„Sehen wir uns Morgen?“
„Aber natürlich.“
„Gut, bis dann!“
Wir umarmen uns und sie steigt in den Bus. Ihr roter Mantel und ihre schwarzen Haare verschwinden aus meinem Blickfeld. Ich sehe ihnen nach, als sie gemeinsam hinter der Bäckerei verschwinden. Ich setze meine Kopfhörer auf und drehe die Lautstärke auf.
Bis morgen will ich nichts mehr von der Welt hören. Ich sollte mir in der Bäckerei noch ein Brötchen kaufen. Aber ich muss abnehmen. Also drehe ich mich um und gehe den gleichen Weg zurück, den ich gerade gekommen war. Er kommt mir vertraut vor, obwohl ich noch nie zuvor in dieser Gegend war. Seltsam, wie ähnlich sich so verschiedene Städte sind. Sie sind so grau und voller Einsamkeit, auch wenn es in den Prospekten immer ganz anders wirkt. Deswegen war ich hergekommen. Weil ich etwas Neues haben wollte.
Naja, man bekommt eben nicht alles, was man will.

Die Tür fällt hinter mir ins Schloss und ich atme durch. Das ist erledigt. Ich gehe in die Küche. Dort lege ich den Rucksack auf den Stuhl und öffne das Fenster. Hier ist die schönste Fensterbank. Ich hole das kleine blaue Kästchen und mein Feuerzeug. Als die Familie aus der Wohnung neben mir mit den Kindern vom Spielplatz kommt, sitze ich über ihnen mit der Post auf der Fensterbank. Der Vater verzieht das Gesicht, als er den Geruch bemerkt. Netter erster Eindruck.
Ich habe mich schon einmal mit seiner Frau unterhalten. Am ersten Tag hier. Sie stellte sich als Ein-Mann-Begrüßungskomitee vor meine Tür, weil sie gehört hätte, dass an dem Tag jemand neues einziehen sollte. Ich habe bis heute nicht verstanden, warum sie nicht in der Wohnung gewartet hatte, bis sie Geräusche aus dem Flur hörte und dann einfach geklingelt hätte. Doch jetzt verstand ich sie. Mit dem Kerl wäre ich auch nicht länger als nötig in einem Raum.
Scheiß auf den ersten Eindruck.
Schon fliegt ihm der Rest meiner Kippe in die fettigen Haare.
Der Sohn findet es immerhin lustig.
Bis die Ohrfeige kommt.
Das schallende Platschen der wulstigen Hand auf der zarten jungen Haut schallt durch den Hof, an den Wänden entlang und in Richtung Himmel. „Na los, Gott! Das ist jetzt Dein Job! Mach wenigstens einmal das, was man von dir erwartet!“
Ich warte. Es passiert nichts. Keine Engel, keine Kreuzritter und auch kein Blitz. Nichts, das den Jungen von diesem miesen Mistkerl befreite. War ja klar. Als ein leises Schluchzen an meine Ohren kriecht, schließe ich das Fenster.
Ich verstaue das Kästchen wieder im Rucksack und gehe ins Bad. Mein Spiegelbild empfängt mich mit einem vorwurfsvollen Blick. Ich sehe es an und verdrehe die Augen. Es zieht eine Augenbraue hoch.
„Was hätte ich denn tun sollen?“, frage ich genervt.
Doch es schau nur ebenso fragend zurück.
„Tolle Hilfe.“, murmele ich durch den Stoff meines Shirts, als ich mich ausziehe.
„Unsere Gespräche machen echt nicht mehr so viel Spaß wie früher.“
Die Hose fliehgt auf das Shirt in die Ecke.
„Manchmal vermisse ich das echt.“
Schweigen.
„Zum Beispiel jetzt.“
Mitleidiger Blick.
„Habe ich schon mal erwähnt, dass du echt eine tolle Hilfe bist?“
Keine Reaktion.
„Ich könnte die Medikamente absetzen.“
Schweigen.
„Hast ja Recht.“
Nichts.
„Nettes Gespräch. Nicht so gut, wie die vor der Therapie, aber trotzdem nett.“
Ein kleines Lächeln? Nein, doch nicht.
„Hast mir grade echt geholfen. Danke für den Rat.“
Ich hoffte schon lange nicht mehr auf eine Reaktion und wende mich ab.
Ich ziehe den Vorhang zu und stelle das Wasser an. Es ist immer noch eisig. Aber es geht nicht anders. Der Staub verschwindet mit dem andern Dreck des Tages im Abguss und hinterlässt keine Grußkarte. Ich sage ihm nicht auf wiedersehen. Das darf ich nicht mehr tun. Auch, wenn Doktor Hansen ungefähr 150 Kilometer von mir entfernt ist, hatte er doch gesagt, dass die Therapie für mich sei und ich mich auch an seine Vorgaben halten müsste, wenn es besser werden sollte.
Also sage ich ihnen nichts, als sie sich den Wasserfall zu meinen Füßen hinunterstürzen und sich in die unheimlichen Tiefen der Kanalisation aufmachen.
Genauso, wie ich nichts zu dem Mann gesagt hatte. Oder dem Jungen. Im Nachhinein kam mir das wirklich bescheuert und egoistisch vor.
Egoistisch. Selbstbezogen. Unehrlich. Ich war schon immer so gewesen. Ich hatte versucht, es meiner Familie zu erklären, aber ich hatte keinen Ton rausbekommen. Ich wollte sie nicht verletzen. Das ist auch egoistisch, denn, wenn sie verletzt sind, lassen sie es immer an mir aus. Auch, wenn sie die Wahrheit verdienen, sage ich es ihnen nicht.
„Ich bin ein schlechter Mensch.“, sage ich zu mir.
„Ich bin ein schlechter Mensch.“, geht es durch meinen Kopf.
Ich lehne mich an die Wand, sinke an ihr herab auf den Boden.
Die kalten Fliesen reiben sich an meinem Rücken. Die kalten Tropfen hageln auf meinen Kopf, meine Arme, meine Schultern, meine Knie.
Ich komme nach einer Ewigkeit am Boden an und kralle mich mit den Fingern am Boden fest. Das Wasser rinnt durch sie hindurch und die Plastikwanne ergreift meine Hände nicht. Ich bohre meine Nägel in die Innenflächen und schlage mit dem Kopf gegen die Wand.
„Ich bin ein schlechter Mensch.“
Ich schlage gegen die Wand.
„Ich bin ein schlechter Mensch.“
Nocheinmal
„Ich bin ein schlechter Mensch.“
Fester.
„Ich bin ein schlechter Mensch.“
Der Schmerz nimmt mich auf.
„Ich bin ein schlechter Mensch.“
Ich will mehr.
„Ich bin ein schlechter Mensch.“
Ich brauche mehr.
„Ich bin ein schlechter Mensch.“
Härter.
„Ich bin ein schlechter Mensch.“
Mir tanzen kleine Punkte vor den Augen.
„Ich bin ein schlechter Mensch.“
Alles dröhnt und brennt, ist eisig gefroren.
„Ich bin ein schlechter Mensch.“
Mein Gesichtsfeld wird schwarz umrahmt.
„Du bist ein schlechter Mensch.“
Ich schlage noch einmal zu und es wird schwarz.

Als ich aufwache, liege ich in meiner Dusche und spüre meinen Körper nicht mehr. Der Duschkopf bespuckt mich mit Eis, aber ich spüre es nicht. In meinem Kopf klingelt es. Ich fühle mich benebelt. Alles ist stumpf und taub.
Das Klingeln hört auf, setzt wieder ein und hört wieder kurz auf. Mal was Neues.
Ich strecke meinen Arm aus und versuche, mich auf ihn zu stützen. Er knickt unter mir weg und ich stoße mir die Stirn am Boden.
Dumpf dröhnend rollt eine schmerzhafte Warnung an. Das Wasser färbt sich rot. Ich kann nicht verarbeiten, was das bedeutet. Aber jetzt ist meine Koordination etwas zuverlässiger und ich bekomme irgendwie meine Knie unter mich. Der Hahn spuckt mir noch immer dass eiskalte Nass auf Nacken, Schultern, Rücken.
Ich greife nach dem Duschvorhang, versuche ihn beiseite zu ziehen. Das Klingeln verschwindet.
Ich schaffe es, einen Arm zum Hahn zu bewegen und der Wasserfall versiegt. Ich ziehe mich weiter am Vorhang hoch und sehe den schwierigsten Teil auf mich zukommen. Ich muss ein Bein vom Boden anheben und auf dem anderen stehen, um aus der Dusche zu entkommen. Ist nicht einfach, aber irgendwie schaffe ich es.
Ich sinke auf den kleinen roten Duschvorleger. Mein ganzer Körper zittert. Ich rolle mich zusammen und der Schmerz kommt jetzt deutlich stechender.
Ich liege einige Zeit einfach nur da und weine. Ich begreife, dass ich eine Platzwunde habe. Ich weine über meine Erbärmlichkeit. Die Tränen sind warm. Sie kitzeln meine Haut. Das Blut ist auch warm. Aber es kitzelt nicht. Das macht mich glücklicher.
Langsam versuche ich, mich wieder aufzurichten. Dieses Mal klappt es deutlich besser als zuvor. Ich stehe bald und schwanke durch den Raum auf den Bademantel zu. Ich stütze mich an allem ab, was in Reichweite kommt. Als ich mich noch immer zitternd in ihn kuschel, klingelt es wieder. Es ist das Telefon.
Ich will meine Socken suchen, weil meine Füße kein Stück wärmer geworden sind. Als ich mich zu dem Haufen Stoff in der Ecke hinunterbeugen will, rebelliert mein Kopf. Also gehe ich barfuß.
Ich spüre den Teppich nicht. Ich stütze mich an der Wand ab, aber auch die fühlt sich nach nichts an. Ich kuschel mich fester in den Bademantel. Dann atme ich durch und versuche, das Zittern zu unterdrücken. Ich wische mir über die Wangen und halte mit der einen Hand das Handtuch an meine Stirn, als ich mit der anderen nach dem Hörer greife.
„Hallo.“
Mir ist nichts besseres eingefallen.
„Oh mein Gott! Bist Du es?“, Diese Stimme.
Ich bekomme keinen Ton raus.
„Hallo? Sag was!“
Ich habe einen Kloß im Hals.
„Ich höre Dich atmen.“, quäkt es aus dem Lautsprecher.
„Ich... Ehm“, Ich räuspere mich.
„Hey. Was ist los? Weinst du?“
„Was? Nein, wieso? Alles bestens. Ich... Also... Es ist nur...“
„Ist alles ok?“
„Ich... Ja. Hab ich doch gerade gesagt. Es geht mir gut. Es ist nur... Ich mein... Ich hab nur... Deine Stimme...“
„Oh.“
Betretenes Schweigen auf beiden Seiten der Leitung.
Ich nehme das Handtuch herunter und es fließt kein Blut mehr nach. Ist wohl halb so schlimm.
Ich höre Rauschen. Dann ein Räuspern.
Ich muss lächeln. „Es ist schön.“
Erleichtertes Aufatmen. „Danke! Ich bin sehr froh, dass du das so siehst.“
„Ich vermisse dich.“
„Hm. Tut mir leid, wie das damals alles geendet hat. Ich hätte nicht einfach abhauen dürfen.“
„Nein. Es war meine Schuld.“
„Du hattest damit gar nichts zu tun, es ist meine Schuld. Ich musste einfach da raus. Es tut mir leid, ich... Ich hätte was sagen sollen.“
„Ich verstehe Dich. Ich bin auch weggegangen.“
„Ja, habe ich von gehört. Ibiza. Oder war das nicht Hawaii?“
„Österreich.“
„Stimmt. Meinte ich doch!“
Sie lachte. Wie ich das vermisst habe. Ich lächelte. Ich ging zu der Heizung und setzte mich davor auf ein Kissen. Das Kissen war das erste, was ich nach dem Einzug ausgepackt hatte.
„Aber du hast doch nicht nur angerufen, um nach meinem Urlaub zu fragen, oder?“
Ich lehne mich mit dem Rü¬¬cken an das warme Metall und lege den Kopf in den Nacken.
„Nein, du hast Recht.“
Sie scheint auf eine Antwort zu warten, aber ich schweige.
„Es geht um Mama.“
Ich erinnerte mich, dass ihr Zustand vor einer Woche miserabel gewesen war. Sie hatte mich mit ihrem Hochzeitsgeschirr beworfen und mich angeschrien. Kurz darauf hatte sie wieder mit leerem Blick aus dem Fenster gestarrt und meinen Vater und mich nicht mehr wahrgenommen. Das war eigentlich schon zur Routine geworden, aber an dem Tag hatte sie die falschen Medikamente genommen. Die Demenz setzte ein. Ihr Arzt hatte uns darauf vorbereitet, aber es war dennoch schrecklich mit anzusehen. Am nächsten Tag erkannte sie mich nicht mehr und schrie uns an, wir sollten aus ihrer Wohnung verschwinden und sie würde die Polizei rufen. Ich habe ihr den Gefallen getan. Ich bin gegangen. Es gab keinen Streit zwischen meinem Vater und mir. Er war nur dankbar, dass ich es so lange ausgehalten hatte. Dann hat er mir Geld angeboten, aber ich hatte mir schon lange etwas angespart. Wir waren zum ersten Mal seit Jahren in Frieden auseinander gegangen. Aber ich werde nie wieder zurückgehen. Das habe ich mir versprochen.
Ich bin noch immer besorgt. „Was ist passiert?“
„Sie… Sie hat ihre Medikamente abgesetzt.“
Es fällt ihr offensichtlich schwer, darüber zu reden. Es ist etwas Schlimmes. Aber ich schweige. Und hasse mich dafür.
„Zwei Polizisten haben sie heute Morgen gefunden.“
Ich atme aus. Ich will lachen. Ich will weinen. Ich will schreien. Ich will irgendetwas fühlen, aber da ist nur Leere. Ich will sie fragen, wie sie damit klarkommt, wie sie sich fühlt. Ich will zu ihr, sie in meine Arme schließen und nie wieder loslassen. Ich will ihr sagen, wieviel es mir bedeutet, endlich Gewissheit zu haben, will fragen, ob sie mit unserem Vater gesprochen hat. Wie er es verkraftet. Doch stattdessen bekomme ich nur ein Wort heraus: „Wie?“
„Tot.“
Das war mir klar. Sie ging nie raus. Der Therapeut ist immer zu uns gekommen. Jeden Freitagvormittag. Früher war sie noch hingegangen, aber das hatte sich mit der Zeit geändert. Der Arzt hatte eigentlich nicht kommen wollen, aber mein Vater hatte das geregelt.
Auf jeden Fall muss es ihr wirklich wichtig gewesen sein, wenn sie alleine auch nur in das Treppenhaus gegangen war.
„Sie wurde unter den großen Brücken am Flussufer gefunden.“
„Das…“, Meine Stimme versagt. Ich will so vieles tun und sagen, aber ich bekomme keinen vernünftigen Satz heraus.
„Ich weiß, dass das für dich sicher ein Schock ist, aber…“
„Nein.“, Das fasst meine Gedanken in einem Wort zusammen.
Sie seufzt. Es raschelt und ich höre, wie sie mit gedämpfter Stimme mit jemandem redet. Wahrscheinlich hat sie einen neuen Freund. Natürlich, alle Männer streiten sich um sie. Sie ist wundervoll. Wir sind uns in keinem Punkt ähnlich.
Ich höre eine ebenfalls gedämpfte tiefe, raue Stimme, aber ich verstehe nicht, was sie sagt. Es raschelt wieder und meine Lieblingsstimme sagt: „Sie hat dir etwas hier gelassen. Uns allen. Und wir müssen uns um einiges kümmern, das schaffe ich nicht alleine.“
„Ok. Wann?“ Ich war nie gut mit Worten. Aber jetzt komme ich mir wirklich bescheuert vor.
„Wir dachten an morgen. Dann können wir alles besprechen. Von Angesicht zu Angesicht. Nicht am Telefon.“
Wer ist „wir“? Ist das mit ihrem Neuen etwas Ernstes?
Ich lege meinen Kopf auf die linke Schulter und spüre meinen Nacken knacken. Das gleiche geschieht mit der rechten Schulter. Ich denke an ihren roten Mantel und ihre schwarzen Locken. An ihr Gesicht, ihre Hände. An ihre Knöchel und ihre Schultern. Wir wollen uns morgen sehen. Mein Körper kribbelt. Ich bin ein Ameisenhaufen, ein Bienenschwarm…
„Ich bin dabei.“


© Arimen


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