Michael hört die Worte von Jamal. Die Silben sind Brandbeschleuniger in seinem Schädel. Ein Schädel in Unruhe, niemals im Moment, sondern immer woanders. Woanders und selten hier. Ein Träumer, um den herum es dunkel wird. In den letzten Wochen hatte er von seinen Kameraden gehört, was Ehre bedeutet und wie wichtig es ist eine reine deutsche Familie zu erhalten. Erhalten statt verändern und verlieren. Das deutsche Blut ist der besondere Saft, aus dem die Zukunft des Guten in der Welt besteht. Bestehen statt untergehen. Jetzt ist er im Moment. Wenn der Hass gefüttert wird, werden keine Gefangenen gemacht. Ihm steht ein bärtiger Kanacke gegenüber, der denkt den größten zu haben. Einer von denen, die am Unglück seines Vaters verantwortlich sind. Und der, der mit seiner Ex zusammen ist. Michael fühlt, dass seiner größer ist und gibt Jamal die erste Faust. Sie schlägt ein wie eine Bombe. Jamal ist überrascht. Sein Gehirn bewegt sich im Schädel. Die Sterne fliegen vor den Augen der Kämpfenden und der Hassenden. Der Handknöchel von Michael biegt sich an der Nase von Jamal. Blut. Er kassiert ohne Ende. Doch er teilt auch aus. Das Adrenalin lässt ihn nach vorne stürmen wie einen Verrückten. Eine wilde Straßenschlägerei ohne Taktik und Verstand. Es regiert die Emotion und der Schmerz wartet hinter dem Schleier von Stolz und Ehre.
Keiner der beiden fühlt Schmerz. Nur dumpfe Momente von Schwindel, wenn das Gehirn im Kopf wie Wackelpudding zittert. Jamal nimmt die Faust, die er erwartet hat, als wäre sie ein Schluck Wasser in der Kurve. Sein Körper dreht sich, doch sein Geist setzt schon zum Gegenangriff an, die Augen gefüllt mit der Wut eines Besessenen. Wut kann helfen andere oder sich selbst zu vernichten. Er rennt in die nächste Faust, die ihn gerade niederstreckt. Jetzt tanzen zu viele Sterne vor Jamals Augen. Auch sein Hass kann dem Körper nicht mehr befehlen aufzustehen. Michaels Brust hebt und senkt sich im Rausch des Kampfes. Er hat noch nicht genug. Die Vorwärtspanik lässt ihn nicht los. Und so tritt er gegen den Schädel des am Boden liegenden. Einmal, zweimal, vor dem dritten Mal leuchtet etwas in seinen Augen. Er holt einen Stuhl aus dem Klassenzimmer. Bevor Michael Jamals Schädel zertrümmern kann, wird er endlich aufgehalten. Das Feuer in den Augen brennt, bis jemand den Schmerz von seiner suchenden Seele nimmt. Sozialarbeiter Schulz hatte ihn gepackt. Ein Mann von 100 kg und fast zwei Metern Größe. Langsam kommt Jamal wieder zu sich. Michael ist immer noch außer sich. Er windet sich, doch kommt von dem starken Griff von Schulz nicht los. „Komm runter jetzt, verdammt! Es reich!“
Er beißt in Schulz Hand. Der Sozialarbeiter brüllt vor Schmerz und lockert für einen kurzen Moment den Griff. Michaels weißer Pulli reißt, er stürzt sich erneut auf Jamal, der sich geistesgegenwärtig zur Seite drehen kann. Die anderen Schüler haben längt eine Traube gebildet. So als würden sie einen Kampf zwischen Tieren beobachten, die den Boden der Zivilisation längst verlassen haben. Das Video geht viral. Michael sieht die Handys im Augenwinkel und fühlt, dass er ein Held sein wird. Blutstropfen graben sich in den weißen Stoff seines Pullis. Abzeichen, Orden seiner Männlichkeit. Im Viereck der Masse verschwindet das Sein. Da er innen leer ist, muss er von außen gefüllt werden. Die Füllung ist süß und verführerisch. Die Versuchung von Mephisto. Aber das ahnt er noch nicht. Um ihn herum wird es immer dunkler und er sieht ein Licht, das ihn erblinden lässt. Er glaubt große Kraft zu haben, aus der große Verantwortung erwächst. In Wirklichkeit ist er ein Gefangener. Ein Gefangener im Krieg stehender Träume.
Jamal will nicht ins Krankenhaus. Er weigert sich. Lieber hätte er weitergekämpft. Männer kämpfen und wenn es das letzte dieser Welt wäre. Seit er geboren ist, hat er gesehen welchen Platz die Geschlechter haben. Diese Ordnung ist in sein Fleisch und Blut übergegangen. Die Ehre eines Mannes definiert sich über Kampf, Kraft und Mut. Jetzt schleicht er wie ein geprügelter Hund nach Hause. Das Adrenalin steckt ihm noch in den Knochen. Sein Auge ist dick und blau, die Wange geschwollen. Sein Vater wird ihn fragen, wie der andere aussieht, ob er gewonnen hat, seinen Mann gestanden ist. Er wird den Gürtel aus seiner Hose lösen, wenn er die Wahrheit erfährt. Jamal ist wütend. Wütend auf sich selbst. Er ist kein Verlierer. Er ist auf dem Weg zu Allah. Allah belohnt die Starken und vernichtet die Schwachen. Während er so in Gedanken verloren ist, kreuzt ein hochgewachsener Mann seinen Weg. Er trägt Glatze und einen schwarz- weiß-roten Kapuzenpulli. Er ballt die Fäuste, die Backen vibrieren. Die Lippe hebt sich in Verachtung vor dem Untermenschen.
„Du dreckiger Kanacke. Was machst du auf meiner deutschen Straße. Du musst gefälligst Zoll bezahlen.“
Jamal schaut ihm in die Augen. Er merkt, dass der Mann einen Dachschaden hat. Menschen mit Dachschaden sind gefährlich. Und Jamal merkt in diesem Moment, dass auch er selbst einen Dachschaden hat. Oder besser gesagt einen im Brechen begriffenen Staudamm. Ein Keller, der mit Gift vollläuft. Chaotische Stimmungswechsel zerrissener Gefühle. Jamal kratzt sich an der geschwollenen Wange, reibt mit dem rechten Zeigefinder sein blaues Auge. Er lässt Speichel in seiner Wange von links nach rechts gleiten. Die Pupillen sind Stein.
„Wir Kanacken haben deine Straße erobert, Alman, bezahle du. Sonst schlitze ich dich auf wie ein dreckiges Schwein, das du bist“, sagt er ruhig, fast schon leise und so sicher, dass es keine Zweifel gibt.
Jamal sammelt noch mehr Speichel in seinem Mund. Er holt ihn aus dem Rachen wie aus einem Waffenlager. Er schnalzt damit herum. Die Glatze ist zuerst überrascht, dann verfinstert sich das Gesicht. Die Augenbrauen fallen nach unten, die Stirn runzelt sich. Es scheint als verdichte sich in seinem kranken Schädel der Größenwahn überlegener Rassephantasien mit Bildern der großen Kriege. Er, ein Krieger, da der Feind, den es zu schlagen gilt. Der Nazi geht einen Schritt weiter auf Jamal zu. Zusammengepresste Lippen, sich weitende Nasenflügel. Kaum merklich hebt sich sein Kinn. Die Augen blicken rasch herum, auf der Suche nach potenziellen Zeugen. Er dreht die linke Schulter ein, als verstecke er etwas. Die rechte Hand fährt in die Hosentasche. Jamals Mund ist voller Speichel. Er hat keine Angst. Volle Speichelbacken.
Der Nazi sieht es und ist bereit ihm die Spucke zurück in den Hals zu prügeln. Beide mustern sich wie lauernde Tiere. Keiner blinzelt. Alles um ihren Kreis herum ist taub, blind und farblos geworden. Kurz vor der Explosion tuckert in Schrittgeschwindigkeit ein Polizeiwagen vorbei. Der Beamte kurbelt die Scheibe runter. „Was ist hier los?“ Keiner reagiert. Erst als der Beamte aus dem Wagen steigt und zwischen die Beiden tritt, erwachen sie aus ihrem Kriegsfilm. Die Kontrahenten trennen sich, wissend, dass der Kampf nur aufgeschoben, nicht aufgehoben ist.


© Copyright J. Renner 2022


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Beschreibung des Autors zu "Labyrinth der Extreme Teil 2"

Zweiter Teil einer Kurzgeschichte zum Thema Radikalisierung.

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