“Das etwa fünf jährige Mädchen wurde von dem »Täter« über mehrere Monate hinweg vergewaltigt und dabei gefilmt sowie fotografiert. Die Aufnahmen wurden von »irgendjemanden« ins Darknet gestellt. »Wer« bleibt im Dunkeln. Bis jetzt ist vom »Täter« keine Spur. Die Polizei fahndet.”, so lauteten die Nachrichten an diesem Morgen auf meinem 'Lieblingsradiosender'. Sie verkündeten das Leid so als wäre es eine Sensation, als ob nicht jede Sekunde irgendwo auf der Welt ein Mädchen vergewaltigt wird. Der Tag konnte nicht mit einer beschisseneren Meldung anfangen. Die anderen starrten auf ihren Bildschirm, so als ob sie nichts gehört hätten. In diesem Augenblick versuchte wohl jeder alleine für sich mit dieser Meldung klar zu kommen. Sophie stand und tippte vor sich hin. Ihre Gedanken galten vermutlich ihrer kleinen Tochter, die in dem selben Alter war. Sie könnte nicht mit so einer Tatsache leben, dachte sie bestimmt. Wenn so etwas ihrem Mausi passieren würde, würde sie sich das nie verzeihen. Georg saß hinter mir, sozusagen Rücken an Rücken. Ihn juckte das vermutlich nicht. Er war in seiner eigenen komplexen Welt gefangen - Minderwertigkeitskomplexe würde ich sagen. Ich konnte es ihm nicht verübeln, ich hatte selbst welche, nicht gerade wenige. Und dann war da noch ich, mit diesem Gefühl der Beobachtung, seelischer Trauer und einer seltsamen Erleichterung im ersten Moment. Ich weiß nicht mehr, was ich dann eine Stunde lang dachte, ich denke ich hab einfach nur gearbeitet. Um 9 Uhr brachten »sie« wieder die gleichen Nachrichten. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich es kannte. Nicht, weil es schon zum zweiten Mal kam und sich seither am Tag stündlich wiederholte. Es war kein Deja-vu. Ein Deja-vu, erklärte uns mal mein Deutschlehrer, ist wenn du an einem Haus vorbei gehst und siehst wie Kinder mit Streichhölzern hantieren. Du nimmst es vielleicht unbewusst wahr, denkst dir nichts dabei und waltest deines Weges. Zwei Wochen darauf liest du in der Zeitung, dass genau dieses Haus niederbrannte und du wirst das Gefühl nicht los, es gewusst zu haben. Du bist dir sicher du hast das schon mal erlebt oder zumindest eine Vorahnung gehabt, dass es passieren wird. Unterbewusst hast du die Verknüpfung zwischen diesen beiden Sachverhalten hergestellt. Das Haus kann ganz anders entflammt sein, doch dein Unterbewusstsein spielt dir einen Streich, so wie vermutlich die Kinder vor dem Haus. In diesem Moment hatte ich ein bislang unbewusstes Gefühl zum ersten Mal richtig wahrgenommen. Es war aber keine unerklärliche Begründung. Ich hatte eher die erleuchtende Erkenntnis. Plötzlich kamen verdrängte Flashbacks hoch, so einen hatte ich seit dreiundzwanzig Jahren in dieser Form noch nie. Es war die Gewissheit, das alles schon mal durchlebt zu haben. Ich wusste wie sich das Mädchen fühlte. Ich wusste plötzlich wieso ich mich eine zeitlang so beobachtet fühlte. Wieso ich es vor einem Jahr noch so hasste, wenn Leute mir eine Kamera vor das Gesicht hielten. Vor jeder Kamera zurücktrat, wenn ich mich schlecht fühlte. Ein Vulkan an Gedanken brodelte in mir und die Flut brach aus und nahm ihren Lauf. So viele unerklärliche Fragen waren nun offensichtlich beantwortet. Es war überhaupt kein schlechtes Gefühl, keine Schuldgefühle, keine Enttäuschung, keine Betrübtheit. Es war die wahre Sicht auf die Vergangenheit, die reine Bewusstheit, welche so lange unterbewusst schlummerte. Und das Radio weckte sie auf, wie jeden morgen - nur diesmal anders. Es kamen so viele Emotionen hoch, das ich gar nicht wusste wohin damit. Ich war dieses fünfjährige Mädchen. Ich sah wie »Tobias« vor seinem PC in seinem schmalen dunklen Zimmer sitze. Es müffelte nach alter Wäsche, obwohl es recht aufgeräumt aussah. Die Familie »Müller« hatte es gekonnt den Schein nach außen hin zu wahren. Die perfekte kleine Familie, nur halt ein bisschen behindert. Die Schattenseite konnten nur feinfühlige Menschen spüren. Ich konnte nun beides. Ich hatte gelernt wie falsche Tatsachen und dessen Schein wahrt. Und dennoch ein Grund ist, weshalb er gewahrt werden muss. Wie man etwas totschweigt und sich dann innerlich tot fühlt, um am Leben zu bleiben. Durchweg negative Verhaltensweisen, die man positiv auslegen konnte. Ein Überlebensinstinkt, der in jedem Menschen innewohnt, den man niemanden wünscht und schon gar nicht beiwohnen will. Bis man lernt, das ganze zu verdrängen. In kleine Schubladen zu packen, diese in noch kleinere Schubladen zu packen und so weiter. Eine Babuschka aus unangenehmen Erlebnissen. Die erste Babuschka war hiermit geöffnet. Nun wollte ich auch sehen, was in den anderen enthalten war. Leere macht sich breit. Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie »er« vor seinem PC hockt und irgendwelche zwielichtigen Seiten ansieht. Irgendwas zwischen Pornographie und widerwärtigen Inhalte, jedenfalls wider aller menschlichen Werte. Irgendwas zwischen Badezimmerangst und Schlafzimmerphantasie. Manche Erlebnisse kann man nicht vergessen, egal wie stark der Überlebensinstinkt auch ist. Man lernt mit ihnen umzugehen, sie zu kontrollieren und dennoch kann man sich nicht sicher sein, ob man alles unter Kontrolle hat. Ich weiß gar nicht mehr wie er genau aussah. Nach alldem frage ich mich, ob er meinem jetzigen »Beuteschema« entspricht. Ob die Männer, die für mich gut aussehen, ihm ähnlich sehen oder sie das komplette Gegenteil sind. Ob ich einen Hang zur Schauspielerei habe, weil mein ganzes Leben an sich ein Schauspiel war und noch immer ist. Ob ich die Entscheidungen, die ich heute treffe, aufgrund meiner frühkindlichen Erlebnisse getroffenen habe - Freud würde diese Introspektion wohl befürworten. Ob ich Schriftstellerin werden möchte, damit ich meine Geschichte erzählen kann. Ob ich deshalb gern schreibe, weil meine Stimme verstummte und ich »diese« Gedanken nicht aussprechen kann. Der einzige Weg das zu tun, ist mich schlecht zu fühlen. Oft fragte ich mich, ob dieses Paradoxon irgendeinen Sinn ergibt, für irgendjemanden, außer mir selbst. Sich überwiegend schlecht fühlen, um ein paar Stunden, das zu tun, was man liebt. Ein Künstler wider Willen. Ob das wohl mein Naturell ist oder ich so »geworden« bin. Es macht keinen Sinn mit jemanden darüber zu reden. Oder mach ich es jetzt doch?


© Nonchalance


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Beschreibung des Autors zu "Geständnis eines Opfers"

Ein kleiner Auszug aus meinem psychologischen Roman. Es geht um ein Mädchen, welches vergewaltigt wurde und die Erlebnisse seither verdrängt hat. Sie konnte gut damit leben, weil sie sich nicht mehr erinnern konnte. Doch das Unterbewusstsein spielt ihr immer wieder Streiche, die sie zwingen, sich an die Erlebnisse zu erinnern.

Freue mich auf euer Feedback!




Kommentare zu "Geständnis eines Opfers"

Re: Geständnis eines Opfers

Autor: Nonchalance   Datum: 08.09.2018 9:06 Uhr

Kommentar: @devatomm

Danke für deinen Kommentar. Ich denke, dass man die Welt beeinflussen kann. Ob gut oder schlecht ist jedem selbst überlassen. Man kann auch in allem Guten etwas Schlechtes sehen und umgekehrt. Wie du bereits gesagt hast: Die Welt ist so wie man denkt, dass sie ist. Dann doch lieber mit guten Gedanken durch den Tag gehen und gute Taten vollbringen.

Ich denke nicht, dass das Gegenstück zu Nachrichten konsumieren, die Ohnmacht ist. Vielmehr ist die Ohnmacht schon das Nachrichten schauen an sich, wenn du dir ansiehst, was die Nachrichten mit den Menschen machen. Dann doch lieber Bücher lesen und Hintergrundwissen aneignen und ein Stück zur Aufklärung beitragen. Aktiv dazu beitragen, dass die Welt besser wird und ein gesellschaftlicher Wandel stattfindet.

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