Prolog:

Hier stand sie nun, buchstäblich am Ende. Wenn sie diesem Ort einen Namen geben würde, müsste er so heißen: Ende. Sie hatte es sich immer anders vorgstellt, am absoluten Rand von allem Greifbarem zu stehen, wo Wahrnehmung und Realität widerstrebend aufeinander trafen.
Sie wünschte das ganze Szenario würde sich augenblicklich in geschmackloses Nichts auflösen. Aber so lief es nun mal nicht. Sie erlebte alles haarklein, stellte auf einmal fest in wie kleine Intervalle man die Sekunde noch zerteilen konnte. Womöglich hatte sie nie intensiver gelebt.
Der Gestank von Verwesung stand für die entgültige Rückführung. Der Himmel war mit Sternen übersäht, bis zum Horizont ragten die spießartigen, spiegelglatten Steinformationen in die Höhe, als wollten sie den Himmel erstechen. Sie glänzten im Licht der Monde wie mit Lack überzogen. Der Wind wehte durch ihr blutiges Unterhemd. Blut war beinah schwarz, wenn es trocknete und bildete klebrige Krusten. Es sah nicht mal mehr aus wie solches.
Doch ihre Wangen glänzten ölig nass. Warum hatte er das getan?
Wenn ein System jeden Schimmer auf Hoffnung nimmt, kann man neue kreieren, für die Menschen sterben würden. Letztendlich gehörte sie dazu, war eines von vielen Opfern, nicht anders als jeder und doch würde sie bis zuletzt kämpfen. Die Sonne würde ihr dennoch verwehrt bleiben.
Chat - der Name zog sich wie ein roter Faden, ein Fluchtseil durch ihre Zeit. Dabei konnte sie bis jetzt nicht sagen, was er wirklich war. Trotzdem liebte sie ihn irgendwie, ein Mysterium, was sie niemals beenden könnt. Ein Gefühl, was sie festband, hier am Ende vor den Ebenen von Coribis.

Die Sonne stand hoch über Bisville und knallte wie ein glühender Feuerball auf die leergefegten Straßen herab. Sie brannte so heftig, dass sich die Hälfte der Bevölkerung entweder in ihren Häusern verschanzte oder das örtliche Freibad aufsuchten, um sich von kühlem Wasser umgeben von der Hitze zu befreien, in einem Becken, was von allen möglichen Körpern durchtränkt war, die sich um Plätze ringend an die Ränder drängten.
Anders war es für Tafty Dunshdy, der sich mit schweißüberlaufenem, rot glühendem Kopf in seinem Porsche Carrera Cabrio unter der stechenden Sonne von einem zum anderen Termin schleppte. Der Lack der Luxuskarre reflektierte das Licht in all seinen Spektren. Die ästhetischen Rundungen blitzen bei jeder Kurve scharf und schnittig. Jeder normaler Mensch würde sich bei diesem Anblick fragen, warum man als Besitzer eines derart luxuriösen Schlittens überhaupt noch arbeiten gehen müsse, geschweige denn unter derartigen Bedingungen. Es war eine Frage, die Taftys Verstand gelegentlich passierte. Die Antwort, welche durchaus vorhanden war glich einem Knäuel von Gegebenheiten, die sich zu einem schwer durchschaubarem, aber in sich schlüssigem Etwas vereinten, einem fabelhaft durchkonstruiertem System.
Wie auch immer. Tafty bevorzugte die einfache Variante. Es war eine Frage der Verhältnisse. Er gehörte nicht hier her. Außerdem handelte es sich leider um einen Dienstwagen und als Teil eines Ganzen gehörte sowohl das Auto als auch der Fahrer einem Zweck.
Der Wagen bewegte sich beinahe geräuschlos, wie ein schleichender Tiger durch Bisvilles Altstadt. Nur wenige Menschen waren um die Mittagszeit draußen und schenkten Tafty mehr oder weniger Beachtung, die sich in Form von neidlastigen Blicken äußerte. Die Gegend war nicht gerade dicht besiedelt. Die breiten, idyllischen Häuschen wurden zumeist nur von einer Familie bewohnt und besaßen niedliche, wohl gepflegte Vorgärten.
Tafty trug eine riesige schwarze Sonnenbrille, die seine Augen groß und insektenartig erscheinen ließ und den Bereich zwischen Stirn und Nase wie unter einem Tuch versteckt hielt.
Er war ein großgewachsener Mann, leicht gebräunt, mit großflächigem Stoppelbart. In etwa so sah es auch auf seinem Kopf aus, auf dem schwarze kurze Haare stachelig emporragten. Selbstverständlich hatte Tafty den Versuch unternommen die widerspenstige Igelfrisur mit ausreichend Haargehl zu bändigen, was ihm allerdings nicht gelungen war.
Er trug einen guten Anzug, der ihn durch die Hitze wie in einem Schwitzkasten gefangen hielt. Aber er verlieh seiner Erscheinung eine höheres Maß an Autorität.
Der Wagen hielt und ruckte leicht zurück ohne ein Geräusch zu verursachen. Die Fenster waren mit kindlichen Motiven beschmiert. Es waren farbenfrohe Blumen, aber sie glichen einander wie ein Ei dem anderen, als gehören sie zur gleichen Produktionsreihe. Nur die Farben variierten gelegentlich.
Tafty schob die Tür zur Seite, seine Mitfahrer führten die gleiche Bewegung synchron aus. Die schwere Holztür fühlte sich unter Taftys rauen, zernarbten Fingern warm und angenehm. Er hinterließ keinen seifneartigen Schweißabdruck, wie man es bei derartigen Außentemperaturen erwartete.
"Tafty Dunshdy, sie sind mit den Absichten meines Besuches vertraut", hauchte Tafty mit düsterer, verruchter Stimme in die Sprechanlage. Er klang beim Sprechen immer ein bisschen als hielte er sich eine alte Zeitung vor den Mund und nuschele finster in das nach Druckerschwärze duftende Papier.
Die Tür wurde aufgedrückt und Tafty tat mit seinen Leuten ein. Eine pummlige Frau begrüßte ihn. Sie trug ein zu engen, weiß-geblümtem Kleid, aus dem jedes überflüssiges Röllchen herausquoll. Ihr Gesicht war von tiefen Falten zerfressen, von denen nichteinmal die knallrot geschminkten Lippen ablenken konnte.
"Sie sind hier die Leiterin?", fragte Tafty in rauem Befehlston. Die Frau nickte: " Brigitte Kot mein Name. Die Kinder nennen mich Brotybacky ".
"ungewöhnlich", spottete Tafty.
"Ah Mr Dunshdy, folgen sie mir. Die Unterlagen sind sie durchgegangen?",fragte Mrs Brotybacky. Ihr lasches Doppelkinn wippte auf und ab wie ein Flummi, während sie sprach und ihre Stimme klang wie das Gurren einer Taube.
Tafty nickte kurz und abgehackt: "Ja".
"Und war etwas dabei?", fragte sie voller Begeisterung und lachte übertrieben hässlich und schrill. Ihr Kiefer barste auseinander, als wolle sie schreien.
Tafty nickte erneut:" Ja, in der Tat"
"Wie viele sind es denn?", ihre Stimme hatte wie aus heiterem Himmel einen süßlichen Beigeschmack erlangt.
"Zwei, eineinhalb genaugenommen", antwortete Tafty trocken.
?Wie bitte?", die Leiterin konnte einen weiteren Lachkrampf kaum unterdrücken :? Da sind sie aber auf eine Goldgrube gestoßen", fügte sie prustend hinzu.
?und eineinhalb. Wie darf ich das verstehen? Ich meine wollen sie den einen durchschneiden. Oh nein, gewiss nicht?, das schrille Lachen ertönte erneut.
?Ich meine machen wir doch gleich viertel oder achtel draus?, sie versuchte dem Witz durch Gelächter erneut Nachdruck zu verleihen und hoffte es würde auf Tafty überspringen. Doch dieser blieb sachlich und abgeschlossen. Tafty stand gern über den Dingen und machte sich wenig aus Gefühlsäußerungen. Von gespielten Launen ließ er sich schon gar nicht beeindrucken oder gar manipulieren. Aber in diesem Fall ging ihm Brotybacky, dessen Name nur einem albernen Kinderbuch entsprungen sein konnte, aber ihrem Auftreten ironischerweise gerecht wurde, gehörig auf die Nerven.
Brotybacky führte Tafty in ihren Büroraum und bot ihm einen Stuhl an, doch Tafty verharrte stramm stehend.
"Wollen sie sich nicht setzen?"
"Ich habe nicht viel Zeit", grummelte Tafty: " Ich möchte sie kurz sehen, dann erfahren sie weitere Details". Brotybacky nickte. Ihr Blick schweifte zu Taftys muskulösen Gefährten herüber. ?Waren sie es, von denen er redete oder sprach ihr Gegenüber grundsätzlich in der Wir-Form ??
Brotybacky schob den Eichenstuhl heran und führte Tafty zwei Räume weiter. In die Tür war ein Fenster aus gewelltem Glas eingelassen, was das Tageslicht in seine Spektren aufteilte und als farbenfrohes Farbspiel auf den Fußboden des Schlafraumes warf.
"Psssst", Brotybacky legte ihren Zeigerfinger demonstrativ auf ihre Lippen und bewegte den Türgriff langsam herab. Die Gitterbetten standen in regelmäßigen Abständen nebeneinander. Sie verharrten an dem Bett eines fünfjährigen Jungen, der leise atmend in seine Bettdecke eingehüllt schlief. Ein heller Lichtpunkt fiel auf seine kleine, knubblige Hand.
"Chat Tai -Bei ihm besteht kein Zweifel, er ist in etwa das größte Naturtalent, was ich je erlebt habe. Sagen sie, gibt es da einen Gegenstand, mit dem er besonders oft spielt, etwas, was er immer bei sich hat?", Taftys trockene Stimme schwebte über dem Kind wie ein brodelndes Gewitter.
Brotybacky schüttelte heftig den Kopf:"Nein, nicht, dass ich wüsste, aber ich hab das hier. Es ist ihm beim Spielen neulich aus der Tasche gefallen. Höchst seltsames Teil, bestimmt eines dieser neumodischen Spielzeuge, hat bestimmt nichts zu bedeuten", gurrte Brotybacky und holte ein blau leuchtendes Objekt aus der Seitentasche ihres Kleides hervor. Es wurde auf ihrer rauen Handfläche ganz warm.
Dem sonst so steifen Tafty fielen fast die Augen aus dem Kopf. Die Adern quollen an seinen Händen hervor und seine Handflächen wurden nass.
"Geben sie her",forderte Tafty und griff mit zittrigen Händen nach dem Stein.
"Das glaube ich nicht, was für eine Größe", flüsterte er und drehte ihn prüfend um die eigene Achse. Dabei presste er seine Finger gegen den Stein, um die Oberflächenstruktur zu begutachten.
"Er ist zerbrochen", bemerkte er.
"Wie auch immer",sagte Brotybacky:" Es wäre gut denkbar, so oft wie die Kinder mit den Dingern werfen".
Tafty stockte der Atem :"Werfen?!", entsetzen mischte sich mit Überraschen.
Brotybacky zuckte mit den Schultern.
"Beeindruckend, ich will den Jungen sofort. Ich richte ein Abholkommando ein und trage den Transport für übernächste Woche Donnerstag ein".
Brotybacky begleitete seine Worte mit einem konstanten Nicken. "An dem betreffenden Tag geben sie ihm eine Buaminkapsel, ich werde ihnen das Medikament innerhalb der nächsten Tage zukommen lassen. Achten sie darauf, dass er vorher möglichst die Toilette aufsucht, wir haben da so unsere Probleme mit den Jüngeren und... vertrösten sie die Eltern. Erzählen sie ihnen er sei weggelaufen, entführt worden oder besser noch, sie wüssten es
nicht- das sind die beliebtesten Versionen. Es verschwinden heut zu Tage täglich Kinder, da ist es nichts Besonderes".
Brotybacky wurde zunehmend unruhiger. Mit den Komplikationen, die sie erwarteten war sie ganz und gar nicht zufrieden. Doch ihre Hände klammerten um das Gitter und wippte ungeduldig hin und her ohne, dass sie ein Wort hervorbrachte, während sich der Regen über sie Ergoss. Brotybacky blieb tapfer und äußerte keinerlei Einwende. Sie wusste das es gefährlich war - sie kannte genügend Beispiele. Stattdessen nickte sie nur.
"Selbstverständlich wird man ihnen die Story nicht abnehmen, aber wir werden dafür sorgen, dass sie aus der Sache herauskommen. Man wird ihnen nichts nachweisen können", versprach Tafty. Brotybacky hoffte es inständig, aber auf Taftys Versprechen konnte sie sich wohl kaum verlassen. Er war ein Geschäftsmann, ihm ging es ohnehin nur um seinen Profit und vor allem den Profit des Systems. Einen Schuldigen suchten sie immer und wer würde eher in Verdacht geraten, als sie, als Hauptverantwortliche für den jungen Nachwuchses?
Tafty holte ein Klemmbrett hervor und notierte etwas. Das Kratzen des Kugelschreibers auf dem Papier war das einzige Geräusch außer Brotybackys schwerem Atem. Wenn Taftys Besuch endlich vorüber wäre würde sie sich erst einmal eine Zigarette gönnen.
"So weit zu dem Jungen. Wir haben einen weiteren Fall, nicht so dringend versteht sich. Cerice Schmid - bei ihr ist es eher der Normalfall an Begabung, den wir bei potentiellen Kandidaten sehen. Aber was heißt schon normal ?", erklärte Tafty. Cerice war ein hübsches Kind, mit großen graugrünen Kulleraugen und einer winzigen Stupsnase.
"Sie muss noch reifen, wir warten noch einige Jahre und entscheiden dann. Verfolgen sie bitte ihre Schullaufbahn, wir merken sie uns und werden sie zu gegebenen Zeitpunkt noch einmal begutachten", verkündigte Tafty. Damit war seine Besuch beendet. Brotybacky begleitete ihn und seine Kollegen voller Erleichterung zur Tür.








-13 Jahre später-







Kapitel 1:Erwachen

Halb zehn, Cerice lag mit weit geöffneten Augen auf ihrem Bett. Der Fernseher flimmerte leicht bläulich, wie sie fand vor sich hin. Leichter Regen sprühte gegen die Fensterscheiben und verursachte beruhigendes Prasseln. Sie hatte den Fernseher auf ?lautlos? geschaltet. Die bunten Bilder sollten den Raum beleben. In ihrem Inneren herrschte die Art von Starre oder Taubheit, die einem Menschen jede Art von Wahrnehmung verweigerte. Es war ein Zustand der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie war im Stande jede auch noch so ungeliebte Tätigkeit hinzunehmen ohne Veränderung zu fühlen. Alle Hausaufgaben wie eine Maschine zu erledigen wäre kein Problem gewesen, aber es könnte sie niemals erfüllen ihren Zustand zugunsten von Sinnvollem zu nutzen. An diesem Abend schien niemand für sie da. Normalerweise störte sie ein bisschen Zeit für sich kaum, zumal Sonntag war und kaum einer an diesem Abend mehr als die nötigen Schularbeiten tat.
Unter dem Bett stand eine Flasche eines Biermixgetränkes. Eine süßliche Mischung, die weder lecker noch herb schmeckte und den Flaschenhals mit den Lippen verklebte.
Es war nun eine Woche her, dass sie ihm zum ersten mal begegnet war, der mit seinem bloßen Anblick alle ihre Sinne auf sich bannte.
Sie begegnete ihm gelegentlich in der U-Bahn, in geschäftlicher Tracht und von hohen uniformierten Würdenträgern umgeben- wahrscheinlich Manager oder Geschäftsführer.
Womöglich war er der Sprössling einer reichen Familie, der gerade ein Unternehmen geerbt hatte.
Er saß auf seinem Plastiksitz gerade wie auf einem Thron und tat niemals eine unüberlegte oder unsinnige Bewegung. Eher schien es als lauere er, wie ein Wolf, der seine Umgebung durch die geschärften Sinne eines Jagdtieres absorbierte. Er sah nicht bloß gut aus, mit seinem athletisch gebauten Körper und den nahezu butterweichen Gesichtszügen, als habe man ihn nach dem Vorbild eines Calvin Klein Werbeplakats modelliert. In seinen leer aus den Augenhöhlen hervorstrahlenden stahlblauen Augen lag etwas Zerrissenes, als würde eine erbitterte Schlacht in seinem inneren toben. Seine Stirn war mit einem hellen Sportstirnband bedeckt, was in seiner geschäftlichen Gesellschaft aus Krawatte und Anzug wie ein Fremdkörper wirkte.
Was sie aber am meisten beeindruckte und zugleich beängstigte war der Rausch, den sein Blick in ihr auslöste. Es war anders, als die typischen Glücksgefühle einer verliebten, eher war es eine unterschwellige Anziehungskraft, als würde er in ihren Verstand kriechen und alle Sinne auf ihn fokussiere und er schaute so unschuldig, so bedacht, als wäre er gar nicht darüber bewusst, was er tat. Sie war dem Jungen erst wenige Male begegnet, aber er hatte sich bereits als etwas ganz und gar Besonderes, äußerst interessantes Phänomen in ihre Erinnerung eingraviert. Sie konnte nicht genug von ihm bekommen und paradoxerweise fürchtete sie sich davor ihm zu begegnen, war aber gleichermaßen Enttäuscht wenn es nicht passierte.
Womöglich ging es jeder wie ihr und dies machte es umso schmerzhafter, weil es für sie so besonders schien. Wenn sie ihm begegnete zogen sich ihre Eingeweide zusammen, dann konnte sie kaum atmen und je näher er war desto heftiger wurden ihre Reaktionen. Sie spürte einen leichten Schock, ein Stich, ein besonders heftiger Herzschlag, der sie in luftige Höhen beförderte, in dem Moment in dem sie ihn sah.
Sie lag noch immer in ihrem Bett. Die Decke war zerknautscht, zu einem massigen Knäuel aufgebäumt und bedeckte ihren Körper kaum. Zu oft wandte sie sich auf die entgegengesetzte Seite und wälzte sich immer wieder aus der Ruhe. Ihre Gedanken hatten sich in unumgänglichen Schleifen verlaufen.
Ihr Blick, starr und leblos auf die wechselnden Bilder des Fernsehers gerichtet. Eine Show lief, sie wusste nicht welche. Der Moderator kam ihr bekannt vor, ab und zu wurde das Publikum eingeblendet. Sie bewertete nicht was sie sah, sondern nahm es auf, um es im nächsten Moment wieder zu vergessen.
Doch was in dieser Sekunde geschah folgte nicht dem Erwarteten, geschweige denn physikalischen Gesetzen. Sie war schon fast eingenickt, als die schillernden Farben des Bildschirms auf einmal verschwammen. Ein Schreck durchfuhr sie. Sie stemmte ihre Handfläche gegen die Matratze. Vor ihren Augen bewegte sich bloß ein undurchschaubarer Brei. Doch sie fühlte, wie sich ihr Arm anspannte und die Muskeln nach einiger Zeit unangenehm zu schmerzen begannen. Ihr Oberkörper lag nicht, sondern schwebte.
Dann begann sich der gesamte, spärlich beleuchtete Raum zu schwärzen. Ihr Herz schlug schneller, sie bekam Angst, Panik, suchte hektischen die Bettkante und grub ihre Finger unter den Stoff. Dann hörte sie die Stimme, die von nirgend woher und zugleich von allen Seiten zu kommen schien, als hätte sie ihren Ursprung in ihr und würde direkt in ihren Kopf sprechen: ? Mach die Tür zu ?, herrschte eine genervte, tiefe Stimme: ? Hast du die Daten gesendet ??
Sie sprach nicht zu ihr. Die Stimme der zweiten Person schien sie nicht zu hören.
?Na gut, für heute sind wir fertig, jetzt schließ endlich die Türen. Hinterher erfrieren sie uns noch und du weißt, sie bringen uns noch um, wenn wir die Heizkosten in die Höhe treiben?, die Person schien beunruhigt.
?Wo der Junge schon wieder ist ??
"ausgegangen?, ein feuchtes Lachen ertönte: ? Ich kann´s ihm nicht übel nehmen. Irgendwann braucht jeder mal seinen Spaß - gerade er?.
Lange verblasste das Geräusch, bis die Stimme doch wiederkehrte: ? Sie können uns schon hören, zum Teil. Das schreit mal wieder nach einer guten Ausbeute. Ich liebe dieses unsichere Säuseln in meinen Ohren ?, schwärmte er.
Nach einiger Zeit wandelte sprach die Stimme wieder aus voller Empörung: ? Nein, ich belästige sie nicht, sicherlich, es ist nur, ach, vergiss es, lass uns fahren?.
Mit diesen Worten kam sie in den Raum zurück. Vollkommen gelähmt und verschreckt starrte sie auf den Fernseher - die gleiche Sendung, der gleiche Moderator. Was war bloß geschehen ? So etwas war kaum möglich ?
Eine von ihrem kranken Verstand kreierte Vision oder ein Bruchstück eines wirklichen Vorkommens und was hatten die Sätze zu bedeuten?
Sie öffnete das Fenster, um ihren Kopf zu klären. Als sie ihre Beine belastete spürte sie, wie sehr sie zitterten und wie weich und schwach sie waren.
Dann strömte die feuchte Luft hinein. Sie roch die durch die Witterung intensiver duftenden Blätter. Alles wirkte so vertraut.
In dieser Nacht fand sie keinen Schlaf. Die Müdigkeit übermannte sie erst am nächsten Morgen während des Religionsunterrichtes, als sie dazu bestrebt war den Kopf auf die Tischplatte zu legen. Doch sie konnte ihr Verlangen besiegen.

Von nun an plagte sie täglich die Angst, dass sich der Vorfall wiederholen können. Bei dem bloßen Gedanken wurde ihr übel . Doch ihr Leben folgte in den nächsten Tagen dem üblichen Trott ohne jegliche Zwischenfälle. Am Samstag blieb ihr nichts anderes übrig als Marius in seiner bodenlosen Langeweile Gesellschaft zu leisten.
Zusammen sahen sie sich Filme und PodCasts an, bis sie es nicht mehr aushielt und sich zur Verabschiedung überwand. Gegen Mitternacht fuhr sie durch ausgestorbene Straßen, während kühler Fahrwind ihr Gesicht streichelte.
Zu Hause begutachtete sie ihre geröteten Wangen im Spiegel. Sie sah müde aus, die Lieder waren eingefallen. Auch innerlich herrschte Erschöpfung und Leere. Hinter ihrem porzellanartigem Gesicht brannte Schmerz. Sie wusste nicht woher er genau kam. Möglicherweise wusste sie wie so oft nicht, was eigentlich zu tun war, was sie wollte und welche Richtung sie überhaupt einschlagen sollte.
Tief drinnen brannte noch immer die Hoffnung ihm eines Tages zufällig über den Weg zu laufen. Sie könnten sich näher kennen lernen und vielleicht, ganz vielleicht ausgehen. ?Wie irrelevant?, sagte sie sich. Ihre Gedanken derart ausschweifen zu lassen würde sie nur in tiefe Depressionen stürzen. Stattdessen zog sie sich um.
Sie zog sich gerade ein neues Top über, als es passierte. Wieder verschwommen die Farben. Unter dem grellen Licht der Badezimmerlampen schienen sie zu schmelzen.
Da sie wusste, was im Begriff war zu passieren schrie sie so laut sie konnte. Doch aus ihrem Mund kam ein dumpfer Brei, unverständliches Gemurmel, doch ihre Stimmbänder waren nicht im Stande einen klaren Ton zu formen oder einfach nur laut genug zu sein. Es war als hielte man ihr ein Tuch vor den Mund. Tief in der Magengrube bahnte sich Übelkeit an. Sie sank bewusst auf den Kachelboden, um ihre quadratische, glatte, kühle Oberfläche zu fühlen. Wenn sie auf dem Boden kroch könnte sie wenigstens nicht mehr fallen und da sie nichts sah, war sie Struktur des Bodens eine gute Orientierungshilfe, wenn man in so einer Situation überhaupt noch irgendetwas als ?gut? befinden konnte. Sie fühlte kaum noch etwas als Angst. Panik überwältigte sie, sodass sie mit den Händen um sich schlug. Die Stimme kam nicht. Statt dessen erschlafften ihre Muskeln, als würden sie von lähmenden Gift durchströmt.
?Man will mich fesseln?, dachte sie und schnappte nach Luft, obwohl sie genug Luft bekam. Sie bildete sich bloß ein, dass ihre Kehle zuschnürte: ? Komm mit mir?, da war sie wieder. Ein kaltes Hauchen. Ein nasser, unappetitlicher Ton.
Doch mehr sagte sie nicht. Die Lähmungserscheinungen schwanden und es wurde wieder hell. Diesmal hatte man zu ihr gesprochen - direkt zu ihr.
Einen Moment lag sie reglos auf dem Boden des Badezimmers und wagte es kaum zu atmen. Es war wie beim ersten Mal - kurz danach schien alles unverändert. Ihre Körperfunktionen arbeiteten einwandfrei. Nur raste ihr Herz.
?Wie konnte das sein??, fragte sie sich. Mit ihr musste etwas nicht in Ordnung sein. Womöglich war sie wahnsinnig, brauchte wirklich psychologische Hilfe - wer konnte das schon wissen.

Es klingelte an der Tür - ausgerechnet jetzt. Das laute Geräusch ließ sie aufhorchen.
Sie zog sich an dem Rand der Badewanne hoch, setzte sich und stand schließlich auf.
Als sie die Treppe hinunterlief fragte sie sich, wer um diese Uhrzeit noch klingeln konnte. Womöglich ihre Schwester, die den Schlüssel vergessen hatte. Doch hinter dem trüben undurchsichtigem Glas standen mehrere Gestalten- große Gestalten. Sie erkannte ihre mächtigen Umrisse und zögerte kurz, doch dann schob sie den Riegel beiseite.
In der Türschwelle standen mehrere förmlich gekleidete Männer in grauen Anzügen, mit sorgsam in Richtung Hals gestriegelten Haaren, die in einer dichten Schicht aus Haargehl eingelegt waren. Die meisten von ihnen überragten Cerice um zwei Köpfe.
Ihr Erscheinungsbild war zweifellos respekteinflößend.
Der vorne stehende hatte einen kurzen Stoppelbart und krauses, trockenes Haar. In diesen Punkten hob er sich von der Gruppe ab. Der neben ihm Stehende war etwas kleiner, hatte eine Glatze und buschige Augenbrauen, die wie Unkraut zu wuchern schienen.
Der Vordere Ergriff das Wort: ? Wir würden gerne mit ihrer Mutter sprechen. Es geht um die Klärung einiger wichtiger Angelegenheiten?, er sprach ruhig, fast süßlich und langsam, als wäre sie nicht im Stande ihn zu verstehen. Cerice mochte die Art nicht, in der er seine in einem abgehobenen, geschäftlichem Gewand servierte und klare Informationen zurückhielt.
? Aber sie haben doch bestimmt ein Uhr?, sagte sie schnippisch.
?Zwölf Uhr dreiundfünfzig um genau zu sein?, stellte der Glatzköpfige fest.
?Spielt keine Rolle. Würden sie nun bitte ihrer Mutter bescheid geben. Es ist wichtig. Unser Zeitplan ist sehr eng geschnürt ?,verkündete der vordere wieder in seinem wichtigtuerischen Tonfall.
Sie wollte die Gestalten, welche aussahen als seien sie einer Behörde entsprungen, nicht länger hinhalten, obwohl sie zu gerne noch ein bisschen länger mit ihnen diskutiert hätte. Doch sie verspürte den Drang der Situation zu entfliehen. Sie war ihr nicht geheuer. Irgendetwas wirket bedrohlich und ließ Unwohlsein in ihr aufkommen.
?bescheid geben? war gut, -wecken oder mitten in der Nacht aus dem Bett schmeißen würde es besser treffen.
Cerice gehorchte dennoch: ? Mum, da will jemand mit dir reden?
?was ist denn??, sie klang genervt und noch etwas genervt.
?Da sind Leute an der Tür, die mit dir reden wollen?, erklärte Cerice.
?Es ist doch... mitten in der Nacht, was fällt ihnen ein uns mitten in der Nacht zu belästigen??, murmelte sie, während sie sich schnell eine Hose und einen alten Pullover vom Vortag überzog.
?Was fragst du mich?.
Dann quälte sie sich die Treppe hinunter. Ihre Haare waren zerzaust und die Augen mit müden Ringen unterlegt.
Die Bürofraktion hatte sich mittlerweile im Flur eingenistet. Mit Entsetzten stellte Cerice fest, dass ihr einer von ihnen bekannt vor kam. Ein Junge - der Junge in Anzug und hellem Stirnband. Bei seinem Anblick begann ihr Herz augenblicklich zu rasen. Der Schock durchfuhr sie von oben bis unten. Sein Anblick löste ein Mischung aus intensiven Glücksgefühlen aus, aber erweckten auch drückenden Fluchtinstinkt.
Was tat er hier ? Auf einmal schwebte sie in einer anderen Sphäre. Ihr Hals wurde trocken, ein Gefühl von Taubheit hielt sie Gefangen. Für einen Moment lastete auch sein Blick auf ihr. Als wolle er sie zerschmelzen lassen, so scharf und tödlich durchbohrten sie die stahlblauen Augen.
?Sehr schön ?, lobte der Vordere: ? Würdet ihr mir nun bitte folgen, Mrs. Schmidt ?, wies er ihre Mutter an.
Doch diese spie ihre ausgewachsene Empörung auf die Besucher herab: ? Was erlauben sie sich, mitten in der Nacht hier hereinzuplatzen. Was wollen sie überhaupt und wer sind sie ??.
?Ich bitte um Verzeihung, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Tafty Dunshdy. Ich müsste ihnen bekannt sein. Ich bin zwischenzeitlich in dem städtischen Kindergarten tätig?, erklärte Tafty.
"Ich betreue ihren Sohn", fügte Tafty süßlich säuselnd hinzu, als keine Reaktion zurück kam . Ihre Mutter schien schlecht zu sehen. Normalerweise trug sie Kontaktlinsen. Uhrplötzlich wich jede Aggression aus ihrem faltendurchfurchten Gesicht. Sie begann peinlich berührt in einen Lachanfall zu verfallen. Es war fast schon gruselig, wie schnell ihre Stimmung umschlug: ? Oh, Tafty, natürlich, Tafty?, sie lachte erneut gekünstelt, fast als müsste sie husten.
?Nun gut, dann folgen sie mir bitte ?, sagte der Glatzköpfige, der sich gleich darauf als Mr Russel vorstellte.
?Aber das ist mein Haus, vielleicht sollte ich sie besser ins Wohnzimmer führen?.
?Bitte, das ist doch gar nicht nötig?, ein breites Lächeln, was alle Zähne offenbarte, zeichnete sich auf Russels Gesicht. Nun wurde sogar Cerice, welche in ihrer Überwältigung kaum in der Lage zu jeglicher Empfindung war skeptisch. War es nur ein Mittel der Kontrolle oder eine geschäftliche Angewohnheit die Führung übernehmen zu wollen? Oder wussten sie wirklich, wo das Wohnzimmer war? Zugegeben, so einfach war es nicht die richtige Tür auf Anhieb zu finden. Immer hin standen drei, kahle, weiße, an sich gleiche Holztüren zur Verfügung.
Ihre Mutter gab sich geschlagen. Sie war wohl zu müde und verspürte den Wunsch wieder in ihr Bett zurückzukehren, als dass sie sich auf eine Diskussion einlassen würde.
Merkwürdigerweise fanden die Fremden das richtige Zimmer und wiesen Cerice und ihrer Mutter separate Sessel zu. Die Anzugfetischisten nahmen auf der Couch Platz:? Also,
Mrs. Schmidt, sie wollten wissen, warum wir gekommen sind?, begann Tafty: ? Nun, wir sind nicht bewilligt ihre Zeit lange in Anspruch zu nehmen. Um ehrlich zu sein haben wir auch nicht viel davon. Aber wie sie unschwer erkennen können, handelt es sich um eine wichtige Angelegenheit?. Der herablassende Unterton in Taftys höflicher Ausdrucksweise kombiniert mit einer Stimmfarbe, die einen ruhigen, geduldigen Charakter besaß, war nicht zu verkennen.
?Sollte er doch endlich sagen worauf er hinaus wollte, wenn ihm seine Zeit so kostbar war?, dachte sie und versuchte ihren Blick gekonnt auf den Esstisch zu werfen, der bereits für das Frühstück gedeckt war, um ihn von dem Jungen abzuwenden. Dieser schien sie anzustarren, als wäre sie etwas Merkwürdiges oder besonders Abstoßendes. Etwas für das man sich brennend interessieren konnte, es aber trotzdem lieber auf Distanz hielt.
?Es geht - um es kurz zu fassen - um ihre Tochter. Wie sie wissen bin ich ein - ich will nicht prahlen, aber doch recht fähiger Pädagoge und habe in letzter Zeit merkwürdige Verhaltensweisen bei ihr beobachtet?, erklärte Tafty.
?Wie bitte??, Überraschung und Empörung kamen zusammen: ? Sie haben Cerice beobachtet??.
Sie zuckte augenblicklich zusammen.
?In der Tat und ich habe ein intensives Gespräch mit ihr Geführt, was mich in meiner Annahme bestätigt hat?
NEIN, NEIN, das war eine Lüge. Niemals hatte Tafty mit ihr gesprochen. Außer sie aus der Ferne mit finsteren, stechenden Blicken zu bewerfen herrschte kein Kontakt zwischen den beiden. Schon gar nicht würde Tafty mit ihr über ihre Probleme reden, geschweige denn, dass sie den Drang dazu hätte sich Tafty anzuvertrauen.
?Da-?, ihre Stimme erstarb augenblicklich. Die Stimmbänder erschlafften, der Hals schien gelähmt. Schon wieder diese beängstigende Macht, die ihr die Kehle zuschnürte. Sie versuchte zweifelt einen Ton hervorzubringen, es musste aussehen als würde sie würgen, doch niemand schien ihr Beachtung zu schenken und niemand sah, dass es ihr nicht gut ging. Ihre Mutter schien von Taftys Vortrag über ihr angebliches Gespräch gebannt und von den Männern schien sich niemand zu interessieren.
Als wäre es gewöhnlich, ja gewöhnlich - normal. Ja, vielleicht verursachten sie es sogar auf irgendeine Weise und einer von ihnen starrte sie immer noch an, als wäre sie nicht von dieser Welt.
?Hören sie doch. Das Mädchen hat ein seelisches Problem. Sie scheint Dinge zu sehen oder hören, welche nicht existieren ?, erklärte Tafty. Ihre Mutter nickte zwischendurch kurz, dann schaute sie skeptisch und fragte, warum Cerice nicht zuerst mit ihr geredet haben solle.
?Sehen sie doch, das Mädchen ist verwirrt und hat sich ausschließlich mir anvertraut, aus Angst ihre Mutter zu enttäuschen?, auf einmal richteten sie alle ihre Augen auf sie, als wäre sie ein Ausstellungsobjekt. Ihre Knochen zuckten noch immer und sie rang nach Luft, aus Angst zu ersticken.
?Cerice??, fragte ihre Mutter besorgt.
?Das ist nichts, sie ist nur nervös?
Cerice biss die Zähne zusammen. Aller Hass auf Tafty quoll empor und sie konnte nicht anders, als sich gegen den Zwang zu wehren, der ihre Muskeln dazu bewegte zu verkrampfen. Tafty log und niemand würde ihr glauben, wenn sie nicht mal in der Lage war etwas zu sagen. Ihr Blick viel erneut auf den Jungen. Möglicherweise sollte sie auch ihn hassen, vielleicht war es besser so.
Immerhin schaute er ihr zu, während sie gegen die Qualen ankämpfte, von denen er zu wissen schien und nicht handelte. Nur verachtendes Starren !
?Oh, aber was soll ich denn tun??, hörte sie ihre Mutter besorgt fragen.
?Wir nehmen sie mit, nur für ein bis zwei Stunden und führen ein paar Tests mit ihr durch. Bezüglich der Uhrzeit will ich mich noch einmal entschuldigen, aber wir haben einen engen Zeitplan und arbeiten in Notfällen schon mal rund um die Uhr. Unser Service ist nicht immer
verfügbar ?, Tafty lehnte sich tief über den Tisch, bis sie ihrer Mutter mit seinem speichelleckerischem Blick bannte.
Doch diese Schüttelte den Kopf: ? Kommt nicht in Frage. Ich weiß ja nicht mal für wen sie überhaupt arbeiten. Psychologen vor der Haustür und das auch noch zu unhumanen Zeiten, das kann einem schon merkwürdig vorkommen ?, sie klang empört, nahm Cerice in Schutz.
?Aber, wenn sie die Hilfe doch will?
?Willst du Cerice??
?NEIN, NEIN, Nein ?, schrie sie innerlich. Doch dann übermannten sie stechende Kopfschmerzen, als würde sich ein unsichtbares Etwas in ihrem Schädel einnisten und voller Freude darin herumkriechen. Nein, das durfte nicht passieren. Sie spürte, wie sie die Kontrolle erneut verlor, ohne dass sie sich wehren konnte
Diese Leute durften sie nicht entführen. Hilflosigkeit übermannte sie. Sie musste den Raum verlassen - und zwar sofort, solange ihre Beine noch funktionieren. Kurzerhand sprang sie auf und rannte förmlich unter den tadelnden Blicken der Sitzrunde.
Auf der Treppe stockte ihr der Atem. Sie keuchte, als würde sie um ihr Leben rennen und fühlte sich, als sie schließlich die Zimmertür hinter sich zuschlug, kurzzeitig sicher. Aber es war nur ein Gefühl, ein Gefühl was, wie sie wusste trügte, weil sie ihr Zimmer gewohnt war, es war ihre Welt, ihr Stück Land, worin sie sich nun verschanzte.
Cerice griff nach der Bettkante. Das schwere Holzgestell zu verschieben fiel ihr nicht einmal schwer. Ihre Angst flößte ihr ungeahnte Kräfte ein. Sie konnte das Adrenalin förmlich schmecken. Doch dann brach die Erschöpfung wieder durch. Sie sank auf ihrem Sofa zusammen, kauerte sich eng zusammen, sodass die Knie angezogen waren. Die Arme schlang sie um ihre Beine, sodass ihr Körper auf ein Minimum komprimiert war. In dieser Stellung verharrte sie nun und beobachtete, wartete auf etwas, vielleicht darauf, dass die Leute endlich gingen. Nichts passierte, sie taten es nicht und Cerice lauerte, hielt Wache. Sie versuchte ihre Sinne zu schärfen.
Und dann ein leises: ? darf ich rein kommen??, schon wieder eine Stimme, eine Stimme, die nur in ihrem Kopf existierte. Sie schien bereits eine Art Allergie gegen das Phänomen aufgebaut zu haben und konnte den Fremdkörper klar ausmachen. Augenblicklich begann sie zu schwitzen und zu zittern. ? geh weg, aus meinem Kopf, hau ab?, wimmerte sie und schluckte Wasser. Es wurde feucht, sie wurde kraftlos und verlor die Kontrolle, so geschädigt wie sie in diesem Moment war und weinte aus Erschöpfung und Angst.
?Bitte?, jetzt sprach er, flüsterte. Sie fühlte Wärme, meinte sogar tröstende Hände auf ihrem Rücken gespürt zu haben.
Sie ließ ihn hinein. Aus er Nähe war er noch hübscher, noch perfekter, als sie es sich erträumt hätte. Doch sie sah ihn kaum, war innerlich ausgelaugt und kalt.
?Was willst du ??, fragte sie.
?Dich fragen, ob du Antworten möchtest?, sagte er ruhig.
?Antworten?!?, sie klang überraschend, ließ ihn dann aber hinein und sank wieder schlaff auf dem Sofa zusammen. ?nicht mehr und nicht weniger?, erklärte er.
?Also gut?, begann sie und nahm direkt eine Abwehrhaltung ein: ? manchmal, in letzter Zeit da fühle ich mich... komisch, weißt du was ich meine? Wenn man nicht weiß, ob jemand wirklich da ist oder du es dir nur einbildest ?
?Ja, ich weiß, was du meinst ?, sagte er und setzte sich neben sie.
?Dann sag mir, was mit mir passiert?



?Was wollen diese Leute von mir??
?Sehen, ob du geeignet bist ?, sagte er.
?Geeignet wofür??
?Cerice?, sagte er trocken.
?Ich hab keine Zeit dazu dir alles zu erklären, du würdest mir ohnehin nicht glauben?, sagte er ruhig und sah sie an, direkt in ihre müden, grünen Augen.
?Ich muss hier weg, oder??, sie stand hektisch auf: ? Ich will nicht mit ihnen mitgehen?.
?Sie haben dich registriert. Es gibt wahrscheinlich keinen Ort auf der Erde, an dem du geschützt wärst?, sagte er.
?Aber, aber, das kann doch gar nicht sein. Es sind doch nur ein paar... Psychologen?, rief sie herablassend und riss sie einen verstaubten Rucksack aus einer ihrer Schränke. Dann suchte sie einen Schlafsack, den sie in den knittrigen Rucksack stopfte. Der Junge hielt sie auf, indem er sie packte an den Schultern packte : ?Du hast keine Chance?.
?Warum sagst du mir das??,brüllte sie schließlich. Die Frage ließ ihn für einen Moment versteinern.
?Shhhhh..ich... ich weiß es nicht?, stammelte er: ? Ich wollte dir nur sagen, dass ich auf dich aufpassen
werde?, flüsterte er.
Plötzlich schaute sie sich zu ihm um. Seine Verwirrten Blicke suchten einen Weg an ihr vorbei: ? Ich muss gehen?. Sie lief wie gehetzt von einer Wand zur anderen, als würde man sie in einem zu kleinen Raum einsperren. Die Gestalt des seriös gekleideten Jungen, der breitbeinig in der Türschwelle stand war zu respekteinflößend , als das sie ohne weiteres an ihm vorbeilaufen könnte. Sein Geruch glich edlem Marzipan, den sie auf einmal in sich aufsog würde ein Leben lang in ihrer Erinnerung bleiben.
?Wer bist du, sag mir wie du heißt? ,hastete sie, während das Tagebuch mit ihrem sinnlosen Geschreibsel in dem Rucksack verschwand.
?Chat?, sagte er kühl.
?Ich muss hier weg, ich kann nicht mehr?, gestand sie. Sie musste erreichen, dass er verschwand. Sie konnte ihn kaum ertragen. Zu viel hatte sich in der letzten Stunde in ihrem Kopf angesammelt. Zu viel, was sie nicht glauben konnte, was sich vermischte und sie nicht mehr los ließ. Es schlug ihr auf den Magen. Sie spürte beinahe dessen säuerlichen Inhalt, der in ihrer Kehle brannte. Vor gut zwanzig Minuten hätte sie sich geschworen ihn niemals gehen zu lassen. Nun war der einzige Gedanke, fern von jeder Überlegung, wie sie selbst erkannte die Flucht.
Doch Chat machte keine Anstalten sich von der Tür weg zu bewegen. Sie konnte kaum einen Schritt näher kommen. Ihre Knie wurden ganz steif und von leichtem Zittern durchfahren.
?Geh nicht, an der nächsten Straßenecke fangen sie dich ohnehin ab?
?Sag mir, was diese Leute mit mir machen ??, sie weinte noch immer. Die Augen nass. Ihr gesamter Mundraum schien verschleimt. Mit Weinen war sie besser aufgehoben, als sie dachte: ? Noch nicht viel. Sie sagen die Wahrheit. In zwei Stunden bist du wieder hier?, er lehnte den Ellbogen lässig gegen den Türrahmen, sodass das weiße Hemd zum Vorschein kam.
?Das beantwortest meine Frage nicht?
?Nur ein paar Tests, glaub mir, nichts schlimmes?
?Warum bist du dann hier?, sie blieb beharrlich. Ihre scharfen Blicke schienen Wirkung zu zeigen.
?Weil ich dich schützen will vor dem, was kommt?
?Bist du nicht einer von ihnen??, fragte sie.
Seine blauen Augen schimmerten undurchdringlich. Er schien sich kaum zu bewegen, während sie mit heftigem Körpereinsatz gestikulierte und im Begriff war vor Erschöpfung unter ihrem eigenen Gewicht zusammenzusinken.
?Ich... weiß es nicht?, kaum hatte er die Worte ausgesprochen wurde sein Atem unregelmäßig. Er hechelte und schnappte nach Luft. Dann ächzte er schmerzerfüllt, seine Hand fuhr an seine Stirn, welche von einem weißen Sportstirnband verdeckt wurde. Er nahm einige Schritte rückwärts - taumelte, bis sein Körper vom Treppengeländer aufgehalten wurde.
Cerice schaute einige Sekunden betroffen zu. Sie war erschrocken, weil sie sich das Geschehnis nicht erklären konnte, aber was sollte sie schon noch glauben, geschweige denn hinterfragen, in dieser Nacht ? Sie witterte die Gelegenheit zur Flucht. Der Reiz war zu stark.
Das Mädchen meinte noch dunkelrote Flecken auf dem weißen Stirnband gesehen zu haben und hoffte, dass es Chat gut ging, was auch immer seine Absichten waren. Dann rannte sie Treppe hinunter. So schnell war sie noch nie unten gewesen.
Oh, hoffentlich ging es ihm gut, sie würde sich doch dafür hassen, wenn ihm etwas zustoßen würde...wegen ihr. Womöglich war er verletzt.
Als sie den Flur erreichte liefen ihre Gedanken längst in andere Bahnen. Sie streifte sich schnell ein paar Schuhe über, riss einen Mantel von der Gardarobe und verließ das Haus. Ihr Herz bebte, als sie die Tür öffnete. Umso erleichterter war sie, als der Knall ausblieb als sie in den Regen hinauslief. Noch war nichts passiert. Die Männer schienen ihr Verschwinden nicht bemerkt zu haben. Vorsichtig zog sie die Tür hinter sich zu.


© GeraldineReichard


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Beschreibung des Autors zu "Coribis-System der gefangenen Gedanke(Anfang)"

Prolog und erstes Kapitel meines Romans:
Der Roman handelt von der 18-jährigen Cerice, die durch den seriös erscheinenden Psychologen Tafty Dunshdy, der es versteht die Menschen in seiner Umgebung zu manipulieren, in eine fremde Welt entführt wird. Sie landet in dem militärischen Ausbildungslager ?Sacres? auf dem kargen Planeten Coribis, dessen Ureinwohner, die Horasken, bereits fast vollständig von den menschlichen Militärs ausgerottet worden sind. Der eigentliche Grund ihrer Stationierung ist ein mächtiger Rohstoff, der ?Iluea?, einen Energiespeicher, mit dessen Hilfe es ebenfalls möglich ist Zugang zu den Gedanken anderer zu erhalten und diese miteinander zu vernetzen. So entsteht ein System, welches die Gedanken aller Auszubildenden miteinander verknüpft, um diese unter Kontrolle zu halten. So soll auch Cerice allmählich umzuprogrammieren werden, um den strengen Konventionen des Regimes gerecht zu werden. Für sie bestimmt der Leiter der Anstalt, nur bekannt unter dem Pseudonym ?der Boss?, eine Partnerschaft mit dem elitären Gardisten Bico Clifton. Außerdem muss sie sich einem harten Training unterziehen, bei dem sie unter anderem lernt ihre Gedanken mit Hilfe von Iluea als Waffe einzusetzen.
Cerice findet sich kaum zurecht und wird schließlich Mitglied einer Widerstandsgruppe, angeführt von dem Gardisten Chat, der zu einer Elite gehört, die Angelegenheiten des Bosses persönlich klärt und von dem Schicksal nach der Ausbildung als willenlose Kampfmaschinen, ?Kalenhame?, zu enden verschont bleiben. Für Chat, der ihr von Anfang an Rettung verspricht entwickelt Cerice nach und nach tiefe Gefühle, doch dieser scheint zwischen dem langjährigen Einfluss des Systems und seiner Liebe hin- und hergerissen. Ohne sich dessen bewusst zu sein begibt sich Cerice in ein gefährliches Abhängigkeitsverhältnis.

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