davon ab, in der Freizeit anderen Tätigkeiten nachzugehen.
Die Haltestelle, an der sie immer aussteigt, ist relativ verlassen. In den dunklen Tagen im Winter ein Grauen. Es ist nur eine Provinzhaltestelle. Der Regional-Express brettert dort einfach durch. Wegen ihr kann ich den aber nicht mehr nehmen, sonst würde ich sie verpassen.
Ich bin ihr tatsächlich noch immer nicht aufgefallen. Auch nicht in dem Café, in dem sie fast immer ihre Mittagspause verbringt. Der Kaffee ist furchtbar, aber den muss ich heute nicht mehr ertragen.
Sie steht auf und geht zur Tür. Ich warte noch kurz und dann folge ich ihr. Zum letzten Mal. Ich bin mir sehr sicher, dass es klappt wie bei den anderen. Wie groß ist schon die Wahrscheinlichkeit, an andere Mörder zu geraten?


© Tobias Langner


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