Ich war auf der Durchreise. Würde in einem kleinen Hotel in einem kleinen Dorf direkt an einem Fluss übernachten. Wollte schreiben, wollte mich vergessen, um in der Sprache wiedergefunden zu werden. Der Fluss trieb schön langsam dahin. Pappeln auf beiden Seiten. Ich setzte mich ans Fenster, genoss die letzten Sonnenstrahlen. Jeden Tag würde ich an einem anderen Ort sein. Ich setzte mich an den kleinen Tisch in meinem Zimmer, begann zu schreiben: "Früher war alles anders gewesen, aber nicht besser. Heute ist alles anders, aber auch nicht besser." Ich schaute die alten Mauern an, von denen ich zum Fluss hinunterblickte, sie waren älter, als ich je sein würde. Steinmauern, die das Mittelalter und die Neuzeit mehr oder weniger unbeschadet überstanden hatten.

An diesem Abend fiel mir nichts ein, ich beschloss, noch einen kleinen Spaziergang durchs Dorf zu machen, durch die Altstadt, dem Fluss entlang zurück zum Hotel. Vielleicht würde mich das auf Ideen bringen. Der hellblaue Himmel hatte sich mittlerweile in ein sattes Dunkelblau, gemischt mit Schwarz verwandelt, in den Gassen standen unterschiedliche Laternen, keine glich der anderen. Die mussten sich früher ziemlich uneinig gewesen sein.

Als ich mich der Dorfkirche näherte, sass im Laternenlicht eine junge Frau auf einer Bank und schaute ins Leere. Kein iPhone in der Hand, nur dieser leere Blick. "Guten Abend", sagte ich, "darf ich mich neben Sie setzen?" "Warum nicht", sagte sie. "Ein herrlicher Abend", sagte ich, "ist das immer so schön bei euch?" "Manchmal", sagte sie, "aber im Moment ist das alles nur Fassade, es geht mir nicht gut." "Was fehlt Ihnen?", fragte ich. "Die Liebe", sagte sie, "sie ist mir abhandengekommen, von heute auf morgen, dabei war alles am Anfang so schön gewesen, diese Umarmungen, diese Nähe, aber ich hatte auf einmal dieses viele Fliegen satt, verstehen Sie, und dieses viele Geld jedes Mal, und wozu? Für ein paar Zärtlichkeiten, ein wenig Sex und gutes Essen. Eine Fernbeziehung eben." "Das kann ich verstehen. Immer dieses Packen, diese Erwartungshaltungen, dieser Druck, dass die Wochenenden perfekt sein müssen." "Genau, dabei will man sich doch auch einmal gehen und fallen lassen, nicht eingespannt sein in ein paar Stunden und insgeheim schon wieder an den Abflug denken müssen. Und wie würde das alles einst ausgehen? Ich zu ihm ziehen in ein fremdes Land, oder er zu mir in ein für ihn fremdes Land? Ich hänge an meiner Arbeit, an meiner Wohnung, an der Altstadt, am Fluss, an der Ruhe, an der Beschaulichkeit. Irgendwann verliess mich die Liebe, es lag nicht an ihm, aber alles hatte sich so eingespielt, die Flüge, die Wiedersehen, und irgendwann fragte ich mich, ist es das nun gewesen? Und ich musste mir sagen, ja das war es nun gewesen, die Liebe nur noch Eigennutz, in der ich gefangen war. Ich wollte ausbrechen aus diesem Korsett, mich wieder frisch und frei fühlen, verstehen Sie, und jetzt sitze ich hier, habe ihm geschrieben, dass ich das Flugzeug nicht mehr besteigen werde, dass es vorbei sei. Und ich sitze jetzt hier und weiss nicht, ob ich mich freuen oder mich bemitleiden soll, passt wohl nicht zum schönen Abend." "Kommen Sie", sagte ich, "gehen wir ein paar Schritte."

Sie stand auf und folgte mir schweigend die Treppe hinunter zum Fluss. Am Ufer sagte ich: "Ich bin eigentlich nur heute Abend hier, wissen Sie, im Hotel da oben, ich bin auf der Durchreise, aber Ihre Geschichte berührt mich sehr." Sie schaute mich an, mit diesem traurigen Blick, der mich bis ins Mark erschütterte. "Schauen Sie dem Fluss zu, wie er gleichmässig und friedlich weiterzieht, keinen Laut von sich gibt und sich durch das neue Wasser ständig erneuert. Auch Ihre Liebe ist wie der Fluss."

Nachdem wir einige Augenblicke schweigend nebeneinander an der Quaimauer gestanden waren und den Mücken bei ihren Tänzen zugeschaut hatten, gingen wir wieder die Stufen hoch zum Kirchplatz hinauf. "Ihre Begegnung hat mir gutgetan», sagte sie, "ich bin jetzt nicht mehr so traurig." Sie umarmte mich unverhofft, legte ihren Kopf in meine Schulter und schwieg. Dann löste sie sich von mir und schaute mich an. "Werden Sie morgen wieder zur selben Zeit kommen? Ich werde hier auf der Bank auf Sie warten", sagte sie, drehte sich um und verschwand in der hereinbrechenden Nacht.

Ich ging in mein Hotelzimmer zurück und begann zu schreiben. Die traurigen Augen der Frau vom Kirchplatz gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte in ihnen etwas gefunden, was ich schon lange gesucht hatte.


© René Oberholzer


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