Ein kurzer Blick, ich hab dich fast nicht mehr erkannt.
Das Rattern der Schienen unter uns.
Mein Kopf vibriert mit der Glasscheibe.
Ich fahre nur noch selten Bahn in Deutschland.
Muss wohl Schicksal sein, das wir uns nach fast zehn Jahren wieder sehen.
Gegenübersitzend im Zug, wie früher.

Äußerlich hast du dich sehr verändert, Vollbart und lange Locken.
Wir reden die ganze Fahrt, lachen, tauchen in alte Zeiten ein.
Ankunft in Essen Hbf, hier lebst und studierst du nun.
Ewiger Student, hast deine Richtung immer noch nicht gewählt.
Der ewig Suchende, das haben wir gemeinsam.

Wir verabschieden uns kurz, tauschen aktuelle Nummern.
Ich besuche meine Freundin, helfe ihr beim Umzug.
Nach einem anstrengenden Tag des Kisten schleppen, textest du mir.
Am gleichen Abend gehen wir aus, trinken Wein aus Pappbechern und essen Burger.

Ich fühle mich zurückversetzt in mein altes Leben.
Eine komische Zeit, so voller Unsicherheit, Zweifel und Freiheit.
Wir waren beste Freunde, seit dem Kindergarten.
Ich war „ one of the boys“ sagtest du immer.
Nicht girly und zickig.

Wir schwänzten Schule,schrieben unsere Namen unter Brücken,fuhren Schwarz mit dem Zug, bis nach Holland.
Am Meer rauchten wir Gras und lutschten Hasch-Lollys.
Unsere Eltern bekamen nie viel davon mit.
Mit der Pubertät kamen auch erste Flirterein zwischen uns auf.
Aber der Freundschaft zuliebe lief lange nix, auch wenn immer Eifersucht herrschte wenn einer von uns gerade eine Beziehung führte.

Bei jeder Trennung trösteten wir uns gegenseitig.
Mit 15 da küssten wir uns auf einem Konzert.
Wir waren irgendwie unendlich und wir verlangten einander.
Unserer Freundschaft hat es komischerweise nie geschadet.
Ganz im Gegenteil es hat Sie gestärkt.

Und so schliefen wir unverbindlich immer wieder miteinander.
Bekifft lagen wir auf dem Spielplatz, „Minerva“ von den Deftones im Hintergrund.
Das nasse Grad unter uns, der sternenklare Himmel über uns, ja, Endlos.

Immer wenn einer von uns seine Beziehung beendete, hatten wir Sex.
Vor dir konnte ich komplett Nackt sein, und auch wenn ich nicht verliebt war, spürte ich so viel Vertrauen und Verbundenheit.
Doch als Paar funktionierten wir nicht.
Wir waren immer nur kurze Fragmente von Intimität im Leben des anderen.

Aber es war eine tolle grenzenlose Zeit.
All die Scheisse die wir gebaut haben, wir brachen in unsere alte Grundschule ein,
klauten das Schul-Skelett und vergruben es im Garten meines Ex-Freundes.
Wir fuhren ohne Führerschein im Auto meiner Mutter.

All diese Geschichten gruben wir wieder aus.
Lachend erzählst du mir wie deine Mutter mich immer rausschmiss, oder wie ich, mich einmal im November nackt auf eurem Balkon verstecken musste.
Ich kontere mit der Geschichte wo du mir völlig bekifft und nackt aus „Dostojevskis der Idiot“ zitiert hast, einem Buch von meinem Vater welches du übrigens heute noch besitzt.

Ein schöner Abend, in deiner kleinen Studenten WG rauchen wir einen Joint.
Ich rauche nur noch selten, dein Graskonsum hingegen ist immer noch regelmäßig.
Bekifft und betrunken fallen wir noch einmal übereinander her.
Jede Berührung und jeder einzelne Kuss ist vertraut und gleichzeitig Neu.
Am nächsten Morgen sagen wir „Goodbye.“
Wer weiß wann wir uns wieder sehen.
Unsere Wege gehen komplett in andere Richtungen.
Alleine sitze ich nun im Zug und verspüre noch die Magie und Nostalgie der
vergangen Nacht.


© mermaidgrrrl


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Kommentare zu "Wiedersehen"

Re: Wiedersehen

Autor: noé   Datum: 14.06.2014 9:01 Uhr

Kommentar: Ein unlaublich ansprechender Text!
Sowohl vom Sujet her als auch von der Ausführung, sehr gelungen.
noé

Re: Wiedersehen

Autor: mermaidgrrrl   Datum: 15.06.2014 13:03 Uhr

Kommentar: Dankeschön.

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