Zuflucht

Zuflucht

Sie hob den Kopf. Zentimeter für Zentimeter ließ sie ihre Augen über das Gemäuer wenige Schritte von sich entfernt wandern. Wie oft war sie jetzt schon hier gewesen? Wie oft hatte sie diesen Ort aufgesucht, um Ruhe zu finden, sich einfach sicher zu fühlen? Wie viele Stunden hatte sie mit ihm hier verbracht?
Sie atmete einmal tief durch und ging zur steinernen Treppe auf der rechten Seite des Turmes. Als ihr nach dem ersten Meter das Flackern an den Wänden auffiel, wurde ihr schwer ums Herz… Es war ihr Ritual, welches sich mit der Zeit still seine Daseinsberechtigung erarbeitet hatte.
Wer zuerst da war zündete die Fackeln an.
Sie ging um die Ecke und stieg die Stufen weiter nach oben. Vor einem Durchgang hielt sie inne und holte erneut tief Luft. Zu ihrer rechten befand sich nun eine weitere Treppe. Sie führte noch ein Stockwerk höher. Dort gab es nur ein einziges Zimmer…
Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie die Gedanken so vertreiben. Es gelang ihr nicht wirklich. Jedoch verbot sie sich, ihnen weiter Beachtung zu schenken. Sie trat ins Freie. Vor sich hatte sie in mehreren Metern Entfernung die Brüstung der Mauer. Und dort stand er. Mit dem Rücken zu ihr, die Arme zu beiden Seiten auf die Umrandung einer Schießscharte gelegt, schien er in die Nacht zu starren und sie gar nicht zu bemerken.
„Da bist du ja…“
Er drehte sich immer noch nicht um.
Verunsichert wurde sie langsamer. „Ja…“
Es war totenstill. Eine der wunderschönen Eigenschaften dieses Ortes. Und der Grund, warum sie sich hier damals zum ersten Treffen verabredet hatten. Um in Ruhe reden zu können. Genau wie jetzt.
„Ich…“, er räusperte sich und musste nochmal neu ansetzen. „Ich bin froh, dass du gekommen bist.“ Er drehte sich um.
Es zerriss ihr das Herz, als sie ihm ins Gesicht sah. Er war angespannt, seine Augen schienen feucht, wahrscheinlich hatte er sich unter anderem deswegen nicht umgedreht.
„Auch wenn ich es etwas makaber finde, dass du dich ausgerechnet an diesem Ort hier für eine Aussprache treffen wolltest, Mara. Wo wir uns das erste mal gesehen haben. Uns das erste mal geküsst haben“, er schloss die Augen und verzog beinahe schmerzerfüllt das Gesicht. „Aber was rede ich hier eigentlich? Du weißt es alles. Und am Ende wird es mir vielleicht noch als Beeinflussung angekreidet. Also, was willst du mir sagen?“
Ja. Was wollte sie ihm sagen, was genau? Sie hatte sich die Worte so oft zurecht gelegt, war ihren Monolog hunderte Male im Kopf durchgegangen. Und jetzt war alles wie leergefegt. „Ich bin auch froh, dass du hier hergekommen bist und das Gespräch wahrnehmen wolltest. Wirklich. Ich weiß, dass es dir nicht leicht gefallen sein wird.“
Er lachte sarkastisch auf. Mehr passierte nicht.
Ihr Herz zog sich zusammen. Der Gedanke, dass es eventuell schon zu spät war, ließ sie innerlich schreien. „Ich habe nach unserem letzten Treffen viel nachgedacht. Über uns. Über… Über ihn und mich. Ich weiß, und dir ist es auch bewusst, dass ich nicht ohne Grund mit ihm zusammengekommen bin. Meine Gefühle habe ich noch nie einem Menschen vorgespielt…“
Er schloss erneut die Augen, fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, ehe er sie direkt ansah. „Komm` bitte einfach zum Punkt.“ Seine Stimme war kalt.
„Ich… Ich bin wochenlang mit dir hier her gekommen. Habe mich in deine Arme fallen lassen und habe mich so geborgen gefühlt wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich stand aber zwischen den Stühlen, Leo. Es war ein beschissener Kampf für mich, genau so schwer wie für dich, nur auf eine andere Art und Weise.“
„Du konntest etwas tun, verdammt!“
Die Heftigkeit seiner Reaktion erschütterte sie. Mit einem Mal kam seine ganze Verzweiflung zutage.
„Ich habe Wochen tatenlos in der Ungewissheit darüber gelebt, wie du dich entscheiden wirst. Für welchen Weg du dich entscheidest. Für wen dein Herz wirklich schlägt. Und glaubst du ich habe nichts bemerkt, Mara? Vielleicht werde ich jetzt wieder unfair, aber dann ist das nun mal so. Ich möchte, dass du dich an einen Moment erinnerst.“ Er holte tief Luft. „An unserem zweiten Abend hier, wolltest du nicht gehen. Es war die erste Situation, in der man mehr als deutlich gespürt hat, dass wir uns nicht voneinander trennen wollten. Es nicht konnten. Wir haben es uns oben im Turmzimmer gemütlich gemacht, du bist in meinem Arm eingeschlafen. Und irgendwann, aus irgendeinem uns beiden wahrscheinlich immer noch unerklärlichen Impuls heraus, sind wir beide mitten in der Nacht wach geworden, haben uns tief in die Augen geschaut und haben letztendlich das erste mal miteinander geschlafen. Und ich werde diesen Moment nie vergessen. Du hast dich mir mit einem solchen Vertrauen hingegeben, hast dich an mich geklammert, als würdest du mich nie wieder gehen lassen wollen. Diese ganze Nacht war so wunderschön…“ Ihm waren erneut die Tränen gekommen, die letzten Worte hatte sie nur noch schwer verstanden. „Egal wie du dich entschieden hast, egal was du mir gleich sagen wirst – Ich möchte das du eins weißt: Ich liebe dich. Und das wird so bleiben.“
„Ich kann mir das nicht mehr länger mit anhören…“ Sie kämpfte selbst mit ihren Emotionen. „Ich ertrage weder zu sehen wie du leidest, noch dich auch nur eine weitere Minute im Unklaren zu lassen.“
Er ließ sie nicht aus den Augen.
„Ich will nur dich. Verflucht, ich habe so etwas noch nie empfunden, was ich bei dir spüre. Seit Beginn unseres erneuten Kontakts hast du mich emotional so erreicht, hast mir ein Gefühl von enormer Geborgenheit gegeben. Beziehung zu Maximilian hin oder her – ich habe mich drei Tage nach unserem letzten Treffen getrennt. Ich weiß insgeheim seit unserem ersten Kuss vor zwei Monaten, dass ich mich unwiderruflich in dich verliebt habe. Mehr als das…“ Sie schaute kurz weg und sah über seine Schulter in den vom Mond erhellten Himmel. „Ich liebe dich, Leo.“
Wortlos kam er auf sie zu, umfasste ihr Gesicht und lehne seine Stirn mit geschlossenen Augen gegen ihre. „Hast du das gerade wirklich gesagt? Du liebst mich?“ Er wischte ihr die Tränen weg.
„Ja“, sie sah ihm in die Augen. Und sofort kam dieses atemberaubende und unbeschreibliche Gefühl zurück. Es brauchte nur diesen einen kraftvollen Ruck, mit der er sie an sich zog und sie verlor sich endgültig an ihn.
„Ich lasse dich nie wieder los. Nie wieder lasse ich zu, dass wir an unserer Liebe zueinander zweifeln… Es war von Anfang an etwas so besonderes zwischen uns. So intensiv…“
Sanft öffnete er ihre Lippen, begann sie zu küssen, während sie die Arme um seinen Nacken schlang und von seinen Armen aufgefangen wurde. Sie lösten sich nicht voneinander, bis sie die Tür des Zimmers im Rücken spürte. Er stieß diese auf und entließ sie vorsichtig auf die Matratze. Er beugte sich über sie, küsste sie in der Halsbeuge.
„Darf ich dich berühren?“
Sie sahen sich in die Augen.
„Ich wünsche mir nichts mehr…“ Ihr traten erneut Tränen in die Augen. „Ich will dich so nah haben wie es geht…“
Er legte eine Hand an ihre Wange. Sein Blick sprach Bände. „Ich liebe dich.“
Sie umarmte ihn an der Hüfte. „Ich will keinen anderen mehr. Nie wieder.“


© MajaBerg


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Beschreibung des Autors zu "Zuflucht"

Gewidmet meiner großen Liebe, die mir diesen Ort von dem hier die Rede ist, überhaupt erst geschenkt hat. Ein Ort, den nur wir beide auswändig kennen und
der sicher verwahrt vor Blicken anderer in unseren gemeinsamen Gedanken lebt.
Was wäre die Welt ohne Fantasie? Deine Bilder, meine Geschichten - eine Einheit.
Ebenso eine Einheit wie ihre Schöpfer. Etwas, was ich mir nie werde erklären können,
aber ich will dieses Gefühl nie wieder missen.
Ich liebe dich!

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Kommentare zu "Zuflucht"

Re: Zuflucht

Autor: Angélique Duvier   Datum: 25.02.2022 22:39 Uhr

Kommentar: Liebe Maja, eine Liebesgeschichte, die ich sehr gern gelesen habe!

Liebe Grüße,

Angélique

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