Leseproben zum Buch
?In die Stille gerettet?
Von Harry Popow
Es ist einer jener Tage im frühlingshaften März, von denen man sich wünscht,
sie mögen andauern, in diesem Zustand der heiteren Gelassenheit, so würzig die
Luft, so schwerelos die menschliche Seele, so eins kann sie sein mit der Natur,
so ausgeglichen und glücklich darf man sich fühlen. Da sitzt er nun, ein in die
Jahre gekommener grauhaariger Mann, auf der Terrasse am kleinen
schwedischen Holzhäuschen, über ihm der unendlich kobaltblaue Himmel.
Weiße Schwäne ziehen in langer Kette mit gleichmäßigem Flügelschlag zu den
stillen Seen in den weiten nordischen Wäldern. Noch sind die Baumäste kahl,
doch dicht am Haus haben sich bereits Schneeglöckchen und Krokusse
eingefunden, verpackt in einem Erdboden, der des Nachts noch in Eiseskälte
erstarren wird. In den Niederungen liegen die Sümpfe noch unter brüchigem Eis.
Irgendwo bellt ein Hund, eine Kreissäge kreischt. Der Träumer in ihm ist nicht
totzukriegen.
Plötzlich ein Beben, dann ein Grollen, ein Donner, der über die Wälder kommt.
Das Eis des Orrefors-Sees bricht auf mit lautem Getöse, gleich starken
Explosionen. Diese Geräusche ? da sind sie wieder, die Bilder von einst, sie
drängen sich mitunter hinter seine Stirn: Er jagt als Ausbilder junge Männer
über das Übungsfeld. Jahre danach greift er zum Kugelschreiber und schreibt
über jene, wie sie sich plagen, wie sie das Notwendige meistern lernen. Ja, er hat
als Offizier und Militärjournalist in der Nationalen Volksarmee zweiunddreißg
Jahre mitgewirkt an einer Alternative zum Krieg, an einem Entwurf für ein
großartiges Gesellschaftsgemälde. Darauf ist der einstige Oberstleutnant stolz.
Nicht aber darauf, daß man im kleinen Land mit der Zeit vieles vermasselt hatte.
Eine ganze geschichtliche Periode, ein Startversuch in ein menschenwürdigeres
Dasein ist durch Unvermögen abgestürzt. Auf absehbare Zeit unwiderruflich.
Verspielte Chancen! Und was dann kam ...
Nun aber aalt er sich in der Vormittagsstunde auf der Sonnenbank, freut sich
darauf, mit Cleo, seiner Frau, auch heute wieder kilometerweit zu wandern, hin
und wieder zu schreiben an seinen Tagebuchnotizen oder zu malen. An
wärmeren Tagen wird er seine Staffelei in den Garten stellen, Farben und Pinsel
bereit legen. Ja, er hat wieder Lust, seinem späten Hobby nachzugehen. Ihm
schwebt ein Ölgemälde vor, mit roten Rosen, Tulpen, Dahlien, Gladiolen,
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Kapuzinerkresse. Er sieht sie schon vor sich, die sommerlichen Farbtupfer im
Garten, und mittendrin das schwedische Holzhaus. Ja, das will er malen ...
Das kleine Schwedenhaus
Es ist bei weitem kein repräsentatives Traumhaus, in dem Cleo und Henry seit
1996 leben, eher ein bescheidenes, aber sehr schmuckes kleines Holzhäusel mit
vier Zimmern. Ausreichend für sie, ihre tollen Kinder und Enkel, die, so oft es
geht, gern zu Besuch kommen. Das Grundstück umfaßt einen 900 Quadratmeter
großen Garten, bewachsen mit riesigen Haselnußhecken, drei imposanten
Wacholdern und einer gewaltigen, etwas altersschwachen Birke. Das Haus hat ?
ganz schwedentypisch - zwei Eingänge, um in strengen Wintern bei
Schneeverwehungen zwei Notausgänge zu haben. Im Wohnzimmer steht ein
antiker weißer Porzellankachelofen, der bis zur Decke reicht. Dieser ist auch als
Kamin nutzbar. Geheizt wird nur mit Holz, das es ja in Schweden zur Genüge
gibt. Ein Durchgang führt zum Eßzimmer. Vom runden Tisch aus hat man nach
allen Seiten einen herrlichen Blick in den am Grundstück angrenzenden Wald.
Steigt man die Holztreppe hinauf, findet man zwei Zimmer mit schrägen
Wänden, das Schlafzimmer in Hellblau mit weißen antiken schwedischen
Möbeln, das Gästezimmer ganz in Rosé. Ein Schmuckstück auch das voll
geflieste Bad mit Holzdecke und romantischen Badraummöbeln im gleichen
Dekor. Außergewöhnlich schön ist die Herbstzeit. Dann liegt oft ein wenig
Schwermut über dem stillen Ort Gadderos (im Glasreich Smaland gelegen) mit
seinen roten, gelben oder braun-weißen Holzhäusern. Am frühen Nachmittag
kriecht langsam aus den Wäldern die Dunkelheit hervor und hinter den Fenstern
leuchten die Schwibbögen.
Bei der Aufzählung des Schönen nicht zu vergessen - die kilometerlangen
Wanderungen, die Gartenarbeit, das Einkaufen in der Kreisstadt Nybro, das
Schwimmen, das Schreiben, Malen und Lesen. Einer der wichtigsten Gründe
fürs Wohlfühlen in der Ferne ? das sind die liebenswürdigen und sehr
gastfreundlichen Schweden. Man trifft sich zur traditionellen Fahrradtour zu
Himmelfahrt, zum Mittsommer, zu den legendären Musiktagen im Glasreich,
zum Herbstfest mit Tanz, zu Heiligabend und in der Silvesternacht. Und wenn
man sich sieht ? dann gibt es Umarmungen: ?He Cleo, he Henry!? Und die
beiden sagen ebenfalls: ?He, he, hyr mo dy?? (Wie geht es dir?) So haben beide
eine unbeschwerte sehr glückliche Herbstzeit des Lebens - in den stillen
Wäldern des Nordens, bei Luft wie Seide, klaren Seen, wuchtigen Felsbrocken
und weitem Himmel. Mit einem Wort: Cleo und Henry sind ?auf den Elch
gekommen?.
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In der Stille, in die sie sich gerettet haben, ist Langeweile ein Fremdwort.
Henrys Geburtstag zum Beispiel. Auf dem Vertiko im Wohnzimmer lachen ihn
einige mit Sorgfalt ausgesuchte Dinge an. Auch eine ?Rügenwalder? Wurst, die
er so gerne ißt und die es in Schweden nicht gibt. Cleo lacht ihn an, holt wenig
später aus irgendeiner Ecke ihres erstaunlichen Gedächtnisses Verse aus
Goethes Faust Teil II hervor, tanzt nach einer CD den Bolero (Ravel). Sie sprüht
vor Energie: Er sieht ihre Augen, schön wie eh und je, ihr gestenreiches
Artikulieren, das Temperament, da kommt was rüber, da geht die Post ab. Er
kann seinen Blick nicht von ihr lassen. Sie: ?Was guckst du mich so an?? Da
fällt ihm ein Vergleich ein: ?Du hast eine Ausstrahlung auf mich ? stärker als
der Sonnenwind!? Ehrlich, er weiß nicht, wie ein Sonnenwind auf ihn wirkt,
aber Cleo lächelt. Das gefällt ihr, sagt sie. Dann spielt sie ?Lucia" auf der Orgel,
schimpft ihn Gewalttäter, weil er zu kräftig mit der Klappe eine Fliege tötet.
Auch singt sie im schwedischen ?Klamottenwald? (Steine über Steine)
Volkslieder, die sie schon mit vier Jahren im Luftschutzkeller sang aus Angst
vor den Bomben.
Cleo ? mit ihr ist jeder Tag ein Gewinn. Eine Frau mit Format: Schönheit, innere
und äußere, gepaart mit Klugheit, ja, Scharfsinn, einem Urteilsvermögen in allen
Lebenslagen, das Hellseherei vermuten läßt, also etwas sehen können, ohne
suchen zu müssen. Dazu ein Rechtsgefühl und viel einfühlsame Menschlichkeit.
Auch eine Selbstlosigkeit, die an Selbstaufopferung grenzt. Für die anderen da
sein, ohne jemals nach Gegenleistungen zu fragen, das grenzt schon an ein
Wunder. Cleo, Cleopatra ? so wurde sie in ihrer Jugend von Gleichaltrigen
genannt. Dabei waren und sind ihr Machtgier, Egoismus, übertriebener Ehrgeiz,
Neid oder gar ?Statusdenken? ein Leben lang Fremdwörter geblieben. Und ? sie
läßt sich niemals gängeln, was sie zu denken und zu tun hat. Von wegen im
politischen Gleichschritt mit ihrem Mann marschieren? So manche Versuche
von durchaus klugen Leuten scheiterten, sie parteilich zu binden. Fehlanzeige.
Sie wollte sich von keinem Statut etwas vorschreiben lassen. Sie ist halt ein oft
rätselhaftes Phänomen. Sie hätte einen Prominenten an ihrer Seite verdient ...
Nun aber hat sie den Henry. Ein lebenslanges Rätsel: Warum ihn? Hat er sie
verdient? Diese Frage geht ihm manchmal durch den Kopf. Wie wurde er ihr
gerecht in ihrem über vierzigjährigen Zusammensein? Hat sie ihn nur geduldet,
etwa der Kinder wegen? Nein. Auch die wären für sie kein Bindungsgrund
geblieben, wäre da nicht mehr, viel mehr! Es ist ihm, als hätte sich sein
Lebensweg schon in jungen Jahren nur auf einen Punkt hin bewegt: Nämlich
SIE zu finden und mit IHR zu gehen, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Aber, aber ? sie
ist im Sternbild Widder geboren, er ist Schütze! Auch deshalb geht das gut,
obwohl keiner von beiden abergläubisch ist. Das Leben hat es bewiesen.
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Grillen im Schnee
Der letzte Tag des alten Jahrtausend. Millenium! Zwei Brote gebacken. Die
zwei unteren Zimmer geschmückt. Cleo hat gesungen. Wir tanzten. Gesaugt.
Zwei zusätzliche Tische für das ?kalte Büfett? aufgestellt. Post vom Briefkasten
geholt. Unsere schwedischen Nachbarn Tomas, Diana und deren Töchterchen
Anna, zweieinhalb Jahre, sowie die aus Schwaben stammenden Rosi und Hans
eingeladen. Auch unsere deutschen Bekannten Inka und Lutz und ihre zwei fast
schon erwachsenen Kinder sind eingetroffen. Haben 50 Thüringer Bratwürste
extra aus Deutschland mitgebracht. Grillen im Schnee ist angesagt. Eine Ecke
vom Parkplatz freigeschaufelt. Dort stehen ein Grillgerät und ein Scheinwerfer.
Professionell, wie Lutz staunt. Wodkaflasche steht daneben. Es bruzelt. Der
Duft steigt der vorübergehenden Hanna in die Nase. Sie kriegt eine ?Thüringer?
ab. Drinnen am Tisch eine fröhliche Runde. Sie läßt es sich schmecken. Musik
von der Flu-Orgel und vom Band. Der Tanz beginnt. Jeder mit jedem.
Dazwischen die eineinhalbjährige Tochter Anna von Diana und Tomas.
Polonaise durchs ganze Haus. Eine total durchgeknallte Gesellschaft.
23.30 Uhr: Alle Gadderoser, viele Einwohner der umliegenden Ortschaften und
Gehöfte sowie unsere ?Meute? finden sich auf dem Festplatz ein. Das war noch
nie da ? ein riesengroßes Zelt. Drinnen Tische, auf denen die schwedische
Smörgostorta, Kaffee und Sekt aufgebaut sind. Harald kann perfekt schwedisch.
Hat es als Kind schon gelernt. Er spricht zu den Gadderosern. Bedankt sich auch
im Namen der anderen hier ansässigen Deutschen für gute Nachbarschaft und
Gastfreundschaft. Verweist auf den von ihnen spendierten deutschen Sekt. Gut
gemacht, Harald. Der Vorsitzende des ?Samhälningsveren?
(Zusammenhaltungsverein) hält eine Rede. Sie ist kurz. Alle schauen auf die
Uhr. Der Zeiger steht fast schon auf der 24. Erste Leuchtraketen. Sie lassen den
sonst so dunklen Himmel über dem kleinen verschlafenen Ort hell erleuchten.
Den ?Baron? (so wird er liebevoll genannt wegen seiner imposanten
Erscheinung) stört das nicht. Seine Schlußworte gehen unter in den
gegenseitigen Glückwunschrufen, dem allgemeinen Jubel, den
freundschaftlichen Umarmungen. Stunden danach: Gegen 5.45 Uhr sinken Cleo
und ich im Wohnzimmer auf die extra breite Luftmatratze, denn oben im
Schlafzimmer nächtigen unsere Gäste. Inkas Kommentar: ?Unsere lieben
Gastgeber, die netten, schlafen auf dem Fußboden und wir in ihren Betten ...?
Wenigstens den Abwasch haben wir an diesem Morgen noch gemeistert.
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Großer Bahnhof
Ann-Christins 50. Geburtstag im November des Jahres 2000. Ein kulturelles
Erlebnis für uns. Erste Überraschung: Die meisten Leute von den insgesamt über
60 Gratulanten trugen tatsächlich schwarzweiß, wie auf der Einladung stand.
Vor dem Haus parkende Autos, ein Zelt für das kalte und warme Büfett,
Kerzenlicht im leichten Wind. Bier und Wein, eine strahlende, sehr souverän
wirkende Jubilarin. Stehtische im Wohnzimmer, lockere Gespräche, man ging
aufeinander zu, schneller Kontakt zwischen allen Leuten. Später Chorgesang in
der Küche und im Wohnzimmer für Ann-Christin. Plötzlich sehe ich Cleo am
Klavier. Sie spielt Lucia, aufgefordert von Ann-Christin, und sie lacht und sieht
glänzend aus in ihrem grauen Kleid und man klatscht, denn sie lehnt mehr
Beleuchtung ab, da sie ohne Noten spielt, wie immer. Höhepunkt: Die Jubilarin
packt vor aller Augen, begleitet von viel Witz und Scherz, die Geschenke aus,
bedankt sich bei jedem mit sehr persönlichen Worten. Die Familie von Ann-
Christin hatte alle Hände voll zu tun. Paul, ihr Ehemann, hat alles selber
gebacken und gekocht, Sohn Benjamin und Tochter Lisa halfen beim Auftragen
der Speisen. Ein Schwede, wir kannten ihn von einem Silvesterabend im
gleichen Hause, paßte zu vorgerückter Stunde die Cleo ab mit den Worten: ?Wie
geht es dir, Liebling?? Cleo: ?Sei vorsichtig ...!? Und tatsächlich, denn schon
tauchte dessen Frau auf ...
6. Dezember. Früh lag etwas hartes in meinem Schuh. Cleos Überraschung zum
Nikolaus, ein schön verpacktes Stück Schokolade. Mein verdutztes Gesicht, sie
lachte laut auf, da ihr der Spaß gelungen war. Nach dem Frühstück Wanderung
Richtung Sigislaryd und zurück über ein einsames rotes Haus im Walde. Neun
Kilometer Fußweg. Unterwegs entdecken wir oft etwas Neues. Diesmal ein
abgeholztes Waldstück, das die Landschaft sofort verändert. An einer Erhebung
bleibe ich stehen, halte meine Hände zum Viereck gefaltet vor den Augen. Ein
Motiv zum Malen, bisher nicht so gesehen. Viel braunes Gras am Hügel,
Mauerreste, eine Birke, das Violett hebt sich vor dem grauen Himmel ab. Cleo
ist vorausgegangen, wie üblich. Ich muß hinterher, aber da steht sie schon an
einen mannshohen Fels gelehnt, die Wange am kalten Fels. ?Den liebe ich, das
ist mein Freund?, sagt sie. Später sehen wir gefällte Birken liegen. Baumrinde
können wir gut gebrauchen, gibt gutes Feuer zum Anzünden im Kachelofen.
Cleo ist es, die mich dazu drängt. Fast wie nebenbei erzählt sie von Bayern im
Jahre 1944. Da wurden sie, ihre Geschwister und die Mutter von der Frau eines
Kommunisten in deren Haus untergebracht, ohne Licht und ohne Gas, denn der
Mann war bereits im Konzentrationslager. Die vierjährige Cleo und ihr zwei
Jahre älterer Bruder Peter sammelten Holz im Wald und schleppten
Eisstückchen von der Quelle, um Wasser im Haus zu haben. Auch darin liegen
ihr großer Ernst, ihre Vernunft, ihre Bescheidenheit begründet, die große
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Fürsorge gegenüber unseren Kindern und Enkelkindern, die Umsicht und die
Liebe, die sie in die Familie und in den Haushalt steckt.
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Neujahrsmorgen 2001. ?Aufstehen, Nachtruhe beenden!? Halb zehn, da ruft der
Frühaufsteher Heiner aus Neubrandenburg an, unser ehemaliger
Wohnungsnachbar. Alles Gute fürs neue Jahr! Danke, danke lieber Heiner, das
gleiche für dich! Cleo liegt noch, bringe ihr dann eine geröstete Stulle und
Kaffee hoch. Wollten gestern eigentlich ganz in Ruhe Silvester verbringen.
Doch zu vorgerückter Stunde holten wir Rosemarie und Hans, haben gegessen
und viel gelacht. Sie wollen nach ihrem Arbeitsleben auch für immer hier hoch.
Hurra, hurra, also müssen wir noch über zehn Jahre leben, um den Einzug ins
Paradies miterleben zu können. Dann wieder gegen halb zwölf - wie im
vergangenen Jahr, nur ohne Zelt - Treff der ?Ortsfamilie? am Kinderspielplatz.
Zwei Spirituslaternen im Regenhäuschen. Ein kleiner Tisch. Sektflaschen und
kleine Gläser. Davor der ?Baron?. Wir sind die ersten. Er füllt uns ein, wir
trinken auf unser aller Wohl. Nach und nach trudeln an die zwanzig Leute ein.
Raketen schießen in den sonst schweigenden und stockdunklen Nachthimmel
über Gadderos. ?Gott nyt ar? (gutes neues Jahr) nach allen Seiten. Der
Postmeister drückt Cleo. Rosi lacht. Hans lacht. Ulla grinst mich überaus
freundlich an. Sie und ihr Mann haben eine leichte Schlagseite. Ann-Christin ist
auch da, ihr Mann ist in seine Heimat nach Frankreich gefahren. Der
aufmerksame ?Baron? schenkt Sekt nach. Dann läßt er das neue Jahr hochleben.
Viermal Hurra, viermal!! Die beiden Schweden Ulla und John laden Diana, ihre
Mutter, Ann-Christin, den Postmeister mit Frau und uns zu sich ins Haus ein.
Kaffee, Wein, Akkordeonmusik, ein wenig Tanz, der Postmeister sehr
warmherzig neben Ulla, alle lachen und verstehen, dessen Frau ist die lächelnde
Ruhe in Person, sie kennt ihren Gatten ... John, der Gastgeber, sagt zu mir, es sei
?rulitt? (sehr schön, klasse oder so), daß wir hier in Gadderos sind, Ulla drückt
ihre Wange an meine, Cleo und ich eisen uns gegen viertel vier los von der
gemütlichen, feucht-fröhlichen Runde. Im Bett bereits, rufen Pati und Rini aus
ihrem Urlaubsort an und sagen: ?Ihr Rumtreiber!?
Brennerausfall beim Nachbar
Eine mittlere Katastrophe bahnt sich an. Im benachbarten Ferienhaus von
Johannes aus Berlin. Er hatte mich gebeten, den Ölstand im unterirdischen
Kessel regelmäßig zu kontrollieren. Eigentlich war unser Handwerker dafür
verantwortlich, doch der befand sich auf Deutschland-Trip. Ich prüfe wieder
einmal. Nur noch acht Zentimer Öl im Tank. Na, na! Und wenn es nun kälter
wird auf einen Schlag? Johannes hätte wohl besser vorsorgen müssen, er hat nun
einmal nur diese Ölheizung. Die Schweden verlassen sich nicht darauf. In jedem
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Haus sind in der Regel drei Heizquellen installiert. Johannes aber hat den alten
Ofen herausreißen lassen, verläßt sich nur noch auf das Öl. Eine
Fehlkalkulation, wie sich herausstellen wird. Also prüfe ich wie ein kaputter.
Der Meßstab zeigt kurz darauf nur noch fünf Zentimeter an. Brenner läuft noch,
keine Gefahr. Doch am nächsten Tag sind es nur noch vier Zentimeter, der
Brenner schweigt. Herrje, was tun. Zu allem Unglück sinken die Temperaturen ?
zwanzig Grad Kälte. Nur noch plus zwei Grad im Wohnzimmer. Nun wird es
gefährlich. Ziemlich schnell können die Wasserrohre einfrieren. Ich drücke
wiederholt die Automatik am ausgefallenen Display. Doch der zeigt an ?Brenner
defekt?. Ich schalte den Warmwasserspeicher an, lasse in Abständen wenigstens
das Wasser in der Küche und im Bad laufen. Am nächsten Tag den
Schornsteinfeger, der sich gut in dieser Technik auskennt, informiert. Nur noch
minus 1 Grad im Wohnzimmer. Hilferuf an Schornsteinfeger Hans, Experte in
Sachen Heizung. Der Brenner springt an, schweigt aber gleich wieder. Öl fehlt.
Ohne diesen ?Saft? ist auch er machtlos. Nichts ist im Moment zu retten. Rohre
platzen, Sanitärtechnik geht flöten. Schmerzend die Erkenntnis ? scheinbar
kleine Ursachen haben verheerende Wirkung. Das wurde für den Nachbarn
teuer.
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Mai 2001. Deutsche im Nachbarhaus. Sie wollen es besichtigen. Es sind zwei
Damen, zwei Schwestern, etwa um die 65, beide aus Westberlin. Aber es ist
ihnen zu kalt. Sie seien außerdem ?Besseres? gewöhnt. Ja, bei uns würde es
ihnen gefallen, das sei ihr Niveau. Sie wollen, daß ich einen Heizkörper
ausfindig mache. ?Meinen sie, ich renne wegen ihnen von Haus zu Haus??
Diese knallharte Absage schockiert sie, aber dann frage ich doch, z. B. bei Elfi
und Heinz, aber vergeblich. Kein Gerät vorhanden. Schließlich kann Harald
helfen. Mein Gott, sollen die Zicken doch in ein Hotel gehen. In der
Zwischenzeit bedrängen sie Cleo. Gerne würden sie bei uns übernachten wollen.
Zwei wildfremde Damen! Cleo lehnt ab. ?Mein Mann wird verrückt, haben
genug Besuch, außerdem fehlt die Tür zum Zimmer.? Macht nichts, sie würden
auch so ... Ziemlich frech, diese Damen. Die als Nachbarn ? nicht auszudenken
...
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Mit Schubkarre, zwei Rasenbesen und Arbeitshandschuhen ziehen wir an einem
Sonnabend zur Festspielwiese von Gadderos. Subbotnik wie im Osten nach
Lenins Erfindung. Aufräumarbeiten. Rasen von heruntergefallenen Ästen
befreien, Spielplatz säubern. Zehn Leutchen insgesamt. Anschließend gibt es
gegrillte Bratwurst und 2,8prozentiges Leichtbier. Umsonst natürlich. In unserer
Runde diesmal ein Gast, ein Architekt. Er legt uns einen Plan vor. Er
verdeutlicht die Umwandlung des Geländes der alten Glashütte, die 1968 in
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Konkurs gegangen war, in ein Wintergolfbahngelände. Mit Cafè, kleinen Hütten
zum Übernachten, Parkplätzen. Besucher der Gadderoser Glashütte - und nicht
nur sie - sollen zu jeder Zeit hier im Glasreich auch diese Attraktion nutzen
können. Die Gadderoser nicken. Das gefällt ihnen. So kommt wieder Leben in
den stillen Winkel. Aber, sie wollen auch Nutznießer sein ... Und so rackern wir
wie die Kaputten. Ein paar Freiwillige ? auch Cleo und ich - helfen, einen
Schuppen auszuräumen. Für die zukünftige Wintergolfbahn, wie es heißt. Es ist
kühl in der ehemaligen als Werkstatt genutzten Halle, und es stinkt nach Metall
und Diesel. Ein LKW mit riesengroßer Ladefläche hat sein ?Hinterteil? in die
große Tür rückwärts hineingeschoben, und darauf packen wir nun alles, was uns
vor den Füßen liegt: Altes Werkzeug, z.T. noch gut zu gebrauchen, Blechteile,
Kabel, Autoersatzteile, Muffen, Zylinder, Fässer. Alles soll in die Entsorgung.
Doch wie das manchmal so ist: Das ganze Projekt wurde eine Luftnummer.
Alles verlief wieder im Sande. Es rechne sich nicht, hieß es.
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Tante Else und Onkel Ebbi sind gekommen. Sie wollen die schöne Herbstzeit
bei uns genießen. Weihnachten und Ostern fallen auf einen Tag. Das Auto ist
vollbepackt bis unters Dach. Fast neue Skier und Schuhe, Fabrikat ?Sankt
Moritz?, ein gutes Damenfahrrad, Federbetten, Wurst und nochmal Wurst, dazu
feine Biere und Weine. Vom ersten Besuch wissen sie, was denn noch so fehlen
könnte. Große Freude. Dieser weite Weg aus dem Ruhrgebiet hierher, und das
trotz einiger Operationen, die Else durchstehen mußte. Cleo und ich bewundern
beide. Nicht nur deshalb, weil sie ernsthafte Krankheiten tapfer durchgestanden
haben und immer füreinander da waren, sondern auch, weil von beiden so ein
unendlich hoffnungsvoller Optimismus und Lebensfreude ausgehen. Zudem ist
Ebbi, den ich ja persönlich erst unmittelbar nach dem Abrutsch ins
Kapitalistische kennengelernt hatte, ein Original, ein richtiges Plauener
Urgestein. Er ist ausgesprochen wissensdurstig, findet sehr schnell Kontakt zu
anderen. Cleo und ich ziehen um ins kleine Zimmer, Ebbi und Else schlafen im
?blauen Salon?. Wir haben viel Spaß beim Erzählen. Ebbi temperamentvoll,
wobei die Augen vor Energie sprühen, Else mehr bedächtig. Aber woher
nehmen die weit über Siebzigjährigen die Kraft, permanent zu sprechen, von
morgens bis zum späten Abend? Eines Abends knipse ich wie üblich das
Fernsehen an. Das schwedische zuerst. Brennende Hochhäuser. Wie riesengroße
Fackeln. Alarmstimmung der Moderatorin. Schalte um aufs deutsche Programm.
Es ist der 11.9. - die Fernsehbilder aus den USA. So ein Unglück. Terror! Meine
Frage, und Ebbi stimmt mir zu, ist Terror mit Terror zu tilgen? Nun hat man mit
diesem äußeren Anlaß die ?Vollmacht?, seine Weltherrschafts- und
Polizeiträume gegen die ?Bösen? durchzuboxen. Weltweit!
Heute mit Cleo wieder einmal über Sigislaryd gewandert. Pilze über Pilze. Wir
nehmen nur die goldgelben Pfifferlinge, Stein- und Birkenpilze. Welch eine
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Freude, sie auf den Wegen, unter Gras und Moos zu entdecken. Übrigens: Der
Dachs hat uns den Garten kostenlos vertikutiert. Wir haben ihn durchs Fenster
gesehen, groß wie ein mittleres Schwein, so ein Raubtier! Als wir gegen die
Scheibe klopften, glotzte uns das Vieh frech an und verschwand dann. Wir
wollten uns doch nur bei ihm bedanken. In den nächsten Nächten war er wieder
da und wühlte und wühlte im Rasen.
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Das Pendel der alten Uhr
Madesjö, Kirche. August 2002. Außentemperatur 27 Grad plus. In der Kirche
unter der riesigen Kuppel abgebremste Sonnenwärme, angenehm. 24 Verwandte
von Ann-Christin sitzen in den ersten zwei Reihen, ganz in Schwarz gekleidet.
Vorne ein weißer Sarg, umgeben von Rosen. Zehn weiße Kerzen, deren
Flämmchen nicht wagen zu flackern. Atemlos die Stille, bis kurz vor 13 Uhr der
Klang der Kirchenglocken von oben her ins Innere dringt - bis in die Seelen der
Trauernden. Sie zu verabschieden haben alle sich versammelt, Ann-Christins
Mutter. Wir sahen sie oft. Bei Festen von Gadderos: Still lächelnd, fast scheu,
stand sie da mit ihrem Mann, dem starken und ergrauten. Es heißt, ein
plötzliches Herzversagen habe ihm seine Frau genommen. Mein Blick fällt auf
eine typisch schwedische Standuhr mit blauer und goldgelber Bemalung, die
links an der Wand steht. Das Pendel der Uhr ? durch ein rundes Bullauge
sichtbar ? schlägt unaufhörlich und still vor sich hin. Mal links, mal rechts. Im
Sekundentakt. Für die Mutter war die Zeit um. Jedes hat seine Zeit. Wann
kommt unsere? Noch immer schwingen die Glocken. Entrückt in die Welt des
Erhabenen, versenken sich so manche Gedanken in die eigene Vergangenheit,
an die eigenen Eltern und an das, was uns bevorsteht. Cleo neben mir, mit leicht
geblümtem Rock, schwarzer Bluse, die hübschen Beine
übereinandergeschlagen. Ich sehe ihre zarten und schmalen Füße, berühre Cleo
leicht mit dem rechten Zeigefinger. Sie schaut mich an, vor meinen Augen
verschwimmen ihre Gesichtskonturen, sehe nur ihre noch hellen und lieben
Augen, und ich muß wegsehen ... Sie drückt meine Hand. Orgelmusik. Bin
glücklich wie vor 42 Jahren. Verhaltene Worte der Pastorin. Alle erheben sich.
Einzeln sagt man ganz im Stillen ?Auf Wiedersehen!? Als erster steht der Vater
von Ann-Christin am Sarg. Er, der große starke Mann, zurückhaltend wie seine
Frau, beugt sich über den darüber, preßt mit Mühe einige Worte hervor, bricht
dann zusammen, der schluchzende Graukopf sinkt auf den Sargdeckel, der alte
Mann pocht mit der rechten Faust gegen das Holz, der ganze Körper bebt. Nein,
er kann es nicht fassen, nicht verstehen, daß sie ihn verlassen hat, nein, nein,
nein!! Und ich sehe mich plötzlich so in dieser Situation, irgendwann. Ich spüre,
wie die seelischen Qualen auch mich ergreifen, wie sie sich in mein Herz
verpflanzen. Eine Erschütterung dringt in dich hinein, die dir unerbittlich vor
Augen führt ? die Endzeit jeglicher Liebe, jeglichen Lebens. Ich schiele noch
einmal zur Standuhr. Das Pendel schlägt aus. Sekunde um Sekunde. Wie wenige
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Zeit haben wir verloren durch gegenseitige Unachtsamkeit und Verletzungen,
wiewiel gewonnen durch innige und starke Liebe, die sich im täglichen Einerlei
bewährt hat, weil es nie ein Einerlei gegeben hat!!
Obwohl es bereits September ist und die schwedische Badesaison seit dem 15.
August beendet ist, waren Cleo und ich noch einmal schwimmen im Orrefors-
See. 16 Grad Wassertemperatur. Da niemand zu sehen ist, baden ohne
Klamotten. Die Wiesen haben sich vollends braun, gelb, rostrot und violett
gefärbt. Kein Ende abzusehen dieses außergewöhnlich langen, seit Anfang Juli
kein Regen, skandinavischen Jahrhundertsommers. Besuch bekommen wir
allemal: Nachts nähern sich vorsichtig Rehe und holen sich aus den Gärten das
Fallobst, der Dachs strolcht wieder durchs Unterholz, will er wieder für uns
kostenos vertikutieren wie im vergangenen Jahr?
Willi, Cleo nennt ihn treffenderweise ?Napoleon?, und ich stehen am Kohlegrill,
bereiten Fleisch zum gemeinsamen Abendbrot vor. Der Rauch steigt in die
Nasen, vermischt sich mit dem Geruch des Frühherbstes nach fauligen Blättern.
Willi war heute auf dem Steinsee, auf der einsamen Insel. Und er sinniert, ?wie
lange noch bleibt dieses symbolische Fleckchen Erde in seiner Beschaulichkeit
und in seinem ungestörten Frieden vor dem Zugriff der Zivilisation verschont??
Und so sagt er etwas, was so normal ist und eigentlich keiner Worte bedürfte
und so einfach klingt: ?Was braucht der Mensch eigentlich mehr als ein bißchen
Liebe, Brot, ein Dach über dem Kopf und ? wenn es geht, ein Gläschen?? Als er
das sagte, erinnerte ich mich an die Erzählung von Leo Tolstoi: ?Wieviel Erde
braucht der Mensch.?
24. Dezember 2002. Verkrusteter Schnee. Nachts bis minus 15 Grad C. Bärbel
und Hartmut, Willis Familie, Hans-Jürgen und Hanne ? alle Berliner sind wieder
da. Große Überraschung: Unsere Kinder haben ein Weihnachtspaket
mitgegeben!! Soviel Liebe erfahren wir von ihnen. Dabei hatte Cleo am Telefon
extra gebeten, für uns nichts zu besorgen. Wir seien hier in Schweden in allem
gut versorgt.
Gegen Mittag wie gewohnt ein Treff unserer kleinen Ortsgemeinschaft auf dem
zentralen Platz in Gadderos. ?God Jul!? (gute Weihnachten). Nahezu alle
Gadderoser sind gekommen. Umarmungen. Der ?Baron? steht wieder
unverdrossen am Ausschank, wir umarmen den stets lustigen und aufgeräumten
Postler; Harald, der einem Waldschrat nicht unähnlich ist, Rosi und Hans, die
zwei mit dem ansteckenden lauten Lachen, den schwedischen Bauern Thomas,
die Huskybesitzer; Antje und ihren Mann Ulli, Ulla und ihren Mann Jonny,
?Napoleon? Willi und seine Familie ... Willi hat uns aus Berlin einen eisernen
Ofen mitgebracht. Der nennt sich ?Partyschreck?. Jetzt können wir zu jeder Zeit
im Garten Suppen kochen. Nur ein paar Holzstücke hinein - der nächste
Kesselgulasch wartet schon auf uns.
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Januar 2003. Teppiche auf der Schneedecke ausgeklopft. Übermorgen soll es ein
wenig tauen. Seit Anfang Dezember fast nur Kälte und Schnee. Gestern mit
Cleo ? wie in der letzten Zeit sehr oft, mal mit Bärbel und Hartmut, mal mit
Hanne und Hans-Jürgen ? mit Skiern oder zu Fuß unterwegs gewesen. Das Land
liegt in eisiger Erstarrung, weiß und in friedlicher Stille, über allem dieser klare
blaue Himmel. Kristalle an den Zweigen der Bäume, Spuren von Rehen,
Füchsen, Elchen, Luchsen im Schnee. Für so ein Paradies müssen andere lange
und weit fahren und zahlen ... Brigitte, unsere gute Seele der ehemaligen
Beratergruppe im Fernsehen der DDR, hat angerufen. Deren Hiobsbotschaft:
Detlef sei gestorben, mein Mitstreiter, Kamerad und ?Schreibtisch-Gegenüber?.
Hilfsbereit hatte er mir die journalistischen Macharten beim Fernsehen erläutert.
Ein guter Kumpel.
Dorfversammlung. In jedem Frühjahr treffen sich die Gadderoser im Hause des
?Barons?. Da wird Resümeè gezogen über die Aktivitäten des
Zusammenhaltungsvereins im vergangenen Jahr und über zukünftige Vorhaben.
Zwanzig Leute im vierzig Quadratmeter großen Wohnzimmer. An einem
kleinen Tischchen der ?Baron?, daneben die Protokollantin. Ein
Stadtverordneter aus Nybro spricht. Ein junger und sehr stattlicher und gut
aussehender Mensch. Der spricht locker, leise, fordert Meinungen heraus und
Vorschläge, nickt, lächelt ... Diskussion. Der ?Baron? geht Punkt für Punkt
durch. Fragen? Ja, hier und dort. Es geht um sichere Verkehrswege, wegen der
vielen Rehe und Elche, um zunehmende Kriminalität, um neue Belustigungen in
Gadderos während der Musiktage im Glasreich. Dazwischen immer wieder ein
herzliches Lachen. Dann ein Hammerschlag. Aussprache ist beendet.
Kommunalpolitik in friedfertiger Runde. Auf zu Kaffee und Kuchen.
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Alter Mann und rote Rose
ieder bei Arne, dem ?Baron?. Diesmal privat. Das schwedische Ehepaar
Herta und Sony sowie Cleo und ich sind eingeladen. Wir sitzen im
Eßzimmer mit den schweren Eichenmöbeln. So ist Arne: Vornehme
Bewegungen, selbst beim Auftragen der selbst gekochten Speisen. Dieser Mann
beherrscht es, allein ein auserlesenes Menü zuzubereiten. Bäckt selbst Kuchen
und Torten, hält die große Villa in Schuß, überall viele Blumen und Pflanzen,
teure Behaglichkeit. Wir sind jedesmal von Neuem beeindruckt. Wertvoll die
Gespräche mit ihm, er ist weise, dabei zurückhaltend, auflachend, wenn ein
Spaß in der Luft liegt. Nach dem Essen bittet er zur Kaffeerunde an eine antike
Sitzgruppe. Über uns an der Wand ein riesiges altes Gemälde im breiten
Goldrahmen. Cleo schaut es sich besonders aufmerksam an. Woher, wer
gemalt? ?Baron? erzählt, ein Vorfahre habe mit fünf Jahren mit seiner Tante
W
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Gemüse verkauft. Von ihm verdientes Geld steckte der Fünfjährige in eine
abgeschlossene Kassette. Als er 18 war, fand er darinnen 60.000 Kronen. Da
erfüllte er sich einen lang ersehnten Wunsch ? er kaufte sich dieses Gemälde für
40. 000 Kronen. Und nun sei es im Familienbesitz und sollte an und für sich alle
zwei Jahre innerhalb der Familie (unser Gastgeber hat fünf Kinder) in den
Wohnzimmern die Runde machen. Da die anderen Wohnungen aber nicht so
große Wände haben, könne er sich nun ganz alleine vierzehn Jahre lang an
diesem Ölgemälde erfreuen. Doch die eigentliche Bewunderung über die Werte
in ?Barons? Haus gehen mit einem Mal in eine andere Richtung, als Sony auf
eine einsame rote Rose an einem Fenster zeigt, neben der ein Foto hinter Glas
steht, das eine Frau abbildet. Cleo geht hin, betrachtet Blume und Foto
interessiert. Cleo hinterfragt und wir erfahren: Diese Schöne war seine Frau.
Jeden Donnerstag kaufe er im Blumengeschäft in der 17 Kilometer entfernten
Kreisstadt eine rote Rose für die vor 15 Jahren Verstorbene. Zu jeder Jahreszeit.
Wir sind baff. Welch eine Geste. Er muß mit ihr sehr glücklich gewesen sein.
Klar, es geht nicht um die Ausgaben jahrelang ? es geht um die Haltung, die
innere. Später kann ich nicht so schnell einschlafen. Da geht mir so manches
durch den Kopf. Auch wir sind in der gleichen Lage. Alt und liebevoll
zueinander. Ein Leben lang. Das wünschte man jedem. Bevor ich einschlafe,
fällt mir ein Titel ein: ?Der Alte Mann und die rote Rose.?
Eine Neuigkeit: Cleo und ich sind beim Fotografen in Nybro angemeldet
worden. Im Jahres-Umweltkalender der Kommune werden wir vorgestellt, mit
Foto und Text. Die Reporterin recherchierte bei uns zu Hause. Am
Frühstückstisch ging es locker zu, Kommunikation in schwedisch. Das Ergebnis
kann man im Juniblatt 2004 sehen. Folgender Text: Lebensfreude. In Gadderos
haben eine neue Heimat gefunden eingewanderte Deutsche, Dänen und
österreichische Familien. Cleo und Henry Orlow haben schon sieben Jahre hier
ein schönes Wohnen in Gadderos. ?Als wir Pensionäre wurden, wollten wir
wohnen in einem kleinen Haus mit guter Luft im Umfeld. In Deutschland
konnten wir das nicht realisieren. Wir kauften unser Häuschen unbesehen vom
Makler und haben es keine Sekunde bereut. Wir fühlen uns wie gute Gäste in
Schweden. Wir werden bleiben, denn so herrlich ist es hier. Deshalb versuchen
wir, gültig zu leben in schwedischer Tradition. Wir nehmen teil im Gadderoser
Zusammenhaltsverein und finden hier eine große Gemeinschaft im Dorf. Wir
kommen aus Ostdeutschland, da herrschte Solidarität zwischen den Menschen.
Nun finden wir hier auch ein bißchen dieses Gefühl in Schweden. Hier denken
die Menschen nicht immer nur Geld, Geld, Geld. Es herrscht ebenfalls
Solidarität im Dorf. Die Natur in Schweden ist phantastisch. Wenn man fährt
oder wandert durch den Gadderoser Wald, findet man breite, alte Steinmauern,
und das ist so schön. Wenn wir wandern gehen und finden Abfall zwischen den
Büschen, heben wir es auf und bringen es zur Wiedergewinnung! Wir versuchen,
umweltgerecht zu leben und alles zu achten. Wir leben sehr einfach und
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sparsam, aber es ist ein sehr gutes Leben.? Die Redaktion ist zufrieden und wir
auch. Lob von vielen Seiten. Was uns besonders freute: Als kleine Anerkennung
für unsere Bereitschaft ein schönes großes Foto mit ansprechendem schwarzen
Rahmen.
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© (2010) Engelsdorfer Verlag, Alle Rechte bei H


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Beschreibung des Autors zu "In die Stille gerettet"

Buch-Info
?In die Stille gerettet?
Persönliche Lebensbilder / Von Harry Popow
DDR-Erinnerungsliteratur ist gefragt. Sie wird besonders dann interessant und spannend, wenn es um ehrliche Rückblicke geht, wenn aus ganz persönlicher Sicht sowohl Privates als auch Gesellschaftliches eng verwoben beleuchtet werden, wenn auch Uneingeweihte einen Einblick in die inneren Motive, in das alltägliche Denken und Handeln bekommen. Herz, Geist und Gutwilligkeit vorausgesetzt, können so weiter Brücken entstehen ? zwischen Ost und West. Einer von jenen DDR-Bürgern, die dies versuchen, ist mit seinem erst kürzlich veröffentlichten Buch ?In die Stille gerettet? Harry Popow, alias Henry Orlow, ein einstiger Reporter im Bereich der Nationalen Volksarmee.
In Tagebuchnotizen erzählt er, warum ?Henry?, ein fast 60jähriger Mann ? der den Krieg noch als Kind hat erleben müssen, der sich voller Überzeugung im DDR-Alltag einbrachte und die Wende heil überstand ? mit seiner Frau in die Stille der schwedischen Wälder abhaute. Sechs Jahre nach der Deutschen Einheit? Niemand trieb sie, keiner wurde steckbrieflich gesucht, keiner verunglimpft ? Träume einerseits und Unvereinbarkeiten mit neuen Zuständen andererseits?
In der Einsamkeit einer kleinen schwedischen Waldsiedlung und im eigenen Holzhaus kramt er in alten Aufzeichnungen, in Briefen und Erinnerungen, sammelt und hält fest, was ihn am großen Vorhaben fesselte, ein dem Frieden verpflichtetes neues Deutschland aufzubauen.
Angesichts des gesellschaftlichen und staatlichen Absturzes 1989 blickt der damalige Militärjournalist und Oberstleutnant zurück in die Kindheit mit seiner liebevoll sorgenden russischen Mutter, die 1935 zu ihrem Ehemann von Moskau nach Berlin übergesiedelt war. Er berichtet episodenhaft von Pommern, wohin auch die Ziebers (der Name des Vaters) evakuiert wurden. Von Bombennächten in Berlin, von der endlichen Befreiung. Von der beeindruckenden Kundgebung ? mit Fackeln in den Kinderhänden - auf dem Lustgarten am 11.Oktober 1949 zur Gründung der DDR. Von der Lehrzeit im Zwickauer Kohlenrevier, von der Arbeit als Kollektor bei der Staatlichen Geologischen Kommission der DDR. Vom Dienst als Offizier und Ausbilder in der NVA und später als Reporter in der Wochenzeitung ?Volksarmee? und - nach Beendigung einer 32jährigen Armeezeit ? als Journalist im Fernsehen der DDR.
Was aber bewegt ihn, als er 1989 angeblich wegen ?ungenügender Wachsamkeit? in die Mühle der durch den Kalten Krieg überspitzten Parteidisziplin gerät? Und was geht ihm durch den Kopf, als seine größte Tochter mit ihrem Freund ? wie tausende andere junge Menschen - nach Budapest reist und nicht wiederkehrt?
Letztendlich führt der sprachlich angenehm zu lesende und interessante und authentische Lebensbericht den Leser wieder nach Schweden und dem unbeschwerten Dasein in der kleinen Waldsiedlung. Dort lebt er mit seiner Frau, die er als Offiziersschüler 1957 kennengelernt und 1961 geheiratet hatte, und aus der Ehe drei Kinder und zwei Enkel hervorgingen ? tolle neun Jahre. Im engen freundschaftlichen Kontakt mit allen Ortsansässigen ? bei Geburtstagen, Mitsommerfeiern und gegenseitigen privaten Besuchen. 2005 kehren beide zu ihren Kindern und Enkeln zurück.
Es ist eine bewegende Liebesgeschichte, einer glücklichen ?Cleo? und eines glücklichen ?Henry?, der auch im Alter nicht abläßt von den Visionen eines besseren Deutschland.
Harry Popow: ?In die Stille gerettet?. Persönliche Lebensbilder. Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3
Und dies schreibt eine Lektorin (Verlag Haag Herchen GmbH) aus Hanau zu diesem Buch:
Da ich immer erst den Text anschaue ? , konnte ich ganz entspannt lesen und mich freuen ? über die wunderschöne Liebesgeschichte zweier Menschen, die harte Zeiten erlebt haben und doch im Herzinneren stets beieinander waren und sind.
Das Buch ist schön aufgebaut. Natürlich chronologisch, ich meine aber inhaltlich. Es besteht im Grund aus zahlreichen Mosaiksteinchen des Lebens, die wie eine Loseblattsammlung beginnt und dann nach und nach zu einem dichten Lebensteppich zusammenwächst unter einem Grundthema ? Liebe.
Erinnerung ? , es sind die kleinen Momente, ? die unser Erleben prägen, ? In Ihrem Fall ist das Cleo, grad heraus, unverblümt, herzlich und konstant, wissend und mutig und Sie, Lehrling, NVA-Offizier, Journalist, dann die Arbeit beim Fernsehen und die zweite Karriere, Schreiben, Malen, Auswandern.
Es sind kleine Spotlights, die den Weg zurück beleuchten, angefangen bei den Erinnerungen der jungen Mutter Tamara, die ihre Zukunft träumt und sie doch nie finden wird, anders als ihr Sohn, der sofort weiß ? die ist es.
? Die Momente des Mauerfalls aus dieser Sicht sind sehr interessant, zumal es im ehemaligen ?Westen? bis heute nicht wirklich klar ist, was das für ehemalige Ostler bedeutet hat ? die Tochter flüchtet, der Vater muss Rede und Antwort stehen in einem System, das es nicht mehr gibt, in dem aber alle aufgewachsen sind, das für alle als ?wahr? galt ? eine ausgesprochen schwierige Situation.
Das Leben in Schweden bringt wieder Ordnung innen und außen, Ruhe und Gemeinschaft und das, was wirklich wichtig ist ? menschliche Nähe, Gespräche und Zweisamkeit, die Natur und die enge Verbundenheit innerhalb der Familie, auch das sehr auffallend im Gegensatz zu so vielen Berichten der gleichen Zeitepoche aus ?Westsicht?, in denen es überwiegend um Egoismus und Trennung geht und um die Frage, wer wen wie ausnimmt.
? Starke Frauen begleiten Ihren Lebensweg, das hat mich sehr beeindruckt.
Sie fragten, ? ob manches nicht zu privat ist - ? Es ist eher berührend und zauberhaft und von daher kostbar, nicht nur für Sie als Paar, sondern auch für den Leser, der sich so etwas wie Ihre Ehe natürlich auch wünscht (und hoffentlich lebt). ? Es ist ein Herzenstext, ?
Christine Krokauer, Lektorat

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