Kleine Monster
Ja vielleicht ist das Ende jetzt wirklich gekommen... nun sitze ich hier. Es ist ein Samstagabend, gerade mal 17:37. Ich mit tausend Diagnosen sitze hier frisch gebadet, was ich wahrscheinlich hätte gar nicht tun dürfen, aufgrund der ich-weiß-nicht-wie-vielten Blasenentzündung dieses Jahr. Aber mir war das in diesem Moment egal. Ich wollte so schnell wie möglich aus dem Auto. Mein Freund, sein Sohn und ich waren einkaufen. Nichts weltbewegendes, ein bisschen Netto an einem Samstagnachmittag, was wahrscheinlich alle normale Menschen so machen. Die Dinge stapelten sich wieder mal im EInkaufswagen. In mir stieg Panik auf. Ich machte auch einfach wieder kranke Bemerkungen "Aber wir haben doch so viel Schokolade daheim... und er hat doch Plätzchen gebacken und ich auch... ja und denk doch an die Schoki im Adventskalender...:" Ich hatte Angst vor all den DIngen, die mich da aus dem EInkaufswagen anstarrten. Angst, dass ich sie alle verschlingen würde... das ich nicht mehr aufhören konnte. Das ich versuchen würde mit diesen Lebensmitteln meine innere abgrundtiefe Leere zu füllen. Diese war bereits tiefer, wie der wahrscheinlich tiefste Schacht auf diesem Planeten. Ich atmete einmal ganz tief durch und sagte mal wieder so nette Sachen zu mir wie: "Reiß dich zusammen du krankes Stück Scheisse. Der verlässt dich eh gleich...." Wütend starrte ich das ganze Zeug im Wagen an. "Nicht mit mir Freunde! Ihr müsst halt eingekauft werden. Man das ist voll normal! Ich werde euch schon nicht verschlingen..." Ich bemerkte gar nicht, das sein Sohn irgendwo in den Supermarktreihen herumlief und "Paaapaaa, Paaaapaaa" rief. Ich wusste auch gar nicht wo der liebe Herr Paaapaaa war. Ich wusste auch gar nicht wie lange ich schon vor dem Wagen stand und versuchte die Lebensmittel mit meinen Blicken zu töten. Ich zuckte zusammen, als eine alte Dame mit ihrem EInkaufstrolly versuchte sich an mir mit schönen Corona-Abstand an mir vorbei zu quetschen. Ja, ich stand da auch saudumm. Links von mir die schönen, großen Flaschen mit den herrlichsten Spiritiousen in Weihnachtsedtion, hochprozentige Schnäpse mit Nikolausmützen auf dem Deckel und edle Weine mit riesigen Schleifen um den Hals. Rechts von mir glotzen mich Weihnachtsmänner, kitschige Engel und kleine Rentiere aus Schokolade an. Vor meinen Augen begann alles zu verschwimmen. Ich sah nur noch Glitzer. "Entschuldigen Sie bitte! Mai ich steh auch doof. Und das immer mit dem Abstand, schwierig. Verzeihung." nuschelte ich der Dame in einem sichtlich verwirrten Zustand zu und versuchte den "Monster-Truck" (im wahrsten Sinne des Wortes) irgendwie beiseite zu manövrieren. Mich schauten nur zwei große, mit Falten unterlegte Augen an. Mehr war von der Dame ja aufgrund der dämlichen FFP-2 Masken ja eh nicht zu sehen. "Scho recht..." hörte ich nur unter ihrer Maske und sie stapfte kopfschüttelnd mit ihrem quietschenden Trolly an mir vorbei. Dabei konnte ich kurz einen Blick in ihr Gefährt erhaschen und ich musste feststellen, die Dame hat geschmack. Zwei mit Schleifenverzierte Weißweinflaschen zwinkerten mir zu. Ich streckte unter meiner Maske nur die Zunge raus. "Lass mich.. ich würd euch sofort vernichten, wenn mein Körper nicht gerade Besuch vom Antibiotika hätte.... ich würde euch sofort alle machen haha... und dann würde ich mich super-geil fühlen, so herrlich beschwipst... haha ja und am nächsten Tag würde ich es eh wieder bereuen und feststellen, das ich alles andere als geil bin. Das ich ein Häufchen Elend bin, das gerade absolut nichts auf die Reihe kriegt. EIne 32-bald 33-jährige Frau die Angst vor EInkäufen in einem Scheiss-Netto-EInkaufswagen hat."
Ich war so mit meinen GEdanken beschäftigt, das ich gar nicht gemerkt hatte, dass der Monster-Truck schon gar nicht mehr neben mir stand. Sein Sohn hatte ihn schon längst als Rennwagen umfunktioniert und flitzte damit durch die Regale. Immer haarscharf an den ganzen Wein- und BIerflaschen vorbei. Ich rief nach ihm und sah innerlich schon alle Flaschen durch den Laden fliegen. "Julia wir spielen jetzt ein Spiel. Ich muss dir immer hinterherlaufen" Der Kleine holte mich irgendwie wieder aus meinem Tief heraus. Seine Worte und seine liebevolle Stimme jagten mir eine Gänsehaut über den RÜcken. "REISS DICH ZAM MADAME!" schrie es wieder aus meinem Oberstübchen. Ich musste aber leider feststellen, das ich dieses Spiel heute nicht spielen kann. Meine Beine waren, wie heute schon öfters der Fall stocksteif. Als würden sie ein Zementbad nehmen. Keine Chance. Er stieß mich fröhlich und auffordernd mit dem Monster-Truck an. Ich versuchte unter der Maske irgendwie zu Lächeln, aber mir gelang nur eine komische schiefe Unterlippe die aussah wie nach einer Spritze vom Zahnarzt. Manchmal liebe ich die Masken. Nein, nicht nur manchmal, in letzter Zeit liebe ich sie eigentlich immer. Keiner sieht, wie fertig ich aussehe. ZIemlch praktisch. Ich fange an die Teile wirklich zu mögen. Ehe ich wieder aus meinem Dilirium erwacht war, musste ich feststellen das ich schon ein Game-over hatte bevor das Spiel überhaupt angefangen hatte. Der kleine war schon weiter gestürmt laut nach "Paaapaaa" schreiend. Der "Paapaaa" steckte gerade mit dem Kopf in der Kühltruhe. "Ahja... Lachs ja auch noch... Noch mehr Essen - yeah." Wieder schüttelte ich mich selbst und tadelte mich für meine kranken Gedanken. Ich hätte zugern gewusst, wie ich wohl aus der Vogelperspektive ausgesehen hätte. Wahrscheinlich wie ein kleines, armes Pacman das sich in einem riesigen Netto verlaufen hat. Ohne Ziel, ohne Mission, ohne Plan - einfach nur Lost. Ich merkte auch gar nicht wie ich den Monster-Truck doch wieder an mich gerissen hatte. ICh merkte auch nicht, das die kleinen MOnster die sich darin befanden, mich versuchten richtig fies anzulächeln. ABer ich starrte einfach durch sie hindurch. Wie ein Zombie verfrachtete ich die EInkäufe auf das Band. Die hübsche Kassiererin schien unter der Maske zu Lächeln. Allerdings konnte ich es nicht ganz deuten. Entweder war es ein "Mach schneller du hässliche Kuh, oder ein ach so ein armes scheußliches DIng... oder sie lächelte vielleicht auch einfach nur weil sie lächelte. Wer weiß vielleicht lächelte sie ja auch gar nicht sondern machte Mund-Yoga gegen Falten. Biep, biep, biep die kleinen Biester wurden durch die Kasse gezogen, total aggro packte ich sie und schmiss sie in den Truck zurück. Hoffentlich hat euch der Laser erblinden lassen! Die Kassiererin schreckte ein wenig auf, als ich die arme Mundspülung mit einem lauten Knall in den Wagen schleuderte. Dabei war die Spülung ja eine von den "Guten". Plötzlich stand Paapaaa wieder neben mir, ich glaube er hatte bemerkt wie unschön ich seine Einkäufe in den Wagen bugsiert hatte. Ich wollte sein GEsicht dabei lieber gar nicht sehen. Er hatte wahrscheinlich in diesem Moment einen ähnlichen Hass auf mich, wie ich auf die Einkäufe. Dabei waren es ja nicht mal die "Kleinen Monster" die mich so wütend oder ängstlich machten. Ich wusste dass ich es war... ich war wütend auf mich, ich hatte Angst vor mir selbst. Nein... das ist nun auch wieder nicht ganz richtig. Es war diese böse Stimme im Obergeschoss die mich so wütend machte. Diese fiese Chefin, die mir nie Urlaub gibt, keine Überstunden wertschätzt, keine netten Worte für einen übrig hat... Nie! Und ich mache nur Überstunden... ich mache gefühlt mehr wie 24 Überstunden am Tag... kann man sich nicht vorstellen, fühlt sich aber so an. Selbst im Schlaf, habe ich keine Ruhe vor ihr, das wäre ja eigentlich mein Urlaub... aber nicht mal das gönnt sie mir. Nun gut, ich will nicht von meiner Chefin reden, ich wollte ja versuchen weniger Überstunden zu machen... Ich wusste wie gesagt nicht wie Paapaaa jetzt wirklich geschaut hatte, aber ich kenne ihn. Und ich glaube ich hätte mich genauso angeschaut. Ich wünschte er würde mich anders anschauen, dazu müsste ich mich aber erst anders verhalten, aber dazu bin ich gerade nicht in der Lage. Ich meine ich bin ein zugedröhntes Pac-Man in einem Netto, das schon gar nicht mehr weiß wann es welche Medikamente bei welcher Diagnose nehmen muss. Ich nenne meinen derzeitigen Zustand einfach nur "³". Drei Diagnosen gleichzeitg. Tja, so kann ich mir wenigstens jeden Tag aussuchen über welche ich mich am meisten aufregen will. Manchmal weiß ich auch gar nicht ob ich möchte das es besser wird. Über was soll ich mich denn dann aufregen? Was ist denn dann mein Lebensinhalt? Wie gehe ich denn damit um, wenn alles besser ist? Gut, das mich die Kassiererin wieder ins HIer und Jetzt holte. Wobei es nicht mal die Kassiererin war, sondern das BIep, Biep, Biep fehlte. Komischerweise weckte mich die Stille auf. Denn ich wollte doch tatsächlich auch etwas in der Netto-Hölle kaufen. Was ich kaufte wären für andere Menschen wahrscheinlich noch viel mehr mit den Namen "Monster" betitelt worden. Hektisch quetschte ich mich an Paapaa vorbei. Denn der gute Herr hinter uns durfte auf keinen Fall seine Hackbällchen, Klopapier und den kleinen Kümmerling vor meinem "Monster-Einkauf" erledigen. Ich blickte die hübsche Kassiererin an und stammelte nur hektisch "Heets? Haben sie Heets"? SIe bilckte mit ihren großen, blauen Augen auf das Zigarettenregal. Dann schaute sie mich wieder an und nickte. Ich nickte auch. Ich wollte so schnell wie möglich hier raus. Ich fühlte mich eh schon so grausam. Noch grausamer fühlte ich mich dann, wenn ich von schönen und vorallem gesunden Menschen umgeben bin. Und mit gesund meine ich jetzt nicht nur, dass sie frei von jeglichem Medikamentenkonsum sind sondern eher die Gesundheit in ihrem Obergeschoss. Ja, das würde ich mir auch wünschen.. ein Obergeschoss ohne bröckelnden Putz, mit großen Fenster, die viel Licht herein lassen, mit einer freundlichen und warmen Einrichtung.
Mit einer hübschen Wandfarbe, netten Pflanzen die einem freundlich ihre Köpfe entgegen strecken und einen fröhlich begrüßen wenn man den Raum betritt. Aber nein... mein Obergeschoss gleicht einem alten Dachboden der mit Staub übersäht ist, Spinnweben die einem den Weg versperren, knarzende wacklige Dielen mit gefährlich spitzen herausstehenden Nägeln die nur darauf warten das man hineintritt. Und auch nur ein kleines, altes Dachfenster wo sich nur ein schwacher Lichtstrahl hindurch kämpft. So sieht es bei mir aus. Einladend ist anders.
Wieder einmal habe ich gar nicht mitbekommen dass wir schon längst aus der gelben Netto-Hölle draußen waren. Ich fand mich wieder zwischen kitschigen schneemännern die sie Knopfdruck dad leuchten anfangen. Daneben kleine Engel mit glitzernden Flügeln. Wir hatten die location also gewechselt. Nennt sich kik. Wir haben dem kleinen versprochen dass er sich noch eine Weihnachtsdeko aussuchen darf. Glitzer klebte an meinen Fingern als ich mit runzelnder Stirn eines der Engel genauer inspizierte. Ich starrte eh mal wieder nur durch sie hindurch. Den Rest kriegte ich nicht mehr wirklich mit. Ich kam wieder zu mir und fand mich auf dem Rücksitz von paapaaas Auto wieder. Ich hatte sogar immer noch meine Maske auf. Was war passiert? Ich spürte wie meine Augen feucht wurden und über die Maske liefen dicke Tränen und schließlich auf meine glitzerfinger tropften. Im Radio lief mein Lieblingsweihnachtslied wonderful dream von Melanie Thornton. Jetzt tropfte es noch mehr auf meine Finger und das glitzer legte sich sanft auf meine Jacke.
Mir fiel es wieder ein. Wir haben zwei Freunde mit ihrer Tochter von paapaaa im kik getroffen. Einladung. Irgendwas mit Glühwein und besinnliche Stimmung. Heute, später, bei ihnen daheim. Ich hörte mich nur stumpf lachen und sagem: Antibiotika, kaputt und ich bin raus. Ich hörte paapaa sagen: joah cool jo vielleicht bis später.
Daher die Tränen. Zu krank und zu kaputt um noch an irgendwas teilzunehmen. Angst alles zu verlieren. Angst und Leere.
Und auf einmal Stille. Totenstille. Aber Wärme die mich umhüllte und versuchte irgendwie zu meinem Herzen durchzudringen um es aufzutauen und es am leben zu erhalten. Mich umgabt warmes Badewasser. Ich hatte es wohl irgendwie geschafft mich auszuziehen und in die Badewanne zu setzen. Ein angenehmer und sogar fast etwas tröstender Duft von Lavendel kitzelte meine Nase. Meine Wangen brannten vom vielen weinen, meine Augen schwer und trocken. Ausgeheult vorerst. Keine Träne mehr übrig. Keine Kraft mehr noch eine rauszulassen. Aber das warme Wasser schaffte es nicht mich innerlich aufzuwärmen. Ich war allein. Paapaa und der kleine sind nochmal zu Oma gefahren. Vielleicht würden sie auch zum Glühwein-Event gehen. Besinnlich, heute, später, jetzt. Und ich? Jetzt ganz allein in einem mittlerweilen kalten Badewasser. Das sanfte Aroma war weg
.. nichts war mehr da, was versuchte mich aufzuheitern mich zu umarmen mich zu wärmen. Mit zitternden Knien stieg ich aus der Wanne.
Ja vielleicht ist das Ende jetzt wirklich gekommen... nun sitze ich hier. Es ist ein Samstagabend, gerade mal 17:37. Ich sitze hier und beginne diese Zeilen zu tippen.

Aber dann... ein vertrautes klicken an der Türe ein lautes Luuuuuuliiaaaa... ich erwachte wieder. Kein Glühwein heute, später, jetzt.
Jetzt waren meine zwei wieder da. Und ich vielleicht auch ein kleines bisschen. Und ich wusste es waren nicht die kleinen Monster aus dem Netto die mich mal wieder um den Verstand gebracht hatten. Es waren die kleinen Monster in meinem Kopf, aus meinem Dachgeschoss mit den knarzenden Dielen und Spitzen Nägeln...
Danke Paaapaaa und kleiner Schatz.


© Mimi


2 Lesern gefällt dieser Text.

Unregistrierter Besucher

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Kleine Monster"

Re: Kleine Monster

Autor: Angélique Duvier   Datum: 14.04.2022 15:58 Uhr

Kommentar: Eine schöne Geschichte, liebe Mimi! Deine Gedichte gefallen mir auch gut, es wäre schön, hier wieder einiges von Dir hier zu lesen.

Herzliche Grüße und schöne Osterfeiertage,

Angélique

Re: Kleine Monster

Autor: Mimi   Datum: 27.04.2022 17:00 Uhr

Kommentar: Wow wirklich? Vielen lieben Dank dir!!! Das freut mich sehr! :)

Kommentar schreiben zu "Kleine Monster"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.