Ich bringe einen schmutzigen Tellerstapel in die Küche und versuche dabei, diesen nicht zu Fall zu bringen. Mit großer Sorgfalt wische ich sie ab und lege die Teller in die Spüle. Meine kleine Schwester kommt in meine Richtung, dreht sich zu den dreckigen Tellern und fängt an, sie zu spülen. Dabei sieht sie mich mit diesem Blick an, der aus¬sagt ‚Du weißt genau, dass ich Küchendienst hasse, hol mich hier raus‘. Doch ich schmunzle nur, drehe mich zu meiner Stiefmutter und warte, bis sie die letzten Verzierungen auf den schön hergerichteten Schüsseln verteilt. Sie nickt, was bedeutet, dass sie fertig sind und ich begebe mich, mit den drei Tellern, zu den Gästen an Tisch acht. Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät mir, dass mich nur noch eine halbe Stunde von mir und meinem Weg zu meinem Studienort trennt. Ich freue mich zwar immer, wenn im Gasthaus meines Vaters viel zu tun ist, was mich weniger freut ist, dass ich meist nur für ein kleines Taschengeld das ganze Wochenende dort verbringen muss. Aber was soll ich tun, meinem Vater etwas ausschlagen könnte ich nie. Dafür ist er ein viel zu guter Vater für mich, wenn er Hilfe braucht, bin ich zur Stelle. Die Chefin, der Bar, in der ich zwei Mal die Woche arbeite, war jedoch weniger begeistert davon, dass ich schon wieder Schichten wechseln musste, um kurzerhand nachhause zu fahren. Ich bringe den Gästen ihre Desserts, stelle mich hinter die Holztheke und warte auf weitere Anweisungen. Mein Vater kommt, in dem Schnellschritt, den er hat, wenn er gestresst ist, hinter die Theke, sieht mich an, wagt einen Blick auf die Uhr und blickt mich wieder an.
„Du kannst schon gehen, sonst verpasst du noch den Bus. Willst du noch etwas zu Essen mitnehmen? Anne hat bestimmt was übrig für dich.“, sagt mein Vater, während er gerade den Wein aus der Schank nimmt.
„Danke, aber ich habe genug Essen zuhause und außerdem, bis ich angekommen bin, ist das Essen bestimmt schon schlecht.“, ich lächle und sehe zu meinem Vater, der aber besseres zu tun hat, als mich anzusehen.
„Ok, wie du meinst, geh deine Sachen packen, dein Bus fährt doch in weniger als einer Stunde.“, er verheimlicht mir irgendwas und ich gehe nirgends hin, bevor er mir nicht sagt, was los ist.
„Was ist los? Braucht ihr noch mehr Hilfe, soll ich noch länger bleiben, ich kann auch einen anderen Bus nehmen, irgendwas ist los, sag schon.“, ich blicke zu ihm, er stellt gerade die voll befüllten Gläser auf das Tablett, dass ich ihm abnehme, bevor er sich darüber beschweren kann.
„Wenn ich wiederkomme, will ich wissen, was los ist. Tisch Nummer neun, oder?“, mein Vater nickt und blickt zu Boden. Irgendwas stimmt schon wieder nicht.
In den letzten beiden Jahren hatte er immer wieder Probleme, sich über Wasser zu halten, mit den paar Leuten, die uns besuchen, er versucht alles, Werbung, Änderung der Speisekarte, Mundpropaganda, Feiern, aber nichts. Seine Frau hat vor ein paar Jahren das Ruder übernommen, was anfangs ziemlich gut geklappt hat, auf einmal gab es einen Ansturm an Gästen, wir wussten überhaupt nicht, wohin mit den ganzen Leuten. Doch seitdem das neue Lokal im Nachbarort eröffnet hat, haben wir die meisten Kunden verloren, nur noch die guten alten Stammleute sind uns treu geblieben, sehr viele sind es jedoch nicht. Die meisten kenne ich bereits, seit ich denken kann, sie sind wie zweite Familie für mich.
Ich trete zurück hinter die Theke, mein Vater sieht mich mit einem ausdruckslosen Gesichtsausdruck an.
„Es läuft wieder nicht so gut, wenn es so weiter geht, glaube ich nicht, dass wir noch ein Jahr schaffen. Obwohl wir durch die geschaltete Anzeige in der Zeitung wieder ein bisschen aufatmen können, gehen die Umsätze immer noch zurück. Ich weiß bald nicht mehr, wo mir der Kopf steht.“, er sieht mich an und sein Blick ist voller… Angst. Ich hasse es ihn so sehen zu müssen, er ist so stolz auf den Familienbetrieb, den sein Urgroßvater eröffnet hat und versucht mit allen Mitteln, das Unternehmen aufrecht zu erhalten. Er tut mir leid.
„Kann ich irgendwas tun? Ich kann versuchen, Werbung zu machen und auf den sozialen Medien Anzeigen schalten.“, sage ich und versuche, ihm ein Lächeln zu schenken. Ich helfe bereits seit ich zwölf bin, mit wo ich kann und greife meinem Vater unter die Arme.
„Nein, du machst nichts. Du fährst wieder in deine Wohnung und machst dein Studium, wir machen das schon, irgendwie klappt das schon, wir brauchen nur ein bisschen Glück…“, er nimmt seine Brieftasche aus seinem Kellner-Gürtel und nimmt einen zwanzig Euro Schein heraus. Ich nehme ihn dankend an, doch sobald er sich umdreht, stecke ich ihn unauffällig in die Kasse. Ich kann kein Geld von ihm annehmen, ich verdiene mein Geld selbst, arbeite für meine Wohnung und das Essen, dass ich brauche und komme halbwegs gut über die Runden, im Gegensatz zu meinem Vater und meinen Schwestern. Im Gasthaus arbeitet nur meine kleine, sechzehn Jahre alte Schwester, deren Mutter die jetzige Frau meines Vaters ist.
Meine andere Schwester, die aus der zweiten Ehe meiner Mutter entstanden ist, ist achtzehn Jahre alt, versucht die Schule fertig zu machen und ist… Mutter. Eines kleinen einjährigen Mädchens, das mein Herz, jedes Mal, wenn ich sie sehe, zum Schmelzen bringt. Ich verurteile meine Schwester nicht dafür, sich so früh, nämlich mit damals sechzehn Jahren, für das Kind entschieden zu haben. Anfangs kamen Zweifel, Geld, Ausbildung, all das spielt eine große Rolle für mich. Doch als ich die kleine Emma zum ersten Mal gesehen habe, war es um mich geschehen. Meine Schwester und ihr Freund haben große Geldsorgen, obwohl er sich als Koch in einem großen Restaurant ziemlich gut schlägt, doch ein kleines Kind braucht halt doch mehr, als sie es anfangs gehofft hatten. Meine Mutter ist ihr keine große Hilfe, sie hat die Entscheidung meiner Schwester bis heute nicht akzeptiert, sie findet sie verantwortungslos und naiv. Und doch schaut sie regelmäßig auf Emma, wenn meine Schwester, Jola, ihre Maturakurse hat und ihr Freund arbeiten muss.
Ich mache mich auf den Weg nach oben, um meine Sachen zu holen und laufe anschließend zum Bus. Pünktlich stehe ich an der Bushaltestelle, schreibe meiner Mitbewohnerin noch eine schnelle Nachricht und steige in den Bus.
Wenn mein Vater wüsste, dass ich heute Abend bereits wieder hinter der Bar in dem Club, in dem ich auch arbeite, stehe, hätte er mich nicht so lange arbeiten lassen. Ich setze mich auf einen der Plätze in den hinteren Reihen, stöpsle meine Kopfhörer ein, lehne den Kopf ans Fenster und schließe kurz die Augen.
Als ich die Augen wieder öffne, bin ich bereits fast am Ziel angekommen und schaue auf mein Handy. Liv, meine beste Freundin und gleichzeitig meine Mitbewohnerin, hat mir geschrieben, sie ist zuhause und wartet auf mich. Ich freue mich auf sie, auch wenn wir uns heute leider nur kurz sehen.
Zehn Minuten später kommt der Bus zum Stillstand und ich steige aus. Ich atme tief ein und gehe in Richtung Straßenbahn. Es sind Gott sei Dank nur drei Stationen, für mehr hätte ich keinen Kopf mehr, ich muss später genug Menschen sehen, mit ihnen reden, sie ansehen und nett lächeln. Als hätte ich das heute nicht schon lange genug getan. Als ich aus der Straßenbahn steige, ist es schon fast dunkel und ich schaue auf die Uhr. Fuck. Der Bus ist an¬scheinend irgendwo länger stehen geblieben, ich bin spät dran. Ich fange an zu laufen, sperre die untere Haustür so schnell es geht auf und Liv empfängt mich mit offenen Armen.
„Keine Zeit, hast du auf die Uhr gesehen? In einer halben Stunde muss ich schon hinter der Bar stehen und mein Gesicht sieht aus, als hätte ich drei Tage nicht geschlafen!“, ich laufe panisch durch die Wohnung und werfe meine Tasche auf mein Bett. Ich krame in meiner Schminktasche und nehme den Concealer heraus, um meine Augenringe zu verdecken.
„Stress dich nicht so, du brauchst, wenn du einen schnellen Schritt drauf hast nur zehn Minuten zum Club. Die kommen doch sowieso e alle immer zu spät.“, sie steht im Tür¬rahmen meines Zimmers und verfolgt meine Bewegungen mit ihren blauen Augen.
„Ich brauch noch was zum Anziehen, kannst du…“, sie unterbricht mich kurzerhand und verschwindet.
„Ja, kann ich.“ Kurze Zeit ist es still, während ich versuche, meine Mascara aufzutragen, ohne komplett durchzudrehen. Liv kommt zurück und reicht mir ein Shirt, eine Hose und einen Cardigan aus ihrem Schrank.
„Danke, ich danke dir so sehr.“ Ich umarme sie kurz und ziehe mich um. Währenddessen packt Liv meine Tasche, ich bin so dankbar, sie zu haben. Ohne sie wäre ich verloren.
„Kommst du mich heute abholen?“, frage ich, während ich die Hose über meine Oberschenkel ziehe, sie ist ja doch ein Stück schmäler als ich.
„Ich weiß noch nicht, ich habe heut noch ein Date“, sagt sie, grinst mich an und kämmt ihren feuerroten Pony.
„Mit wem? Warum erzählst du mir nichts davon? Kenn ich ihn?“, ich sehe sichtlich verwirrt aus, während ich den Cardigan überziehe und mich im Spiegel betrachte.
„Ich glaube du kennst ihn, zumindest vom Sehen, er war das letzte Mal auch im Club, als du früher hinter der Bar raus konntest und wir auf der Tanzfläche waren.“, sie zieht im Gehen ihr Shirt aus und verschwindet in ihrem Zimmer bevor sie weiter spricht. „Er hat mir einen Drink gezahlt und wir haben zusammen getanzt, an dem Abend, wo Finn dich besucht hat. Jetzt weiß ich wen sie meint.
„Ah, du meinst den tätowierten Typen mit dem langen Haar. Aber du bist doch nicht mit ihm nachhause gegangen, als Finn und ich dann weiter in den nächsten Club sind, oder?“, schreie ich verblüfft in ihr Zimmer.
Finn ist mein bester Freund, seit ich denken kann. Er kommt aus meinem Heimatort und unsere Eltern sind seit Jahrzehnten befreundet. Ich war so froh, ihn an dem Abend zu sehen, da er wie ein Verrückter schuftet, um sich endlich den Traum von seiner eigenen Wohnung zu verwirklichen. Seine Eltern sind vor einiger Zeit arbeitslos geworden und seitdem versuchen sie nicht mal ansatzweise, sich einen Job zu suchen. Ich kann verstehen, warum er von da weg will und kann deshalb umso weniger verstehen, wie meine Eltern sich jemals mit ihnen verstehen konnten.
„Nein, aber er hat mich nach meiner Nummer gefragt, und mich um ein Date gebeten, da konnte ich nicht einfach so nein sagen, er schien mir ganz nett zu sein.“, sie kommt zurück in mein Zimmer, in einem Kleid, was etwas zu kurz für meinen Geschmack ist, aber sie kann alles tragen, sie sieht mit ihrer Figur immer umwerfend aus.
Ich wage noch einen letzten Blick in den Spiegel, nehme meine Tasche in die Hand und ziehe meine Schuhe an. Jetzt muss ich aber wirklich los.
„Du musst mir später, oder vielleicht doch erst morgen alles erzählen. Aber ich muss jetzt wirklich los, bitte sperr für mich ab, Schlüssel habe ich mit, falls du mich doch nicht abholen kommst. Bis später.“ Ich hasche aus der Tür und mache sie zu, Liv wirft mir noch einen Luftkuss zu, den ich imaginär fange. Im Laufschritt mache ich mich auf den Weg zur Arbeit, das wird eine lustige Nacht, ich hab jetzt schon keine Lust mehr. Meine Handyuhr zeigt mir an, dass ich noch eine Viertelstunde habe, bis ich fix fertig hinter der Bar stehen soll. Mein Schritt wird noch schneller, hoffentlich vergehen die Stunden schnell und ich kann in mein Bett.


© CMK


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Beschreibung des Autors zu "Zeit mit dir"

Juliette steht im Zwiespalt, einerseits lernt sie zum ersten Mal, wie sich wahre Liebe anfühlt, zum anderen steht ihre Familie kurz vor dem finanziellen Ruin. Sie muss sich entscheiden, ist es die wahre Liebe wert, wenn man dafür seine Familie im Stich lässt?




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