Ohne dass er es eigentlich wollte, stand er auf einmal vor einem kleinen
Blumenladen am Ende der schmalen Kopfsteinpflasterstraße. Wie ein Landstreicher
sah er aus, von den vorbei eilenden Leuten gemieden, die mit gerümpfter Nase
schnell einen weiten Bogen um ihn herum machten, wenn sie ihm auf dem
Bürgersteig zufällig begegneten.
Er war ein großer Kerl mit schmuddelig herunterhängenden langen blonden Haaren,
einem eckigen Gesicht und wasserblauen Augen, die aufmerksam die Umgebung
beobachteten. Seine Kleidung sah erbärmlich aus. Die Hose ausgefranst, die
Schuhabsätze schief und stark abgelaufen. Den grauen, abgewetzten Mantel hatte er,
anstatt des fehlenden Knopfes, mit einem kurzen Stück Paketschnur geschlossen.
Die wehmütigen Blicke seiner Augen, die schon viel Armut gesehen hatten,
wanderten jetzt in das Schaufensters hinein, wo sich eine herrlich anzusehende
Blumenpracht hinter dem spiegelnden Glas breit machte. Ganze Hochzeitsreigen von
Veilchen in schönen Tonvasen, bis hinauf zur keuschen Kälte der Lilie und zu den
bizarren Schnörkeln einiger stachliger Kakteen, all das konnte man in der bunt
dekorierten Auslage bewundern. Blumen über Blumen, die dem Betrachter wie
lebendige Wesen in Seide, Samt und Schleier erschienen.
Georg Neubauer stand wie verzaubert davor, als ob er sich jeden Moment in das
Blumenmeer stürzen wollte. Eigentlich suchte er nur ein warmes Plätzchen und einen Ort, wo er sich endlich einmal richtig satt essen und ausruhen konnte.
Eine Bewegung ging durch den Mann. Er tastete wie abwesend mit den Händen an
der Scheibe entlang, als ob er die Blumen liebkosen wollte. Und nun blickte er an
sich herunter. Er tat das sehr lange. Die verzweifelte Nachdenklichkeit über seinen
äußerst schlechten Zustand konnte man bald an seinem traurigen Gesichtsausdruck
ablesen.
Neubauer verharrte eine zeitlang mit halb geschlossenen Augen. Es war, als ob er
träumte, als ob er sich eine Rose oder eine Nelke ins Knopfloch steckte. Eine große,
gelbe Rose vielleicht. Und nun lächelte er auf einmal. Ein Lächeln, das seinem
verwehten Gesicht einen eigenartigen Schimmer verlieh. Und dann drehte er sich
plötzlich um und pfiff ein Lied. Es war ein leises Pfeifen, aber es lag darin ein Glück,
das lange verschüttet war und beim Anblick der herrlichen Blumen wieder
hervorkroch.
Georg Neubauer trottete mit langsamen Schritten die holprige Straße hinunter, hinein
in einen grauen, windigen Tag, der ihn etwas frösteln ließ. Der Tag zog sich
schleppend dahin und später, im beginnenden Abendlicht, ging er in ein altes
Gasthaus, setzte sich an einen der klobigen Holztische im hinteren Teil des Lokals,
holte sein Taschenmesser hervor und schnitt sich von dem harten Brot, das er in der
weiten Manteltasche mit sich trug, den Kanten ab, bestellte sich beim Wirt ein Glas
Bier und lachte leise vor sich hin.
Und plötzlich fing Georg Neubauer, dieser seltsame Kerl, aus seiner einsamen
Tischecke heraus an zu erzählen. Zuerst sprach er nur leise vor sich hin. Als er
merkte, dass einige der Umsitzenden auf ihn aufmerksam wurden, ging er lauter und
etwas frecher vor. Witze und Erlebnisse warf er wie Juckpulver, Raketen und bunte
Bälle in die Gesellschaft der Gäste hinein.
Dann, als wäre er ein Magnet, der das Eisen anzieht, saßen sie auf einmal an seinem
Tisch, dicht zusammen gedrängt und gierig lauschend, was er ihnen zu erzählen
hatte.
Es waren lauter durchtriebene Viehhändler und Häuserspekulanten, die ihm zuhörten.
Wie einen seltsamen Bruder betrachteten sie ihn, mit dem es eine Ehre war,
zusammenzusitzen. Ja, es machte ihnen nichts aus, mit einem herunter gekommenen
Landstreicher an einem Tisch zu sitzen, obwohl sie wohlhabende Leute waren, von
denen die meisten goldene Uhrketten und dicke Portmonees mit sich herumtrugen. Es
waren Männer, die geradezu nach Geld stanken.
Gegen Mitternacht fing man an, Karten zu spielen. Wo aber sollte Neubauer das
Geld hernehmen? Er hatte keinen lumpigen Pfennig mehr in der Tasche. Aber er
besaß noch ein altes Taschenmesser. Ein mächtiges Ding. Ein kleiner Druck auf einen
bestimmten Knopf, und eine Schneide flog hoch. Noch ein Druck, dann richtete sich
eine Säge auf. So etwas muss man einfach gesehen haben! Dreimal drücken, und ein
Bohrer ist da. Ja, so ein Taschenmesser kann sich in der Tat sehen lassen. Es war eine
echte Sonderanfertigung und deshalb sehr wertvoll und teuer.
Einer der wohlhabenden Männer am Tisch kaufte es ihm ab und gab Neubauer einen
Fünfziger dafür, und das Spiel konnte beginnen. Es war ein hohes, verwegenes Spiel.
Doch Georg Neubauer gewann. Es schien ihm fast so, als konnte es nicht anders sein.
Das Schicksal führte Regie bei ihm. Er hatte immerfort Glück. Manchmal ging es um
Kopf und Kragen. Doch als der Morgen graute, lag auf dem Tisch vor dem armen
Landstreicher ein kleines Vermögen.
Die ganze Zeit hatte er nicht geschlafen und trotzdem war er seltsam frisch und wie
umgewandelt. Es wurde bereits acht Uhr. Wie von wilder Unternehmungslust
getrieben, machte er sich plötzlich auf in das nächste Werkzeuggeschäft und kaufte
von dem gewonnen Geld Axt und Säge, Bohrer und Hammer und ein paar andere
nützliche Dinge des täglichen Lebens.
Eigentlich hätte er anstatt an Werkzeuge doch lieber an einen neuen Anzug und neue
Schuhe denken können. Aber wer weiß, was in Neubauers Schädel im Augenblick
vor sich ging. Offenbar war in ihm etwas wach gerüttelt worden.
Später marschierte er mit all den gekauften Dingen zum Bahnhof, stieg in den Zug
ein, der gerade auf seine Abfahrt wartete und machte es sich in einem der leeren
Abteile bequem. Ein paar Minuten später ertönte die Trillerpfeife des Zugführers und
die Lokomotive setzte sich Dampf fauchend langsam und ruckartig in Bewegung.
An einer kleinen Haltestation, die nur so etwas wie eine Wellblechbude als
Bahnhofsgebäude hatte, stieg mit zwei großen Säcken bepackt ein schönes Mädchen
in den Wagen. Es schien, als ob sie unter dem Gewicht fast zusammenbrechen würde,
aber sie brachte sich und die mitgeschleppte Ware sicher in das Abteil, wo
ausgerechnet auch Georg Neubauer Platz genommen hatte, der das Mädchen jetzt
verstohlen aus dem Augenwinkel heraus beobachtete.
Sie wird wohl so gegen zwanzig Jahre alt sein, denkt er sich. Ihr schlanker Körper
wirkte irgendwie leicht und war zierlich gebaut. Schmucklos gekleidet stand sie da
und schaute interessiert herum. Der lange Rock geblümt, die Schuhe etwas derb. Das
kastanienbraune Haar hat sie mit einem weißen Kopftuch bedeckt. Einige Härchen
winden sich lockig daraus hervor. Das Gesicht des Mädchens ist schön, hat einen
sanften und zugleich frohen Ausdruck. Da saß sie nun auf den ausgebeulten Säcken
wie eine schöne große Blume auf einem grauen Hügel. Zwischendurch betrachtete sie
ihre Hände, die einen gepflegten Eindruck machten, obwohl sie kräftig zupacken
mussten. Sicherlich fuhr sie nicht oft mit der Eisenbahn. Sie wird wohl ein
Bauernmädchen sein, das da Kartoffeln in die Stadt schleppte, um sie dort auf dem
Markt zu verkaufen. Weiter nichts, sinnierte Neubauer.
Manchmal sah sie erschrocken von ihren Händen auf, starrte verlegen zum Fenster
hinüber und betrachtete die vorbeihuschende Landschaft. Spürte sie wohlmöglich die
Augen des Mannes, wie sie fasziniert über ihr Gesicht wanderten, verwundert,
nachdenklich und sehnsuchtsvoll, um ihr schönes Gesicht verlangend zu berühren?
Ja, sie ist wirklich sehr schön, trotz Kopftuch und harter, klobiger Schuhe, dachte
Georg Neubauer. Eine Schönheit, die im verräucherten Eisenbahnwagen saß und
unermesslich viel von ihrer quellreinen Seele preisgab. Ein keusches Mädchen, das
wohl zu Tieren und Bäumen, ja zur gesamten Natur wahrhaftig noch eine
unverfälschte Beziehung hatte, die noch innig Du sagen konnte und glücklich darüber
war, sobald sie es selbst hörte, wenn sie damit angesprochen wurde.
Sie war eben ein Geschöpf, aus dem heimatlichen Boden gewachsen, über das es trat
und der sich noch an den harten Schuhen klammerte, als wolle er unbedingt dabei
sein, wohin sie auch immer ging.
Ihre Augen hatten die durchsichtige Helle von klarem Bergwasser. Und wenn diese
Augen bei einem schönen Gedanken aufglänzten, dann schimmerten sie, als ob ein
Feuer darin spielte.
Georg Neubauer musste dieses hübsche, unschuldige Mädchen immer wieder
ansehen. Auf einmal erhielt er eine Antwort auf eine Frage, die er sich schon seit
langer Zeit oft vorgesprochen hatte.
„Unendlich viele Vorbilder hat der Mensch. Aber weshalb ist er nicht so rein wie die
Narzisse, so ruhig wie der Abendstern und so seelenschön wie ein sonniger
Maimorgen?“ fragte er sich mit halblauter Stimme, aber immer noch so leise, dass es
niemand der Fahrgäste hören konnte.
Dieses Mädchen, das da vor ihm saß, zeigte Neubauer mit ihrer Gegenwart, dass
seine Frage eigentlich unnötig war. Sie wirkte zwischen all den geputzten,
angeschminkten Menschen wie ein himmlischer Vogel, der jeden Augenblick zu
singen anfangen konnte.
Ihre Tage verbrennen wohl in harter Arbeit und lassen, wie ein paar Stäubchen
Himmelsasche, nur ein kleines Lied zurück, einige frohe Gedanken und ein seliges
Gebet. Sicherlich hat sie viele Geschwister daheim und möglicherweise auch ganz
kleine darunter. Sie schläft fest, aber doch nicht so fest, dass sie das Weinen eines
kranken Kindes in der Nacht nicht hört. Rasch und lautlos springt sie dann auf und
eilt ans Kinderbettchen und hilft dem Kind in der Not. Sie hat bestimmt noch nie
geliebt, dachte sich der Mann, dessen Gedanken die ganze Zeit nur um das Mädchen
kreisten, das vor ihm auf den Kartoffelsäcken hockte. Aber wenn sie ihre unschuldige
Liebe jemanden bereit war zu schenken, dann würde es für die Ewigkeit sein.
Plötzlich zog ein Windhauch zu ihm herüber, der seine Nase berührte. Sie duftete
nach Birkenlaub. Neubauer hatte auf einmal den Wunsch, ihre Sprache zu hören,
lehnte sich deshalb ein wenig nach vorne und fragte sie, ob er die schweren Säcke
nicht etwas beiseite rücken soll. Es würde dadurch ein Platz frei, und sie würde
sicherlich bequemer sitzen können.
Sie schaute ihn mit großen Augen an und sprach leise verschüchtert, dass er sich
keine Mühe machen solle. Sie sitze gut so. Und das sagte sie mit einem Lächeln, das
Georg Neubauer zwar irgendwie gefiel, aber trotzdem nicht ganz verstand, weil es ein
seltsames, zärtliches Lächeln war. Galt es ihm? Eine bange Frage, die er im
Augenblick nicht eindeutig beantworten konnte.
Der Mann dachte auf einmal an das viele Geld, das er gewonnen hatte und in seiner
Manteltasche mit sich herum trug. Er stellte sich das Mädchen vor: ganz in weißer
Seide, mit einer feinen Edelsteinkette um den Hals, wie eine kleine Prinzessin. Dann
würde er ihr einen goldenen Ring auf den Ringfinger schieben und ihr danach einen
zärtlichen Kuss auf ihre schönen roten Lippen geben.
Der Zug wurde langsamer. Bremsen quietschten. Das Mädchen bewegte sich unruhig
hin und her und schaute aus dem Wagenfenster. Neubauer vermutete, dass sie bald
aussteigen würde. Wieder kreisten seine Gedanken, wie um einen fiktiven
Mittelpunkt. Er musste unbedingt wissen, wie sie hieß. Während er das dachte,
schaute er an seiner lumpigen Kleidung herunter, die jetzt selbst auf ihn abstoßend
wirkte. Aber er musste sie trotzdem danach fragen, wie sie heißt. Er musste ihren
Namen wissen, bevor der Zug anhalten würde und sie ihn verlässt.
Doch das Mädchen schaute ihn plötzlich an, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
„Ich?“ fragte sie Georg Neubauer, der ganz überrascht war, als sie ihn dabei tief in die
Augen sah.
„Ich heiße Lili..., Lili Weißmann.“
Sie sagte das, als hätte sie zum ersten Mal begriffen, dass sie etwas bedeutete, und
dass sie für einige Minuten aus der Welt ihres kleinen Dorfes gehoben wurde, das
wohl eine einsame, in sich geschlossene Welt war. Dorthin musste sie später wieder
zurück, wenn sie die Kartoffeln auf dem Markt in der Stadt verkauft hatte. Sie musste
zurück, ganz allein und ohne ihn. Er würde sie bestimmt nie wiedersehen.
Und da hielt der Zug auch schon an.
Georg Neubauer sprang wie von der Tarantel gestochen von seinem Sitz auf und half
ihr dabei, die schweren Kartoffelsäcke aus dem Wagen zu heben. Auf dem belebten
Bahnsteig fragte er sie dann nach ihrer Adresse. Ihr Gesicht wurde über und über rot.
Vor lauter Verlegenheit nahm sie ihr weißes Kopftuch ab, aber sie sagte ihm trotzdem
den Namen ihres Dorfes und die Straße, in der sie wohnte. Neubauer reichte ihr noch
schnell die Hand, als sich der Zug wieder in Bewegung setzte und er deshalb
einsteigen musste. Sie wischte sich die ihrigen kurz an der Schürze ab, versuchte
noch seine Händen zu greifen, die sich aber nur flüchtig berührten, denn der Zug
wurde bald schneller und schneller. Das Mädchen blieb zurück und schaute ihm mit
sehnsuchtsvollem Blick hinterher. Nur die Liebe konnte so schauen.
Als der Mann nur wenige Augenblicke später zum Fenster des Zugabteils
hinausguckte, sah er noch, wie ihr der Wind das Haar ins Gesicht fegte. Sie strich es
immer wieder zurück und lies nun die rechte Hand auf dem Haar liegen, damit er ihr
schönes Antlitz und das liebliche Lächeln ihres keuschen Mundes noch lange sehen
konnte.
Dann bog der Zug in eine Kurve hinter dem Bahnhof und sie verschwand immer
mehr aus seinem Blick.
***
An der Endstation, die ein Kopfbahnhof war, stieg Georg Neubauer aus dem Zug und
kaufte sich von einem Teil des Gewinns bei einem Händler ein Pferd, einen alten
Wagen und einen gebrauchten Pflug. Der Anfang war gemacht. Dann holte er sich
eine Zeitung und durchsuchte die Anzeigen. Schon bald entdeckte er ein billiges
Grundstück, das jemand zum Kauf anbot. Die Adresse lag außerhalb der Stadt in
einer ländlichen Gegend, wo nicht allzu viele Leute wohnten. Neubauer machte sich
sofort auf den Weg.
Am nächsten Tag war er bereits stolzer Besitzer eines heruntergewirtschafteten Stück
Feldes und eines großen Stück Waldes. In einem armseligen, halb verfallenem Haus,
direkt an einem Hang gelegen, schlief er am späten Abend zufrieden ein. Es war sein
Haus, sein Feld und sein Wald, dazu ein Pferd im Stall mit Wagen und Pflug.
Alles gehörte ihm und alles war bar bezahlt. Ja, Georg Neubauer hatte etwas und noch viel mehr: Inhalt war in sein Leben gekommen.
Er schuftete seit der Zeit Tag und Nacht. Ein einsamer aber hoffnungsvoller Mensch
schlug sich mit der Erde herum. War es vielleicht so, als ob er fühlte, dass in dieser
Erde Gold und Glück verborgen lag, nach dem er nur fleißig graben musste? Eines
Tages, so dachte der ehemalige unfreiwillige Landstreicher für sich, würde er das
alles in seine windige Hütte schleppen. Deshalb gab es für ihn ab jetzt auch keinen
Sonntag. Es gab überhaupt keine Zeit für irgendwelche Vergnügungen und sinnlose
Zeitvertreibe. Auch wurde für ihn kein weißer Tisch gedeckt. Er aß das harte Brot aus
der Tasche seines alten abgewetzten Mantels, mitten auf dem Felde oder am Hain
sitzend im tiefen Gras. Er trank aus dem nah gelegenen Waldbach, der über sein
Grundstück floss. Schlief des Nachts auf Stroh ein in seinem armseligen Haus, wo
gleich nebenan im Stall sein Pferd stand, das er bewachte. Sein ganzes Fühlen und
Denken kreisten nur noch um Feld, Acker und Wald. Die Landschaft um ihn herum
fing an, die Blicke des Mannes zu bilden. Es war, als ob sie ihm seinen Schweiß und
seine Sorgen immer wieder zeigen wollte, als ob sie seine Augen Stück für Stück
schärften für Wachstum und Ernte, die harten Einsatz verlangten. Manchmal ertappte
sich Neubauer dabei, wie er zum Himmel hochschaute, gerade so, als würde Gott zu
ihm herunter sehen, um seine schwere Arbeit mit dem Segen einer reichen Ernte zu
belohnen.
Ohne es zu wissen und zu ahnen, fügte sich Georg Neubauer als Teil seiner Erde in
die Landschaft ein. Wie eine Frucht manchmal, wie eine Ackerscholle, wie ein Tier
oder wie eine Pflanze. Er wurde der Spiegel seiner Arbeit und seines eigenen Ackers,
den er bestellte. Wenn er so auf seinem Feld saß und sein trockenes Brot verzehrte,
dann wirkte er selbst wie ein lebendiger Klumpen Erde. Sie verschmolzen
miteinander.
Er sprach nur noch mit seinem Pferd. Aber wenn er sich am Abend in sein Strohbett
warf, todmüde, wie zerschlagen, dann hatte er immer noch einen kleinen Gedanken,
den er fest in seinen Traum schloss. Er sah das schöne Gesicht des Mädchens im
Eisenbahnwagen. Richtig, sie hieß Lili Weißmann, und sie wohnte in einem Dorf,
dessen Namen er kannte, weit draußen vor der Stadt.
Ihr feines, helles Gesicht dachte er sich in das Dunkel seiner zusammengeworfenen
Hütte hinein, wo nebenan im Stall das Pferd stampfte und das fahle Mondlicht des
Nachts durch die zerschlagenen Scheiben fiel. Er hatte wahrhaftig Sehnsucht danach,
dieses Mädchen wiederzusehen, sie vielleicht einmal zärtlich in die Arme zu nehmen.
Er rieb seine Hände und war erschrocken darüber, wie rau und zerrissen sie waren.
Die Liebe zu seiner flüchtigen Bekanntschaft im Zug war in der Einsamkeit noch
gewachsen. Sie musste hierher, dachte er sich. Irgendwann in naher Zukunft. Aber
unter diesen Umständen? Nein! Erst wollte er hier alles groß, fein und stark machen.
Er hatte nicht die geringste Sorge, dass sie ihm davonlaufen würde, während er sich
hier wie ein Besessener abmühte. Stattdessen empfand er ein tiefes Gefühl der
Verbundenheit zu ihr und dass sie auf ihn warten würde.
Die Zeit verstrich wie im Flug. Erst im Winter sah man Georg Neubauer wieder in
der Stadt. Natürlich mit Pferd und Wagen. Er sah wild aus. Die Hände von Schwielen
bedeckt und von Rissen durchzogen. Anstatt feste Schuhe hatte er die Füße mit alten
Lumpen umwickelt. Aber in seinen Augen leuchtete es wie das Blau des weiten
Himmels über ihm. Und der ferne Duft des Waldes war um ihn, der aus seiner
warmen Winterkleidung strömte.
Prächtige Holzstämme hatte er auf seinen Wagen geladen. Manchmal streichelte er
liebevoll sein treues Pferd. Und er tat das mit solcher Zärtlichkeit, dass der harte,
verwilderte Kerl ganz verwandelt war. Es kam ein Schimmern in sein Gesicht wie
von der Himmelsfarbe der schönen Blumen seiner Wiese, die ihn dort draußen in
seiner Einsamkeit des vergangenen Sommers umblüht hatten.
Auf dem Markt verkaufte er das Holz zu sehr guten Preisen. Abends saß er wieder im
Gasthaus, wo er in seinen Gesprächen durchblicken ließ, dass er sein zerfallenes
Haus wie neu gebaut habe, dass er jetzt Waldbesitzer sei und eine Wiese und ein
schönes Stück Feld sein eigen nennen konnte. Wenn’s auch klein herginge, so wäre es
doch ein erfolgreicher Anfang gewesen, der mit viel Fleiß und Ausdauer erarbeitet
wurde.
Dann spielte er wieder und...gewann. Sein Glück hatte ihn nicht verlassen. Es
schien Georg Neubauer fast so, als säße die germanische Glücksgöttin Arminia neben
ihm, die darüber wachte, dass die Quelle seines Spielglücks nicht versiegte.
Am nächsten Tag fuhr er aus der Stadt mit prall gefüllten Säcken voll Saatkorn und
Saatkartoffeln. Unterwegs kaufte er sich noch neue Stiefel, die seine kalten Füße
wunderbar wärmten, dann noch einen schönen Anzug und verschiedene andere
Wäsche. Zum Schluss lud er in einer Schreinerei ein paar Möbelstücke auf seinen
Wagen. Vorne, neben ihm, saß auf dem hölzernen Kutschbock ein junger Knecht, der
bei ihm um Arbeit nachgefragt hatte. Georg Neubauer konnte einen kräftigen Kerl
wie ihn gut gebrauchen. Es hatte noch viel zu tun.
Nach und nach wurde alles wohnlicher in der Einsamkeit. Ein großer Stall wurde
gebaut und das verfallene Wohnhaus repariert, wo es am Notwendigsten war. Doch
eines Tages war Neubauer wie vom Boden verschluckt. Dem Knecht hatte er nicht
ein einziges Wort davon gesagt, wohin es ihn trachtete. Als er nach ein paar Tagen
wieder zurückkam, sah er so niedergeschlagen aus, als hätte man ihn unterwegs böse
verprügelt. Vielleicht war ihm etwas gegen den Strich gegangen oder etwas
geschehen, das seinem einsamen Herz tiefe Schmerzen zugefügt hatte.
Und richtig. Er war heimlich in Lili Weißmanns Dorf gewesen und hat erfahren
müssen, dass sie schon seit geraumer Zeit als Dienstmagd in die Großstadt gegangen
sei. Sie hat es also doch nicht in ihrer kleinen Dorfwelt ausgehalten. Immer nur Erde an den Füßen und jeden Tag die schwere Arbeit verrichten. In der Großstadt dagegen ging das Leben leichter und flotter von der Hand. Man musste es nur richtig verstehen. Aber das dieses unschuldige Mädchen, das er so anhimmelte, auf den Gedanken gekommen war, die weite Welt der Großstadt kennen zu lernen, das wollte ihm einfach im Moment nicht in den Kopf.
Georg Neubauer saß jetzt unschlüssig herum. Auf dem Rückweg hatte er übrigens ein
zweites Pferd und dazu noch zwei Kühe gekauft. Er wollte sich vor seinem Knecht
nicht die Blöße geben, dass er so etwas wie ein heimlicher Liebhaber war, der wegen
eines Dorfmädchens zwei Tage von Haus und Scholle wegblieb, um einer flüchtigen
Liebschaft hinterher zu laufen.
Sie war allerdings die Tochter von einem Kleinbauern, der den Stall voller Rinder
hatte. Die Leute in dem kleinen Dorf gaben ihm auf seine Fragen willig Auskunft,
weil sie schnell herausfanden, aus welchen Gründen er gekommen war.
Nun musste allerdings der neue Anzug und die neuen Schuhe wieder zurück in den
Schrank. Wozu hatte man denn einen Schrank? Es muss doch etwas darin hängen.
Und dann kommt vielleicht mal ein Tag, wo man wegfahren muss, weit weg in die
große Stadt. Weshalb sollte man sich nicht einmal eine Reise leisten, wo doch jetzt
genug Geld da ist?
Der Winter verging und im darauf folgenden Frühjahr kam noch ein zweiter Knecht
auf den Hof. Ja, man wurde größer, man dehnte sich aus. Georg Neubauer ging über
die ausgedehnten Wiesen, der glänzende Tau sprang wie klingendes Silber um seine
nackten Füße. Wenn er so allein durch die weite Landschaft ging, war jedes mal
etwas Zeitloses in ihm, fast so, als ob der Glanz und die Finsternisse des Weltalls
durch ihn hindurchflossen. Bienen und Blütenkelche fingen an zu klingen und die
grünen Gräser der Wiesen sangen gemeinsam ein leise rauschendes Lied im
wogenden Wind. Hauchfein stieg in der Ferne vom Dach seines neuen Hauses der
Herdrauch in den blauen Himmel. Schweigen überall, wohin man lauschte.
Es kamen Tage, wo ihm die Arbeit nicht mehr so richtig von den Händen wollte.
Weiß der Teufel, es war nicht richtig, dass sie einfach in die große Stadt gegangen
war.
Aber da musste er auf einmal laut vor sich hin lachen.
Was bilde ich mir denn ein? Wie komme ich überhaupt dazu, ihr Vorwürfe zu
machen? Sie weiß bestimmt nichts mehr von mir. Hat sicherlich alles schon längst
wieder vergessen. Man kommt sich einfach zu wichtig vor, hier in der Einsamkeit.
Liebe macht eben blind für die Realität. Die Welt dreht sich trotzdem weiter, und man
sitzt hier auf einer Scholle Erde, die sich aber nicht dreht. Trotzdem überkam
Neubauer das komische Verlangen, auf der Stelle die Arbeit hinzuschmeißen und zu
dem Mädchen in die Großstadt zu fahren. Aber er riss sich zusammen und fluchte
darüber, dass er sich überhaupt derlei unsinnigen Gedanken hingab.
Kaum war die Ernte jedoch unter Dach und Fach gebracht, entschloss sich Georg
Neubauer dazu, Lili Weißmann einen Besuch abzustatten. Die Adresse hatten ihm die
Dorfbewohner besorgt und bald stand er in der Nähe eines feinen Hauses, wo sie im
Dienst einer reichen Familie stand. Weil er sich aber nicht traute bei den feinen
Herrschaften wegen des Mädchens vorstellig zu werden, beobachtete er aus sicherer
Entfernung lieber die Haustür und hoffte darauf, dass sie irgendwann einmal aufging
und Lili Weißmann heraustrat.
Tagelang stand Neubauer auf der anderen Straßenseite, ging immer wieder mehrmals
auf und ab und lauerte wie ein Hund, der in Wind und Regen auf seinen Herrn
wartete und überlegte dabei, was er ihr sagen wollte. Doch als sie einmal heraus kam,
hatte er alles wieder vergessen. Sie wirkte so fremd auf ihn. Sie kam ihm so verändert
vor, wie ein Schmetterling über fremden Asphalt. Doch er folgte ihr, nahm sich ein
Herz und hielt sie an. Er tat dabei so, als würde er mit ihren Eltern auf du und du
stehen und überbrachte Grüße von ihnen.
Und tatsächlich. Sie erkannte ihn sofort wieder, obwohl er in völlig neuen Kleidern
vor ihr stand. Georg Neubauer hatte dabei in ihren Augen so etwas wie ein Leuchten
gesehen, als er sie ansprach. Oder bildete er sich wieder nur alles ein? Diesmal nicht!
Es war tatsächlich ein Beben in ihrer Stimme.
Und dann fing er auf einmal damit an, ihr im Verlauf des Gespräches Vorschläge zu
machen, dass sie auf sein Gut kommen solle. Er brauchte sie. Er brauchte sie sogar
viel notwendiger, als er zugeben wollte. Er fragte sie, wie viel Lohn sie bei den neuen
Herrschaften bekäme und sie meinte: „Jeden Monat sind es 35 Mark. Alles andere ist
frei.“
Georg Neubauer fing an zu wettern. Das wäre doch keine gerechte Bezahlung für die
anstrengende Arbeit. Ihm seien einhundert Mark nicht zu viel. Und wenn sie ihm
sagen möchte, wie viel sie haben wolle..., wäre er damit auch einverstanden.
Das Mädchen stand unschlüssig da. Sie wusste nicht, was sie von seinem Angebot
halten sollte. Etwas wie Misstrauen dämmerte in ihr auf. Sie zupfte vor lauter
Verlegenheit an ihrem Rock herum und schaute ihn dabei unvermittelt in seine
schönen, wasserblauen Augen.
Neubauer fragte sie noch einmal mit sanfter Stimme, ob sie mit zweihundert Mark
zufrieden sei?
Und da nickte sie. Aber man konnte es ihr deutlich ansehen, dass so etwas wie Furcht
und Unbehagen in diesem Nicken mitschwang. Lili Weißmann verspürte große Lust,
einfach wegzulaufen. Aber der Funke der Liebe war trotz aller Unbilden und
Misslichkeiten erneut übergesprungen. Sie spürte, dass dieser Mann, der hier so
voller Verzweiflung vor ihr stand, alles dafür zu tun bereit war, damit sie mit ihm
ginge. Sie wollte es jetzt nicht mehr wegen des Geldes machen, sondern einzig und
allein aus reiner Liebe zu ihm.
Auf einmal umarmten sie sich, wie zwei Menschen, die lange auf diese Begegnung
gewartet hatten. Dann gingen sie miteinander fort und standen plötzlich auf einem
stillen Parkweg. Er redete die ganze Zeit von seinem Gut, aber sie hörte nur halb hin.
Da zog er aus seiner Manteltasche ein Buch mit einem weißen Etikett. Darauf stand
eine ziemlich hohe Zahl. Er schlug das Buch auf und hielt es ihr hin. Ihre Augen
lasen ihren eigenen Namen „Lili Weißmann“. Sie schaute ein zweites Mal hin, weil
sie glaubte zu träumen. Es war ein Sparkassenbuch, das auf ihren Namen ausgestellt
war. Mit Stempel der Kreissparkasse und sehr vielen Einzahlungen. Zweitausend
Mark hatte Georg Neubauer für sie gespart und alles fein säuberlich aufbewahrt. Sie
blätterte immer wieder in dem Büchlein und war fassungslos vor Freude.
„Dass soll alles für mich sein?“ fragte sie mit Ernst und tiefer Demut den lächelnden
Mann vor sich, den sie damals im Zugabteil nur flüchtig kennen gelernt hatte und ihm
so etwas niemals zugetraut hätte.
Er trat plötzlich ganz nah an sie heran. Ein Duft von Acker und frischem Tannenholz
strömte ihr aus seinen Kleidern entgegen. Es war ihr so, als ob sie von der
Heimaterde selbst berührt würde, die sie so sehr liebte. Dann wurde sie auf einmal
von zwei kräftigen Armen eng umschlugen. Sie wehrte sich nicht, schloss willig ihre
Augen und sein bebender Mund drückte sich auf ihre heißen sehnsuchtsvoll
wartenden Lippen.
Zwei „Ich“ vereinigten sich in tiefer Liebe zu einem „Wir“.
Wohlig weht ein Hochgefühl, durch alle meine Sinne.
Wachgerüttelt ist mein Geist, durch heiß gelobten Duft.
Schwach, ergeben, lechzend steigt die Wärme in mir drinne.
Schnüffelnd sucht die [ ... ]
Besinnungslos produzieren wir drauf los,
als gäb's die Ersatzwelt in der Konserve,
ist fünf nach zwölf, das Gejammere groß,
dieser Satz lockt uns aus der Reserve:
Als Gäste wir die Erde [ ... ]