Es war ein regnerischer Samstag, alle schliefen noch und die Station lag still da. Ich erwachte aus unerklärlichen Gründen, erhob mich und schaute zum Fenster hinaus. Gestern war ein Horror gewesen. Sich selber einzuweisen ist keine angenehme Sache. Immerhin war einer der Polizisten richtig heiss, wahrscheinlich habe ich deswegen noch absichtlich rebelliert, damit er mich mehr zähmen musste. Ein leichtes Lächeln kam über meine ausgetrockneten Lippen und ich rieb mir müde meine Augen. Das Temesta wirkte noch, und so wankte ich leicht beim gehen. Meine Sinne schienen betäubt, reagierten verzögert. Das Spiegelbild war genau so, wie ich es erwartet hatte: Dunkel und vernebelt. Ich strich mir meine Haare hoch und band sie oberhalb des Kopfes zusammen, dass sie wie eine Palme herunterhangen. Dann wusch ich mein Gesicht, belebte wieder meinen Verstand. Leise hörte man draussen die Regentropfen auf das Fenster prasseln, und einige Vögel stimmten den Morgen an. Pinkelnd und pupsend beendete ich mein Geschäft und begab mich danach unter die Dusche. Leise summend streckte ich mich dem Himmel entgegen und begrüsste die Geister. Es wurde langsam wieder wacher in mir. Abschrubbend lief ich zum Sessel hin und schnappte mir einige saubere Sachen, graues Shirt und graue Hose, Stofffinken dazu. Ich kämmte meine nassen Haare, föhnte sie nicht, um niemanden zu wecken, schnappte mir meine Zigaretten und Feuerzeug und ging hinaus auf den Flur.

Die Lichter des Ganges gingen bei dieser Bewegung an und ich konnte die kleine Halle sehen mit dem Sofa, dem Fernseher, des Trinkautomaten und all den Türen zu den entsprechenden Zimmern. Schlurfend begab ich mich zum Automaten und liess mir einen Kaffee raus, leider ohne jeglichen Koffein, da dies verboten ist auf der Station.
Meine Jacke schnappe ich mir vom Kleiderständer, gehe hinaus auf den Balkon und zünde mir meine erste Zigarette an.
Heute ist Samstag, keine Therapie, nur Besuche. Ich erwartete jedoch keinen Besuch, fast niemand wusste, dass ich seit gestern hier war. Aus meiner Jackentasche kramte ich meine Kopfhörer hervor und erinnerte mich daran, dass mein Handy eingesteckt auf dem Nachtisch lag, welches ich als Zeichen sah, es dabei zu belassen und nicht extra holen zu gehen.
Die Luft war angenehm kühl und frisch, roch nach nasser Erde und feuchten Blättern. Das Geräusch des sich niederlassenden Regens besänftigte mein Gemüt und mir wurde klar, dass dies einer meiner besten Entscheidungen war, hier her zu kommen. Aus freien Stücken. Wieder lächelte ich.
Hinter mir hörte ich die Tür aufgehen, umdrehend sah ich einen weiteren Patienten, gestern nicht wahrgenommen. Es war ein junger Mann, cirka 23 Jahre alt, mit blondem, verstrubbeltem Haar und blauen, müden Augen. Auch er trug die graue Kleidung mit einem blauen Pulli darüber und nackten Füssen in den Finken. Er sah mich zunickend an, kramte in seine Hosentasche und zog sich eine Zigarette aus der Schachtel.
"Morgen", murmelte er und lehnte sich an das Gitter des Balkons.
"Guten Morgen", sagte ich zurück, ihn von der Seite her anlächelnd. Als ich dies tat, sah er mich neugierig an. Langsam betrachtete er mein Gesicht, meine blonden Haare.
"Ich bin Tom", sagte er und streckte seine Hand aus. Ich ergriff sie, spürte die Wärme seiner Finger.
"Freut mich, Johanna." Tom lächelte und gab weisse, saubere Zähne preis. Ein bisschen zu lange verweilten meine Augen auf seinen Lippen, gehorsam erhob ich meinen Blick wieder in seine blauen Augen. Er trat zu mir und beugte sich über den Tisch, die Arme übereinander kreuzend. Sein Blick schweifte über die grüne Landschaft, die nasse Wirklichkeit. Wir schwiegen, hörten einzig und allein den Regen. Es war fast wie eine Meditation, schwelgend und verweilend tranken wir in Frieden den Kaffee, zogen an der Zigarette.
Erneut ging die Tür auf und ein weiterer Mann, diesmal älter und mit ansetzenden grauen Haaren, trat hinaus und begrüsste uns freundlich. Auch er zündete sich eine Zigarette an mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand.
"Scheisswetter, was?", sagte er und trat ebenfalls an den Tisch. Von der Ruhe unterbrochen, erhoben wir uns aus der friedlichen Stimmung.
"Regen bringt Leben", antwortete Tom. Ich nickte. Der ältere Mann seufzte bejahend.
"Ja, da haste Recht. Ansonsten wärs hier nicht so schön grün. Aber trotzdem, Mistwetter, ich wollte heut eigentlich raus gehen. Krieg heut Besuch von meiner Tochter." Eine Angewohnheit auf einer Psychiatrie ist es, dass die Leute sehr offen sind und meist ohne gefragt zu werden mehrere ihrer Lebensdetails preis geben.
"Dann verbringt ihr den Tag halt drinnen, hauptsache gemeinsam", schlug ich vor und drückte den Stummel aus. Er nickte. und strich sich über seinen Bart. Dann kam wieder Stille über uns, es schien im Moment alles gesagt geworden zu sein. Nun spürte ich, dass es Zeit war, Musik zu hören, wünschte den beiden Herren einen guten Tag und entschwand wieder in mein Zimmer. Leicht bibbernd zog ich das Kabel aus meinem Handy, stöpselte die Kopfhörer ein und drückte auf ein Lied.
"Ruhe", von Schiller. Der Beat rauschte durch meine Ohren hinein in mein Gehirn, inspiriert schnappte ich mir meinen Notizblock, trat wieder hinaus auf den Flur und liess mir nun eine heisse Schokolade aus dem Automaten heraus. Bewaffnet mit Zucker und Gedankengut, begab ich mich auf das Sofa, stellte die Tasse auf den Boden und begann, den gestrigen Tag nieder zu schreiben. Es war eine Ausnahme, dass ich noch an einem Freitag Abend aufgenommen wurde.
Mir wurde auch bewusst, dass ich nicht mal meinen Eltern Bescheid gesagt habe, wo ich mich im Moment befand. Ein schlechtes Gewissen wollte sich breit machen, doch ich dämmte es damit ein, dass ich ein Recht auf Privatsphäre hatte, sogar gegenüber meinen Erzeugern. Immerhin war ich 20 Jahre alt, bald 21. Während ich so da sass und schrieb, wachte langsam die Station auf, alle Leute kamen aus ihren Zimmern geschlurft, schnappten sich Kaffee und begrüssten sich spärlich. Es waren die meisten männlich, eine weitere junge Frau und zwei ältere befanden sich noch auf Station, die restlichen 6 waren Männer. Alle schauten sie mich an, nahmen wahr, dass ich gestern beim Abendessen noch nicht anwesend war. Von dieser Starrerei angewidert, erhob ich mich wieder und ging in mein Zimmer. Ich klingelte eine Schwester herbei und fragte, ob ich einen Spaziergang machen könne. Wenn man sich selber einweist und bei Bewusstsein ist, hat man viele Rechte und darf sich auf dem Gelände bis zur Sperrzeit frei bewegen. Die Schwester kontrollierte mein Blutdruck, gab mir noch den Tagesplan mit und sagte, ich solle spätestens um halb 12 mich wieder auf der Station einfinden, da es dann Mittagessen gäbe.
Bejahend stimmte ich zu und sie verliess mein Zimmer. Ich schlüpfte in meine hohen Stiefel, schnürte sie zu und warf mir meine Jacke und Schal über. Ich ging hinaus auf den Flur, raus aus der Halle und raus aus der Station. Die Bäume entlang des Weges führten zu einem nahegelegenen Wald, und genau da zog es mich hin.
Interessanterweise habe ich vor drei Jahren hier mal gearbeitet, deswegen kenne ich das Gelände sehr gut. Als gelernte Krankenschwester kann man in jeglichen Gesundheitsbereichen arbeiten. Ich hoffte auch, irgendwann wieder für eine Psychiatrie zu arbeiten, aber erstmal musste ich mit mir selbst mich auseinander setzen.
Es begann damit, dass Covid 19 die Welt befahl, die Lockdowns ausgestellt wurden und die Welt zu schreien schien. Ich hörte die Vögel vor Schmerzen kreischen, hörte die Bäume wie wild in einem Sturm sich hin- und her bewegen, sah die Leute panisch und aggressiv werden. In meinem Frontalhirn spürte ich einen zunehmenden Druck, der Schlaf entfiel immer mehr, der Hunger nahm ab, das Gewicht folgte gleich danach. Mager, seelisch ausgelaugt und alle Zellen Alarm schlagend, begab ich mich in die Psychiatrie, wusste, dass ich nun von aussen massive Unterstützung brauche. Ich kenne meinen Körper gut, mein Gehirn reagiert auf Überforderung sehr schnell und kann dann auf die Psyche, sowie der Körper sich auswirken, mich regelrecht lahm legen. Schon als kleines Mädchen brauchte ich viel Ruhe und wurde oft krank. Als ich dann bemerkte, dass ich nicht mal mehr schaffe, richtig zur Arbeit zu gehen und meine Leistungen zu erfüllen, holte ich mir Hilfe. Eine jegliche wöchentliche Sitzung bei einem Psychiater kam mir da zu wenig vor. Zudem half mir meine Erfahrung aus der Psychiatrie bei der Entscheidung dabei sehr, da ich meine Rechte im Vorhinein wusste. Viel schlimmer sieht es aus, wenn man von aussen eingewiesen, genau genommen zwangseingewiesen wird. Dann sind die Rechte kaum vorhanden und man muss tun, was einem gesagt wird. Es kann sogar so weit gehen, dass sie einem die Zurechnungsfähigkeit entziehen können und die betroffene Person dann ein lebenlang von einem Beistand betreut werden muss, nichts mehr selber entscheiden kann. Genau deswegen, und weil es einfach klar war, dass ich etwas ändern musste, tat ich den gestrigen Schritt und nahm mir ein Zimmer. Die Zeit, wie lange ich hier bleiben werde, war mir noch nicht klar und so liess ich die Frage offen.
Versunken in meinen Gedanken erreichte ich mein Ziel, eine Waldlichtung auf der eine kleine Hütte stand. Ein Unterschlupf vor dem Regen in natürlicher Gesinnung. Seufzend stieg ich in die Hütte, atmete den Duft des nassen Holzes tief ein. Ich nahm meine Kopfhöher aus den Ohren und lauschte dem Klang des Wassers. Segnend bedankte ich mich beim Wald und nahm auf einer Holzbank Platz und breitete meinen Notizblock auf dem Tisch aus. Gerade wollte ich meinen Eintrag von vorhin erweitern, als ich einen knackenden Ast nicht weit abseits der Hütte vernahm. Aufhorchend starrte ich hinaus auf die Lichtung. Nun hörte ich nahende Schritte, jemand steuerte direkt auf die Hütte zu. Leicht genervt versorgte ich meine Mitbringsel und zündete prophylaktisch eine Zigarette an. Im Zweifelsfall ist dies eine gute Waffe zur Notwehr. Doch kein Mörder erschien, es war Tom, den ich zuvor auf dem Balkon als erstes traf. Er stieg in die Hütte ein, nahm seine Kapuze ab und strich sich durch das feuchte Haar. So sah er mich dann, wie ich ihn anstarrte. Er grinste.
"Schon wieder du. Johanna, richtig?"
"Ja", grinste ich zurück. Er setzte sich neben mich, jedoch mit gutem Abstand, und zündete sich ebenfalls eine an.
"Ich liebe diesen Ort", flüsterte ich und er nickte.
"Ja, er ist erholsam", stimmte Tom zu und sah mich von der Seite her an.
"Seit wann bist du auf Station?" Ich strich mir durchs Haar und nahm einen tiefen Zug, ehe ich antwortete:
"Seit gestern. Ich hab mich selbst eingewiesen." Wie der ältere Mann zuvor auf dem Balkon, verfiel ich in die Tendenz, von allein weitere Details meines Lebens preis zu geben. Tom schien dies nicht zu stören, im Gegenteil, er war neugierig.
"Das ist beeindruckend. Ich hoffe, dir wird hier geholfen." Wieder Schweigen. Nach einer kurzen Pause sagte ich: "Seit wann bist du hier?" Er grinste.
"Seit einer Woche. Ich finde mich einigermassen zurecht, ist nicht das erste Mal. Ich hab jetzt auch eine gute Therapeutin, ich denke, diesmal kanns was werden." Auch Tom schien offen zu sein gegenüber seiner Geschichte. Interessiert schlug ich die Beine übereinander und wandte mich ihm zu.
"Bei mir ist es das erste Mal, dass ich mich selbst einweise. Ich habe vor drei Jahren hier mal gearbeitet." Erstaunt hob er die Augenbrauen.
"Ach ja? Ich hab mich schon gefragt, wie stur geradeaus du Richtung Wald stolziert bist." Wieder ein Grinsen. Scharf sah ich ihn an.
"Bist du mir gefolgt?" Ein Räuspern folgte, dann betretenes Schweigen. Und schliesslich ein leise gemurmeltes: "Ja." Nun musste ich lachen.
"Muss ich nun Angst haben?"
"Nein. Vielleicht", schmunzelte er und nahm einen tiefen Zug und sah mich mit einem Schalk in den Augen an.
"Das ist eine beunruhigende Antwort", gab ich zu und strich mir über meinen Oberschenkel, langsam kroch die Kälte in die Glieder. Er bemerkte es und sah sich in der Hütte um. Nicht weit ab konnte man ein Feuer entzünden, jedoch war alles so nass, dass es niemals brennen würde.
"Frierst du?", fragte er und griff an seinen Jackenverschluss. Rasch schüttelte ich den Kopf.
"Ein bisschen, aber alles gut, ich gehe frühzeitig, damit ich nicht friere."
"Du brauchst vor mir keine Angst zu haben, ich bin dir gefolgt, weil ich dich interessant finde. Du bist still und gehst deinen eigenen Weg, dies ist mir ziemlich rasch klar geworden. Und als du dich aus der Station begeben hast, bin ich dir nach. Es war ein Gefühl, dem bin ich gefolgt."
"Aha", sagte ich, etwas schlagfertigeres fiel mir nicht ein. Er lächelte.
"Sorry, will mich nicht aufdrängen." Ich liess eine Weile die Stille erneut einkehren, dann sagte ich:
"Nein, es ist ehrlich gesagt schön, dass wir nun gemeinsam hier dem Regen lauschen." Wow, poetisch. Dies schien Tom auch gedacht zu haben, denn er lehnte sich entspannt an die Wand zurück.
"Ja, da hast du vollkommen recht. Ich denke, dies wird ein schöner Tag werden."
Eine kurze Zeit blieben wir noch da, dann erhob ich mich und zog meine Kapuze wieder über den Kopf.
"Kommst du auch wieder zurück? Mir scheint, es wird langsam kalt." Zustimmend stand er ebenfalls auf, und gemeinsam liefen wir den Waldweg zurück. Wir redeten dabei fast gar nicht. Das Tom meine ruhige Art so bedingungslos annahm, gefiel mir und liess mich ebenfalls ganz entspannt werden. Schliesslich kamen wir wieder am Haupteingang an, ein Securitas beäugte uns und drückte den Eingangsknopf, die Schiebentüren öffneten sich. Mit quietschenden Turnschuhsolen nahmen wir die Treppe nach oben und wurden von einer Schwester eingelassen. Sie sah uns neugierig an.
"Na, nicht pflutschnass geworden?", fragte sie und sah unsere durchnässte Kleidung an.
"Ja, schon ein bisschen, ich hüpf schonmal unter die Dusche", sagte ich, winkte Tom zum Abschied zu und lief in mein Zimmer, nicht ohne von den restlichen Patienten angestarrt zu werden. Ein weiterer junger Typ begrüsste mich, ich winkte nur schweigend zurück. In meinem Zimmer nahm ich meine Musikbox hervor, verband mein Handy über Bluetooth und stimmte mich mit japanischer Musik ein. Die Dusche war wohltuend. Es klopfte an der Tür, doch ich konnte nicht öffnen, und so trat ein Angestellter ein. Es war ein junger Mann, peinlich berührt verliess er sofort wieder das Zimmer, als er sah, das ich nackt in der Dusche stand. Wütend und leicht amüsiert schnappte ich mein Handtuch, begab mich in gestriges blaues Blumenkleid, zog den Ausschnitt herab und liess meine schönen Brüste erscheinen. Ich öffnete wieder die Türe und liess den jungen Mann ein. Er sah mich immer noch leicht errötend nur in das Gesicht, wagte nicht, seine Augen weiter hinab zu lassen, aus Angst, da zu verweilen.
"Verzeihen Sie, Frau Klee, ich bringe nur ihre Medikation", stammelte er und überreichte mir einen Medikamentenbecher, klein und gelb. Ich starrte auf die weisse Tablette.
"Was ist das?"
"Das ist Olanzapin, ein Generikum des Risperdals, welches auf ihre frontalen Überhirnaktivität reagiert und es besänftigt", ratterte er hinab, ich nahm den Becher und schluckte die Tablette mit wenig Wasser aus dem Hahnen hinunter. Zufrieden nahm er den leeren Becher wieder entgegen, verabschiedete sich und ging wieder hinaus. Es wunderte mich, dass die Tablette am Morgen schon verabreicht wurde und ich wurde ein wenig wütend auf mich, dass ich es so vertrauensvoll entgegen genommen habe. Welcher Arzt hat dies veranlasst, aufgrund welcher Fakten? Ich entschied, dies in mein Buch zu schreiben und die verantwortlichen Personen zu fragen. Meine Haare eingewickelt in einem Turban aus rotem Tuch, trug ich wieder meine Kopfhörer und rauchte eine Zigarette draussen auf dem Balkon. Ich war nicht überrascht, Tom da anzutreffen. Er grinste mich an.
"Hey, Joanne", begrüsste er mich und schwang sich hoch. Er griff nach seinem Telefon und drückte die Lautstärke hoch, es erklang ein Lied von Billie Eilish:
"6 feet under". Ich schloss meine Augen, Gänsehaut ergriff mich beim Eindringen ihrer Stimme und ich liess mich entführen von ihren Gedanken. Auch vergass ich Tom neben mir, war gefangen im Klang und der Wirkung des zuvor eingenommenen Medikamentes. Bald sang ich auch mit, da ich das Lied bereits kannte. Als es beendet war, erschien ein weiteres von ihr, auch dieses sang ich mit. Insgesamt konnte ich drei Lieder singen, bevor Tom die Musik ausstellte. Überrascht öffnete ich die Augen.
"Eine schöne Stimme hast du", flüsterte er und steckte sein Telefon ein. Ich errötete.
"Danke ... hab mich ein bisschen gehen lassen", murmelte ich und strich mir nervös übers Haar. Tom grinste. Er grinste oft und viel.
"Ja, habs gemerkt. Hast du Medis gekriegt?"
"Ja, Olanzapin, kennst du das?"
"Kenn ich, ist ein Antipsychotikum. Ich krieg Temesta, jedoch nicht in hohen Mengen. Trotzdem hat es mich am Anfang richtig weggeworfen."
"Temesta ist sehr stark", bestätigte ich.
"Liest du gerne?", fragte er und änderte damit das Thema. Ich überlegte.
"Ich lese gerne, habe aber im Moment keine Lektüre dabei."
"Es gibt hier einen Bücherei, da kannst du dir einfach Bücher ausleihen. Würd ich dir empfehlen, du scheinst mir sowieso wissbegierig zu sein."
"Ist das nicht jeder Mensch?", konterte ich und bedankte mich jedoch auch mit meinen Augen, die tief in seine versunken waren. Dieser Mann liess meinen ausgedachten Plan irgendwie verschwimmen lassen. Interessanterweise wollte ich das auch. Entführt werden von diesem fremden Tom. Ich bemerkte, dass ich ihm gar nicht mehr zuhörte und eher an seine Erscheinung dachte als an das, was er zu sagen hatte.
"...und genau deswegen trifft das auf dich zu", beendete er gerade seinen Monolog und ich nickte nur zustimmend.
"Auf jeden Fall, das werd ich tun", sagte ich und er lachte.
"Was wirst du tun?"
"Na, dass, was du gesagt hast", schloss ich verwirrt die Frage. Er lachte erneut.
"Du hast nicht zugehört, Joanne, nicht wahr?"
"Nein", grinste ich breit und wir lachten.
"Es ist also erwiesen, dass Frauen nicht multitaskingfähig sind."
"Jaa, dieses Gerücht ist langsam tot." Er wollte mich gerade weiter ausfragen, als die Tür aufging und der gleiche junge Angestellte von vorhin hinaustrat und uns misstrauisch beäugte.
"Angenehmen Morgen ihr zwei", begrüsste er uns und verschränkte die Arme.
"Herr Hubrecht, guten Morgen", antwortete Tom und verschränkte ebenfalls die Arme, wandte sich ihm zu. Herr Hubrecht bemerkte die Spiegelung und drehte sich sofort angegriffen leicht von ihm weg, mich ins Visier nehmend.
"Sie müssen sich schonen, da sie gerade eine neue Medikation eingenommen haben", erläuterte er und ich nickte.
"Genau das tue ich, und wie wissenschaftlich auf der ganzen Welt bewiesen wurde, ist frische Luft das beste Heilmittel", grinste ich und zog an meiner Zigarette. Angewidert verzog er seine Lippen zu einem dünnen, schräg nach oben versetzten Strich und entschwand wieder auf die Station. Wir sahen uns an und lachten.
"Was will der Typ?", fragte Tom. Er hatte schon gemerkt, dass wir eine gemeinsame Vorgeschichte hatten.
"Herr Hubrecht hat mir vorhin die Olanzapin verabreicht, deswegen dieser Kommentar. Und allgemein wird es nicht gern gesehen, wenn Frau und Mann als Patienten sich zusammen schliessen und sich näher kennen lernen. Eine sexuelle Beziehung ist streng verboten unter den Patienten", erklärte ich und zog mir erneut eine Zigarette aus der Schachtel. Aufhorchend bei dem Wort "sexuell" sah er mich scharf von der Seite her an.
"Ja, ich weiss, dass sie das gar nicht gern haben, wenn sich die zwei unterschiedlichen Geschlechter gut verstehen. Aber von einer sexuellen Anziehung auszugehen, ist schnell beurteilt aufgrund dämlicher Auffassungsgabe seitens des Personals hier." Wow, gute Zusammenfassung.
"Gut gesagt", bestätigte ich und er nickte.
"Na ja, wir werden trotzdem weitehrin miteinander reden, und sind wir dabei allein, sid wir halt dabei alleine. Aber ich würde schon aufpassen, dass dies nicht dazu führt, das du die Station wechseln musst, oder ich."
"Einverstanden."


Der Tag ging zu Ende, das Abendessen schien verdauut zu sein, ich lag müde auf dem Bett, die Laternen draussen ein spärliches Licht auf meine Decke werfend. Der Wind rauschte heulend und leise um die Ecken, ich dachte über den heutigen Tag nach und schloss die Augen. Es war schön, befreiend, mit Tom geredet zu haben. Er schien mich zu beruhigen. Leise, immer stiller werdend, verfiel ich in einen tiefen Schlaf, von einem Traum befangend, den ich nicht mehr deuten konnte. Aber ich erinnere mich noch an blaues, helles Licht, an rauschenden Ozean und an wellenartige Bewegungen, die durch meinen ganzen Körper gingen. Auch erinnere ich mich deutlich daran, eine starke Wärme in meiner Scheidengegend gespürt zu haben.

Im aufhellenden Licht des nächsten Morgens öffneten sich meine Augen und ich sah auf die Sonnenstrahlen, die sich auf der Decke sanft ausbreiteten.
Was war das bloss für ein Traum gewesen? Ich spürte auch Feuchtigkeit zwischen meinen Beinen, ganz so als ob ich eine Ejakulation gehabt hätte. Erstaunt und leicht verwirrt sah ich auf mein Becken. Tatsächlich, meine Unterhose war deutlich nass und schleimig. Ich ging auf die Toilette und anschliessend nahm ich ein Bad, strich mich danach einölend mit Lotion ein, ständig über den Traum meditierend. Was wollte mir dieser Ozean sagen, das blaue Licht, all diese starken Empfindungen? Und warum waren einige Details so klar abrufbar, andere jedoch gänzlich verschwunden? Gedankenverloren liess ich mir wieder einen Kaffee ein, bemerkte nach dem ersten Schluck draussen auf dem Balkon, dass es heisse Schokolade war.
Mir egal, dachte ich und nahm mein erstes Lungenbrot zu mir. Sobald ich die Zigarette angezündet hatte, erschien Tom. Als ob er niemand anderen erwartet hätte, grinste er mich begrüssend an.
"Guten Morgen, Joanne, na, wie geht's?", fragte er und stellte sein Becher ab. Es schien Wasser darin zu haben. Ich sah ihn an.
"Mir geht es gut, und dir?"
"Sehr gut. Ich hab diese Nacht intensiv geträumt", raunte er und mir schauderte der Rücken. Intensiv? So wie ich?
"Ja?", fragte ich und bemühte mich, so beiläufig wie möglich zu klingen. Tom sah hinaus auf die erwachende Erde.
"Ich hab von einem tiefen Meer geträumt, und da erschien eine wunderschöne Frau, ich kann mich an alles erinnern, ihr helles Haar, ihr schöner Körper, doch das Gesicht bleibt mir verwehrt. Und doch ... irgendwoher kenne ich sie", flüsterte er und sah mich dann ruhig an. Wieder erschauderte ich und diesmal sah er es auch. Er lächelte gewinnend. Wollte er mir etwas zwischen den Zeilen mitteilen? Schienen unsere Träume miteinander ... verflochten zu sein? War diese schöne Frau ... ich wagte nicht, die Frage ganz zu formulieren. Diesen ganzen Gedankenhergang wurde still hinter meinen Augen durchgeführt, beobachtet von Toms aufmerksamen blauen Augen. Diese Augen... dieses Blau. Genau das Blau wie das des Meeres. Das Erschaudern nahm erneut meinen Körper ein, sogar meinen Geist, mein Hirn kribbelte. Alle Haare standen zu Berge. Es war eine Spannung in der Luft, die ich noch nie zuvor gespürt hatte. Seine Lieder senkten sich langsam hinab, nahmen meine Lippen in seinen Blick gefangen. Unsichtbare Hände zogen mich zu ihm, ich schien zu schweben. Hinter uns ging die Tür auf, und Herr Hubrecht stand in seiner vollen Abgneigung da.
"Guten Morgen", begrüsste er uns scharf und trat mit schweren Schritten auf uns zu. Er blieb bedrohlich stehen, sofort begab sich Tom von mir weg.
"Gut geschlafen?", fragte ich mit sanfter, leicht erotischer Stimme. Herr Hubrecht blinzelte.
"Danke, und Sie?" Er schien aus seinem Konzept gebracht worden zu sein.
"Danke, sehr gut sogar", bestätigte ich und streckte meine Arme hoch, lehnte mich zurück und dehnte meinen Rücken. Meine Brüste stachen dabei hervor, beide Männer sahen mir dabei zu. Nun war Herr Hubrecht gänzlich von seinem Vorhaben, uns zurecht zu weisen, gehindert worden und wünschte einen guten Tag und verschwand wieder.


© Sandra Zoi


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