Stille. Etwas ungeheuer Kostbares, das mir seit jeher lieb und teuer ist. Keinen Lärm hören, einfach dasitzen und nichts tun. Die unvergleichbare Entspannung auskosten und tiefen Frieden empfinden. Abgeschottet von störenden Geräuschquellen die Ruhe genießen, zum Beispiel am Gipfel eines Berges. Oder auf einer Lichtung im Wald, wo nur der Vogelgesang die Stille zu durchbrechen vermag. Oder bei einem nächtlichen Spaziergang am Strand, wo das friedvolle Meeresrauschen meine Sorgen so fern wie das Abendrot am Horizont erscheinen lässt. Welch beruhigende Wirkung die Stille doch erzeugt, wie überwältigend die entfachten Glücksgefühle sein können, die meine angespannten Nerven besänftigten.

Warum ist die geliebte, schöne Stille im Hier und Jetzt nur ein Wunschtraum für mich, so unerreichbar wie die Sterne am Himmel, auf die mir kein Blick gestattet ist? Die Stille, die mich wie eine unheilvolle Aura des immerwährenden Schweigens umgibt, hat nichts Schönes an sich, lediglich Bedrückendes, das mir ein Gefühl unsagbarer Verzweiflung vermittelt. Wieso bin ich zu einem armseligen Zeugen ihrer zermürbenden Schattenseite
geworden? Ich bin in ihr gefangen wie in einem Alptraum, dessen düstere Klauen mich festhalten und nicht erwachen lassen. Unvorstellbare Qualen peinigen mich, zwar spüre ich keinen Schmerz, aber die seelische Folter ist das Höchste an Grausamkeit, das einem Menschen widerfahren kann. Ich befinde mich in einer finsteren Hölle der geräuschlosen Verdammnis, aus der ich möglicherweise nicht entkommen werde. Meine Hölle gleicht einer dämonischen Dunkelkammer, deren gnadenloser Herrscher mich zu zerquetschen droht, obwohl ich den schwarzen Teufel nicht sehen kann. Ich bin einsam und allein, kein Lichtschein dringt in mein enges Gefängnis. Kein lebendiges Wesen ist in meiner Nähe, kein Mensch, kein Tier, nicht einmal das Summen eines Insekts vertreibt die Totenstille, die so intensiv ist, dass ich mir einbilde, mein eigenes Herz schlagen zu hören. Wie lange ich hier schon mit offenen Augen liege, ansonsten unfähig, mich zu bewegen, weiß ich nicht. Ein paar Stunden? Tage? Zeitgefühl ist mir in der isolierten Kammer der Finsternis verloren gegangen. Es bietet sich der makabre Vergleich mit einem Menschen an, der blind, taub, sowie gelähmt in Einem ist. Meine Atmung geht langsam und seltsam gleichmäßig, trotz der Gewissheit, den gottverlassenen Ort womöglich nicht lebend zu verlassen. Selbst wenn ich schreien könnte, würde man mich nicht hören, niemand würde herbeieilen und mich aus dem Verlies befreien.

Unweigerlich muss ich an all die Anderen denken, die mein Schicksal teilen, vielleicht in genau diesem Augenblick. Auch diese Unglücklichen liegen reglos da, ohne sich ihres tragischen Daseins in der Unendlichkeit der Stille erwehren zu können. Manchen von ihnen steht der Schlimmste aller Tode bevor, ein schreckliches und menschenunwürdiges Ende, dem auch ich zum Opfer fallen werde, sollte sich mein Zustand nicht baldigst ändern. Sich dieses grauenvolle Sterben bildhaft vorzustellen, bedarf krankhafter Fantasie aus den dunkelsten Ecken der menschlichen Seele. Für mich ist die widerliche Vorstellung grausame Realität geworden. Ich weiß, dass es wahr ist, auch wenn sich jeder Winkel meines Gehirns wünscht, nur den ekelhaften Fängen eines bösen Traums ausgeliefert zu sein.

Welch wahnwitzige Ironie, dass es Menschen gibt, die jegliche Stille als Bedrohung empfinden, obwohl ihnen von keiner Seite Gefahr droht. Mögen sie in Gottes Namen niemals in meine Situation geraten und die entsetzliche Tortur erleben müssen. Ich wünsche meinen schlimmsten Feinden keine Verbannung in absolute Finsternis und erdrückende Stille. Kein Mensch auf der Erde verdient das ohnmächtige Gefühl totaler Hilflosigkeit. Das Schlimmste an dem Zustand ist die furchtbare Ungewissheit: Weiterleben oder einsam in Stille und Dunkelheit sterben. Mein gelähmter Körper verdammt mich zur Handlungsunfähigkeit, nur das qualvolle Warten ist mir möglich. Warten auf den Tod, oder auf das Leben. Eine Entscheidung, die letztendlich Gott treffen wird, doch ebenso kommt es auf das Gelingen meiner Vorkehrung an. Ja. Tatsächlich hängt mein Leben buchstäblich am seidenen Faden meiner eigenen Vorkehrung, die mein letzter Wunsch gewesen war. Nein, ich habe mich nicht selbst zur stummen Gefangenschaft verurteilt. Nur ein Narr würde sich selbst dort einschließen, wo sein Überleben von Minute zu Minute unwahrscheinlicher wird. Es waren andere Menschen, die mich hierher gebracht haben, in den Raum, wo nur Finsternis, Einsamkeit und Stille existieren. Es ist meine Hölle, und gleichzeitig meine Stätte der letzten Chance. Aber diese Chance schwindet zunehmend, je länger meine Bewegungsunfähigkeit andauert, die nicht ich verursacht habe, sondern eine Macht, die ich nicht beschreiben kann. Ich träume davon, weit weg zu sein. In Gedanken halte ich mich mutterseelenallein in einem unheimlichen Schloss auf. Das Licht des Vollmonds strahlt vom Himmel, und die düstere Atmosphäre treibt mir den Angstschweiß aus den Poren. Wie harmlos mir ein solch schauriger Ort erscheint, verglichen mit meinem stockdunklen Kerker, in dem ich eingepfercht bin wie ein nicht mehr benötigter Gebrauchtgegenstand.

Obwohl ich mich nicht bewegen kann, merke ich die allmähliche Veränderung meines Zustands. Ich spüre, wie meine Atmung schwächer wird und mein Puls sich verlangsamt. Ich kann meinen kaum noch vorhandenen Herzschlag hören, oder bilde es mir ein. Es ist soweit. Das, wovor ich die größte Angst habe, tritt ein. Mein klägliches Ende naht. Das beklemmende Gefühl von Panik flutet meinen Geist wie eine gigantische Welle, trotzdem ist mein Körper nicht zur geringsten Bewegung in der Lage. Der Tod scheint seine Knochenfinger nach mir auszustrecken. Ich fühle, wie sich mein Brustkorb mit jedem Atemzug langsamer senkt und hebt. Wie wird sich mein Sterben anfühlen? Werden meine Gedanken einfach ausgelöscht, werde ich meinen letzten Atemzug mitbekommen und meinen finalen Herzschlag hören können, bevor sich das Gehirn abschaltet? Nein, so darf es nicht enden. Ich möchte doch leben und versuche verzweifelt, mich auf meinen Lebenswillen zu konzentrieren. Noch hat der Sensenmann sein Werk nicht vollendet, noch habe ich Kontrolle über meine Gedanken. Ich klammere mich an den letzten Funken Hoffnung und beginne, ein gedankliches Gebet zu sprechen:

Ich bitte Dich, oh Herr, befreie mich aus dem dunklen Gefängnis, wo die schwärzeste Stille regiert, die auf dieser Welt existiert. Sorge dafür, dass mein letzter Wunsch nicht umsonst war und meine Vorkehrung Erfolg haben wird. Gib meinem Körper die Kraft, sich zu bewegen und die Glocke zu läuten, die die Menschen dort draußen veranlassen wird, mich aus der Gruft zu holen. Ich bitte Dich um die Chance, noch einmal auf einem Berggipfel zu stehen, auf einer Lichtung im Wald zu liegen, oder einen nächtlichen Strandspaziergang zu machen. Lass mich die Stille in all ihrer positiven Pracht erleben, nicht hier unten in der ewigen Finsternis. Gütiger Gott, ich flehe Dich an, schau herab auf mich, einen armen Sünder, der hilflos in seiner letzten Ruhestätte liegt, obwohl er noch am Leben ist. Verhindere, dass mich der Scheintod schon so früh in Dein Reich bringt, und rette mich aus meiner misslichen Lage. Herr, ich bitte um Deine unendliche Gnade und Dein Erbarmen…


© Genesis


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