Es ist anfangs Oktober. Ein alter Mann sitzt zu Hause auf seinem Stuhl. Hält frische Hahnenfüsse in der Hand. Hat Schmerzen im linken Fuss. Arthrose, Halux und Spreizfuss. Der Arzt sagt, man könne nicht viel machen. Ab und zu ein Schmerzmittel nehmen, ab und zu in die Therapie gehen. Der alte Mann hat sich ein wenig verliebt. In eine Bäuerin im selben Dorf. Sie ist etwas jünger als er. Ihr Mann ist vor 2 Jahren gestorben, an Lungenkrebs. Der alte Mann hat sie am Dorffest kennengelernt. Er solle doch einmal bei ihr vorbeischauen, hat sie gesagt. Sie würde sich freuen. Der alte Mann hat sich herausgeputzt. Er hat ihr gesagt, dass er um 10 Uhr kommen würde. Die Hahnenfüsse hat er am Morgen auf seiner Weide gepflückt. Wenn nur nicht diese Schmerzen wären. Wie würde er sich nur machen mit einem solchen Gesicht? Den Termin verschieben. Aber welchen Grund angeben?

9.30 Uhr. Die Bäuerin freut sich auf den Besuch. Hat einen Kuchen gebacken. Den Tisch gerichtet. Käse und Brot und Aufschnitt aufgetischt. Kaffee gemacht. Sie schaut in den Spiegel. Sie sieht ihre Runzeln. Mit 25 war sie eine schöne Frau gewesen. Doch die Jahre, ja die Jahre, die haben an ihr Spuren hinterlassen. Der Unfall ihres ältesten Sohns, der in der Jauchegrube ertrank, das Zerwürfnis mit der jüngsten Tochter und der Krebstod ihres Mannes. Nur ihre ältere Tochter ist ihr noch geblieben. Sie wohnt zwei Dörfer weiter. Mit ihren Männern scheint es bislang einfach nicht zu klappen.

9.45 Uhr. Der alte Mann sitzt noch immer auf seinem Stuhl, die Schmerzen sind nicht weniger geworden. Er greift zum Telefon. «Ich kann nicht kommen», sagt er, «ich habe Schmerzen im linken Fuss.» «Dann komme ich zu dir», sagt sie, hängt auf, packt ein paar Esswaren ein, macht sich auf den Weg.

10.15 Uhr. Es klopft an der Türe. Der alte Mann öffnet. «Die sind für dich», sagt er, streckt ihr die Hahnenfüsse entgegen und strahlt ein wenig. Die Bäuerin bedankt sich, lächelt, «komm herein», sagt er, humpelt in die Stube, «ich hoffe, die Schmerzen gehen vorbei. Ich bin nicht mehr 30, aber ich habe ein grosses Herz», sagt er. «Ich habe Wurst, Käse und Brot und Kuchen mitgebracht», sagt sie, «ich bin auch schon 55». Beide lachen. Es wird gegessen und geredet.

Später lichtet sich der Nebel, löst sich auf. «Komm, wir gehen nach draussen», sagt sie. Sie stellen sich hinter dem Haus in die Sonne. Schauen in die leicht verschneiten Berge. Er hat die Schmerzen fast vergessen. «Ich mag dich», sagt er plötzlich. «Ich mag auch Käse», sagt sie. «Ich mag dich mehr als Käse», sagt er, beide lachen. Sie ergreift seine rechte Hand, er dreht sich zu ihr hin. Sie ergreift auch seine andere Hand an und sagt: «Deine Hände sind schön warm. So wird der Winter nicht so kalt werden.»


© René Oberholzer


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