Herbststurm

© Paul Bock

Der Himmel hatte sich drohend zugezogen. Von Westen trieb der kalte Herbstwind schwere Wolken vor sich her. Mehr und mehr verwandelte sich nun der farbenfrohe Mischwald in mattes Graubraun. Die Schatten der Wolkenberge legten sich dunkel über den Wald, und allmählich brach der Abend herein. Der Wind fegte in den Frieden der Baumwipfel hinein, ganz so wie die Brandung des Meeres sich an Uferfelsen bricht, einen Atemzug lang innehält, bevor sie sie dröhnend von neuem umschlingt. Windstöße jagten tief in die Baumschluchten hinab, wirbelten dabei Blätter und Zweige durcheinander. Rundum rauschte er durchs Geäst, das unter seiner Macht wogte und sich bog. Äste knackten, brachen entzwei, wirbelten polternd herab und rissen andere mit sich.

Hartmut befand sich schon auf dem Rückweg, als ihn der Sturm noch im Wald überraschte. Hinter ihm lag ein ausgedehnter Spaziergang. In einer halben Stunde wollte er sein Auto wieder erreichen. Der junge Mann freute sich auf einen ruhigen Abend zu Hause, an dem er sich noch die Aufsätze seiner 4. Klasse ansehen musste. Mit weiten Schritten schlug der Lehrer jetzt einen schmalen Fußweg ein, um im Schutz des Waldes den entfesselten Naturgewalten rechtzeitig zu entgehen. Mühsam kämpfte er gegen Windböen an, den rechten Arm schützend über den gesenkten Kopf gestreckt. Im Halbdunkel nahm er den Pfad vor sich nur undeutlich wahr. Den Blick zu Boden gesenkt, spürte er, wie sich seine Jacke an einem Ast verfing, zerrte daran und hastete weiter voran.

Als schließlich kräftiger Regen ins Unterholz peitschte, zog sich Hartmut tiefer ins Dickicht zurück. Er besann sich für einen Augenblick, knöpfte seine Jacke zu und beschloss, trotz des Sturms weiter zu gehen. Vorsichtig tastete er sich das dunkel drohende Baumgewirr. Der Sturmwind fegte ihm nasse Blätter und spitze Zweige ins Gesicht. Abgerissene Äste stürzten auf den Pfad. Mit gewaltigen, unsichtbaren Armen zerrte der Orkan an den Bäumen. Kronen krachten gegeneinander. Morsches Unterholz wirbelte auf.

Erschrocken fuhr Hartmut herum, als eine mächtige Kiefer – lauter als alles Tosen ringsum - hinter ihm zerbarst.

Zu spät erkannte er die Gefahr. Der Stamm splitterte. Er sah noch, wie sich der Baum zur Seite neigte und zu Boden stürzte. Er spürte noch, wie ein starker Ast gegen Kopf und Schultern schmetterte. Bewusstlos blieb er darunter liegen. Der Baumriese schwang auf dem schweren Waldboden aus.

Schon lange war der Sturm zur Ruhe gekommen, und die Wolken hatten ihre Last abgeregnet. Am sternenklaren Himmel strahlte die Mondsichel nun über den Forst, den sie in friedliches Zwielicht tauchte. Hier türmten sich hingeworfene Bäume übereinander, die sich wie rätselhafte Wesen die Arme reichten. Noch immer klatschten Wassertropfen vom Blätterdach ins gespenstische Halbdunkel herab.

Hartmut kam langsam zu sich. Ein stechender Schmerz tobte in seiner linken Schulter. Beissend zog er sich bis zum Ellenbogen herab. Vorsichtig versuchte er, das rechte Auge zu öffnen und erkannte – zuerst verschwommen, dann deutlicher -  seinen rechten Arm vor sich. Die Finger hatten sich in den aufgeweichten Boden festgekrallt. Schaudernd fühlte er klebrigfeuchte Erde in der Hand und schmutzige Krümel unter den Fingernägeln. Ein vielbeiniges Insekt kribbelte zaghaft auf der Haut. Teilnahmslos ließ er es gewähren. Der Augendeckel senkte sich müde und schloss das Halbdunkel wieder aus. Er spürte, wie Wassertropfen vom Haar übers Gesicht rannen. Die linke Wange schmiegte sich auf den Boden, der angenehm frisch war und so sein heisses Gesicht kühlte. Im Mund machte sich jetzt ein bitterer Geschmack breit. Erde und welke Blätter klebten darin. Er spürte, wie Fichtennadeln ihm ins Zahnfleisch stachen. Ekel stieg in ihm auf. Angestrengt versuchte er, Speichel zu sammeln, um den Batzen auszuspucken. Aber der Mund blieb zu trocken, und die Zunge wälzte nur die Fracht herum.

Hartmut bewegte den Kopf etwas zur Seite, um den Mundwinkel leichter vom Boden zu lösen. Er hustete und würgte das Gemenge schließlich heraus. Plötzlich jagte ein stechender Schmerz durch seinen Schädel – als ob pfeilspitze Stricknadeln ihn von allen Seiten aufspießten. Er stöhnte gequält auf. Tränen quollen ihm aus den Augen. Die Rechte ballte sich zur Faust. Erst als der Schmerz endlich nachgelassen hatte, wagte er, den Mund wieder zu öffnen und erschöpft auszuatmen.

Nun wusste Hartmut wieder genau, was geschehen war. Warum war er nur so unvorsichtig gewesen? Eine Weile lag er völlig reglos und horchte in die Nacht hinein. Er überlegte, wielange er wohl bewusstlos gewesen war. Die Bäume und Sträucher schwiegen ihn an, nur welkes Laub vor seinem Gesicht flüsterte ihm Unverständliches zu. Es roch säuerlich. Keine menschliche Stimme, kein Ruf drang zu ihm her. Vergeblich versuchte er, das Zifferblatt seiner Armbanduhr zu erkennen. Aber die Nacht verschluckte alle Konturen. Dann begann er zu zählen. Im Minutentakt mehrmals bis 60. Wieder und wieder, bis die Zahlen ihm einen Streich spielten und vor seinen Augen auf einer Schultafel zu tanzen begannen. Schließlich gab er es auf. Die Nacht würde lang werden.

Hartmut fiel ein, dass ihn niemand vermisste. Denn seine Frau war übers Wochenende mit den Buben in die Stadt gefahren, wo sie die Großeltern besuchten. Fest entschlossen wollte er die Nacht durchhalten und dem scheinbar Unausweichlichen trotzen. Auch wenn Kälte und Schmerzen allmählich einen Pakt schlossen, der ihn schon jetzt in die Zange nahm. Wahrscheinlich würden Waldarbeiter und der Förster am frühen Morgen kommen, um den Sturmbruch zu sichten. Sie würden ihn finden, wenn er laut um Hilfe riefe, ihn rasch in Sicherheit bringen.

Der Verunglückte betastete seinen Körper. Die linke Schulter schmerzte höllisch. Der Arm klemmte unter dem Bauch und war völlig gefühllos. Was war mit den Beinen los? Er spürte sie nicht mehr. Ein Kälteschauer durchzuckte ihn, und die pulsierenden Stiche in der Schulter zogen messerscharf den Rücken hinab. Wieder sausten Stricknadeln gegen die Schädeldecke. Sie lähmten sofort jeden Gedanken.

Benommen nahm Hartmut wahr, dass seine Jacke nass und sackschwer auf ihm lag. Das Hemd darunter klebte wie eine zweite Haut am Oberkörper. Feuchte Kälte kroch über ihn hinweg und schlich sich bei ihm ein. Gierig und beissend schleckte sie an Fingerspitzen und Armen, zog den Rücken hinauf. Nur an den Beinen spürte er nichts davon. Ein leichter Wind hatte eingesetzt und trieb Regentropfen aus den Zweigen herab. Sie prasselten auf ihn nieder, während die kalte Luft seinen Körper zerschnitt. Seine Zähne begannen zu klappern, der ganze Leib schlotterte, heiss fieberten Augen und Stirn. Dabei machten sich seltsame Gedanken auf und malten Bilder, genährt von Hoffnung und Verzweiflung.

Wie ein Zuschauer beobachtete er sich selbst. Mühsam holte er den rechten Arm heran, winkelte ihn ein und stemmte ihn fest gegen den Boden. Dann zog er den linken unter dem Bauch hervor und baute ihn als zweite Stütze neben sich auf. Dabei wunderte er sich, dass die linke Schulter keine Schmerzen mehr bereitete. So drückte er den Oberkörper hoch, bog die Beine ein und kniete sich hin. Schließlich wagte er, sich ganz aufzurichten und stand noch etwas wankend im Unterholz. Immer wieder fielen Fieberträume über ihn her und lähmten jeden klaren Gedanken. Hilflos starrte er vor sich hin.

Allmählich ließ der Schüttelfrost nach. Hartmut weigerte sich, in der Einsamkeit des Waldes zu erfrieren. Er beschloss, an den Waldrand zu kriechen. Vorsichtig zog er den rechten Arm näher zu sich heran, aber ein dickes Laubpolster staute sich unter dem Ärmel und bremste die Bewegung ab. Nur ellenweit folgte der Arm seinem Willen. Weil auch die rechte Faust geschlossen blieb und wie eine Egge den Boden pflügte. Angst und Zweifel fieberten plötzlich in ihm auf. Hatte ein neues Bild ihn zum Narren gehalten? Ausser Atem schloss er die Augen, um sich enttäuscht auszuruhen. Hinter seinen Lidern tanzten rote, blaue und grüne Blitze, kreisten und wirbelten ineinander.

Hartmut lauschte seinem Atem. Argwöhnisch belauerte er seine Schmerzen, die ihn wie ein Flammenmeer verzehrten. Lebenshungrig sog die Lunge kalte Luft ein. Der Kopf dröhnte und pochte. Blut jagte durch die Adern. Die Kälte hatte den letzten Funken Wärme ausgetrieben. Still und wehrlos spürte er ihren Triumpf nicht mehr. Lächelnd nahm er das geschmeidige Streicheln des Blutes auf der Haut noch wahr. Ein zarter Rinnsal kroch vom Kopf über den Hals herab. Nun genoss er den herben Geruch feuchten Waldbodens dicht unter seiner Nase. Seltsam unbeteiligt und entspannt erlebte er sein Schicksal. Ein letztes Mal öffnete die fiebrigen Augen.

Über ihm reckten sich die Schatten zerzauster Baumriesen in den neuen Tag hinein. Lustig trällerte ein Eichelhäher, in der Ferne hackte ein Specht und frühstückte schon. Ameisen schleppten ihre Bündel vorbei, während eine Spinne emsig ihr Netz wob. Der Sterbende dachte an seine Frau Klara und sah ihr in die lebhaften, braunen Augen. Zärtlich strich er ihr übers Haar. Er sah seine Buben ausgelassen mit dem Nachbarshund im Garten spielen. Auf seinem Gesicht schwebte ein zufriedenes Lächeln. Dann war sein Blick leblos und leer.

© Paul Bock


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Beschreibung des Autors zu "Herbststurm"

Herbststurm beschreibt die schicksalhafte Begegnung eines Mannes im Sturm.

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