Ja, reichlich gutgläubig bin ich schon. Auch Jan glaubte ich lange. Er war mein Letzter. Ein elender Schmarotzer, der sich meine Liebe und mein Geld nahm und auch sonst vorwiegend um sich selbst kreiste.
Irgendwann begann ich in seiner Nähe zu frieren. Er wurde arbeitslos und hatte außer mir mindestens zwei weitere Freundinnen. Vor einem halben Jahr packte ich ihm die Koffer und stellte sie vor die Wohnungstür. Tränenreich versicherte er mir im Treppenhaus, nur ich sei seine einzige wahre Liebe und eine Arbeitsstelle habe er auch längst in Aussicht.
Genau das versicherte er auch seinen anderen beiden Freundinnen. Wir drei hatten inzwischen eine Notgemeinschaft gegen Jan gegründet und telefonierten regelmäßig miteinander.
Er ging und ich hatte wieder Zeit für mich.
Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, las ich viel. Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und E-Mails von Leuten, die ich leibhaftig nie sehen wollte. Musste schon beim ersten Kennen-Lernen die Leute anfassen können. Doch weil mich Warterei nervte, antwortete ich meinen Internet-Bekanntschaften umgehend, während sie sich oft sehr viel Zeit für ihre Antworten ließen.
Über Heinrich las ich vor gut vier Wochen in der Zeitung. Die Polizei warnte vor einem älteren Mann, der sich Heinz im Glück nannte.
Der väterlich wirkende Mann spreche jüngere Frauen an Bushaltestellen an, lasse sich von ihnen in Gaststätten aushalten und leihe sich Geld, weil er das angeblich für ein Taxi brauche, da zu seinem Wohnort um die Zeit kein Bus mehr fahre. Sogar die Kontonummer der Frauen ließ er sich geben, um das geliehene Geld überweisen zu können. Auf die Überweisung warteten bisher alle von ihm angesprochenen Frauen vergeblich. Wenn er am Ende das Café verlassen wollte, entschuldigte er sich stets damit, noch zur Toilette zu müssen, und verschwand spurlos.

?Manchmal ist alles nur lauwarm, mein Schrei heiser, die Zunge belegt. Manchmal klopft
mein Herz dumpf gegen die halbvollen Lungenflügel und meine Abenteuer finden ausschließlich im Fernsehen statt. Dann ist Leidenschaft Jugendsünde und Vernunft eine äußerst lästige Alterserscheinung. Manchmal ist alles irgendwie dazwischen. Und manchmal bin ich plötzlich unglaublich glücklich, denn das richtige Glück kommt immer irgendwie überraschend.?
Eigentlich lass ich mich nicht von wildfremden Männern ansprechen. Doch der ältere Mann in seinem nicht mehr ganz modischen schwarzen Tuchmantel stand plötzlich neben mir, während ich auf den Bus wartete. Er kam mir überhaupt nicht fremd vor. Als würden wir uns schon sehr lange kennen, sprach er einfach darauf los, langsam, ohne Pause. Seine Stimme klang beruhigend und verständnisvoll, als würde er alle meine wichtigen Fragen kennen und beantworten können, obwohl er mich gar nicht zum Fragen kommen ließ.
Dann wollte ich in den Bus steigen. Er unterbrach seinen Redefluss, griff nach meiner Hand und bat mich, den nächsten Bus zu nehmen.
Der kam erst zwei Stunden später.
Nicht einmal richtig angesehen hatte ich ihn mir, als er mit seiner angenehm warmen Hand nach meiner kalten griff und mich mit sich zog.
Ich folgte ihm in eine nahe gelegene Bäckerei/Konditorei, in der ein paar Tische und Stühle auf Gäste warteten, in der Kaffee ausgeschenkt wurde und er sich ein ungewöhnlich großes Stück mit rosa Marzipan gedeckte Punschtorte bestellte. Ich nahm Apfelkuchen vom Blech, flach und säuerlich.
Lächelnd saß er mir eine Weile wortlos gegenüber, sah auf sein rosa Tortenstück, blickte mich kurz mit leicht getrübten blassblauen Augen an und sagte schließlich, er sitze immer überall dazwischen, sei so einer, der in der Menge untertauche, aber viel, viel lieber mutig wäre. Manchmal habe er auf einmal Mut und halte plötzlich alles für eine glückliche Wende. Heinrich heiße er. Früher riefen ihn alle Heinz. Und seine wenigen Freunde nannten ihn gar Heinz im Glück. Doch er sei nur ein Glückssucher. Den Besitz von Glück halte er für das Gegenteil von Glück.
Ich nahm einen Schluck des fade schmeckenden Kaffees. ?Aber der Typ hieß doch nicht Heinz, der hieß Hans im Glück!?
?Ja, klar, der im Märchen.?
Ich lachte und wartete darauf, dass er weiter redete. Da er jedoch schwieg, sah ich mich genötigt, etwas zu sagen.
?Wir sind halt keine Märchentypen, weil wir nicht mehr an Märchen glauben können.?
Er schüttelte den Kopf. ?Manchmal doch, dann habe ich da drinnen auf einmal das Herzklopfen eines Abenteurers. Nur äußerlich bewegt sich nichts. Gar nichts.? Er öffnete den Reißverschluss seiner grauen ausgebeulten Strickjacke. Darunter trug er ein schwarzes Hemd, das ziemlich weit aufgeknöpft war. Fast andächtig steckte er die Hand ins Hemd und ließ sie auf der Brust ruhen.
Sein kurzes Auflachen klang zufrieden. ?Klopft noch ziemlich heftig. Aber immer wieder stehe ich starr in der Menge, selbst wenn überhaupt keine Menge da ist. Brauche jemanden, der mich da rausholt. Eine wie Sie zum Beispiel, die mein Herz klopfen lässt. Wissen Sie, ich habe hier in der Brust sonst so ein taubes Gefühl. Jetzt nicht.?
Ich lachte. ?Abenteuertauglich bin ich eigentlich überhaupt nicht. Und Sie, Sie könnten mein Vater sein.?
?Bin gerade mal dreiundsechzig.?
?Ich ganze dreiunddreißig.?
?Immerhin sind sie solo!?
?Woher wollen Sie das wissen??
Er kratzte sich am Hinterkopf, glättete anschließend seine grauen Haare und lächelte. ?Hab ich im Gespür. Die Liebe ist übrigens eine Macht. Doch wer nur auf Macht setzt, kann nicht wirklich lieben. Warum sie mich in der Schule schon Heinz im Glück genannt haben, weiß ich nicht. Ich war eher Einzelgänger und dabei nicht einmal ein besonders guter Schüler. Eher unterer Durchschnitt.?
Behutsam zog er seine Hand wieder aus dem Hemd, legte sie vorsichtig auf die meine und versuchte, mir in die Augen zu sehen. Ich wich dem Blick seiner ziemlich kleinen Augen aus und zog widerwillig meine Hand vom Tisch zurück. Die seine ließ er auf der Tischplatte liegen, lachte und meinte, als Eroberer sei er nie besonders erfolgreich. Als glücklicher Mensch könne er allerdings abwarten.
?Auf was warten Sie denn??
Nach kurzem Schulterzucken lehnte er sich auf dem Stuhl zurück, atmete tief ein und langsam wieder aus.
Früher habe er einige Zeit als Versicherungsvertreter gearbeitet und selbst dabei immer abgewartet, bis seine potentiellen Kunden ihn freiwillig in die Wohnung ließen. Er sei nun mal nicht der aufdringliche Typ, der, wie ein unseriöser Staubsauger-Vertreter, seine Schuhspitze zwischen Tür und Rahmen stelle.
Sehr langsam führte er ein Stück Torte von seinem Teller mit der Kuchengabel zum Mund, öffnete Lippen und Gebiss, schob die Torte hinein, kaute ausgiebig und schluckte. ?Köstlich, diese Punschtorte.? Noch langsamer griff er nach der Tasse, führte auch sie zum Mund, schlürfte leise die milchig braune Flüssigkeit in sich hinein und sah mir über die Tasse in die Augen.
?Man muss Zeit genießen können?, was sage ich, nein, ich muss nicht?, ich genieße die Zeit, und das vor allem in so angenehmer Gesellschaft.?
Ich räusperte mich. ?Was soll die Schleimerei??
Schweigend widmete er sich dem nächsten Stück Torte und einem weiteren Schluck Kaffee.
Ich bemühte mich, unbemerkt auf meine Armbanduhr zu sehen. Wollte den Bus keinesfalls verpassen.
?Gerade Sie in Ihrem fast noch jugendlichen Alter sollten sich Zeit nehmen und die genießen, genießen, genießen. Glauben Sie mir, je älter Sie werden desto rascher verrinnen Stunden, Tage und Jahre. Bergab geht es immer schneller und schneller. In knapp 18 Jahre bin ich achtzig. So alt will ich gar nicht werden.?
Mit beiden Händen fuhr er sich durch die grauen Haare, lachte und wandte sich danach noch langsamer dem nächsten Tortenstück zu.
?Außer Zeit habe ich sowieso nichts mehr zu verlieren. Na ja, nicht ganz. Ich brauche auch Kontakt zu liebenswerten Menschen, die mir von ihrer Zeit geben.? Erneut schob Heinz seine Hand über den Tisch auf mich zu, griff demonstrativ einige Male ins Leere und hielt mir beide Hände offen hin.
Ich setzte mich aufrecht, schob den Stuhl mit den Füßen wenige Zentimeter bis an die Wand zurück, zog umständlich den Ärmel meines Pullovers hoch und sah diesmal demonstrativ auf meine Armbanduhr.
In einer knappen halben Stunde würde der Bus kommen.
Plötzlich stand Heinz auf, legte seine rosige Gesichtshaut in ungewöhnlich viele Lachfalten und verneigte sich entschuldigend. Er müsse ganz, ganz dringend zur Toilette. Der Kaffee treibe so.
?Ah, jetzt ist es wohl so weit?? Ich sah ihn lauernd an.
Er schüttelte leicht den Kopf, blickte umher, entdeckte ein WC-Hinweisschild und ging um die Theke herum in den hinteren Bereich des Gastraumes.
Natürlich würde mein Warten vergeblich sein. Ich ging nach gut zehn Minuten an die Theke, um zu zahlen. Die Verkäuferin bediente gerade eine ältere Frau mit einer roten Baskenmütze. Sie konnte sich nicht entscheiden konnte, welche Brotsorte sie kaufen wollte.
?Ach, dann geben Sie mir doch ein halbes von dem Oberländer. Oder, nein, warten Sie, lieber das Dreikorn. Nein, das mag mein Mann nicht. Lieber von dem Weizen. Oder soll ich doch lieber Bauernbrot nehmen??
Die Verkäuferin verdrehte die Augen und sah Schulter zuckend zu mir herüber. ?Komme sofort zu Ihnen.?
Dann spürte ich seinen warmen Atem im Nacken. ?Warum willst du schon gehen? Komm.? Er nahm mich bei der Hand und zog mich zurück zum Tisch. Ohne Gegenwehr folgte ich ihm. Er schob mir den Stuhl hin. Ich setzte mich. ?Mein Bus kommt aber gleich.?
?Aber das ist doch längst nicht der letzte Bus. Übrigens, der und die nächsten Busse fahren heute Abend nur bis Bensberg. Ich muss bis Lindlar. Werde mir wohl ein Taxi nehmen müssen.?
?Und jetzt haben Sie nicht mehr genügend Geld dabei und wollen, dass ich Ihnen das Taxigeld auslege. Oder??
Mit zusammengekniffenen Augen sah er mich an. ?Ja, das wäre natürlich sehr nett. Ich überweise Ihnen das Geld selbstverständlich in den nächsten Tagen auf Ihr Konto, wenn Sie mir Ihre Bankverbindung anvertrauen. Spätestens morgen müsste ich meine Rente auf meinem Giro haben. Wahrscheinlich ist sie schon heute gekommen.?
Ich versuchte einen lauernden Blick. Er lachte. ?Ihr Geld kriegen Sie ganz sicher wieder.?
?Als angehende Realistin lasse ich mich ungern verführen und bringe andere Menschen ebenso ungern in Versuchung. Wir kennen uns doch kaum. Deswegen werden Sie sich mir noch nicht verpflichtet fühlen.?
Heinz zuckte mit den Achseln. ?Realisten leben von der Illusion, keine Illusionen zu haben.?
Ich nickte. ?Gut, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie fahren mit dem nächsten Bus mit zu mir, übernachten auf meiner Wohnzimmercouch und morgen gehen wir gemeinsam zum Geldautomaten. Den gibt es bei mir um die Ecke an der Sparkasse.?
?Der Besitz von Geld ist langweilig.? murmelte Heinz und lächelte verschmitzt. ?Aber wenn Sie mich schon bei sich aufnehmen wollen, sollten wir uns duzen.?
?Ich heiße Christine, aber alle nennen mich Chris.?
?Also, Chris, worauf warten wir. In zehn Minuten geht unser Bus.?
Ich zahlte an der Theke für ihn mit.
Vor der Tür des Cafés nahm er mich bei der Hand. Sie war warm und beruhigte mich.

Als wir wenige Minuten von meiner Wohnung entfernt aus dem Bus stiegen, hakte er sich, ohne mich zu fragen, bei mir unter.
Die Wohnung betrat er zögerlich, als erwarte er eine Gefahr.
?Keine Angst, ich lebe allein!? ermunterte ich ihn. Er hängte seinen grauen Mantel an die Garderobe im Flur und folgte mir in die Küche.
?Sollen wir zusammen ein Glas Rotwein trinken??
Ich drückte ihm eine Flasche australischen Shiraz Cabernet und einen Korkenzieher in die Hand und bat ihn, ins Wohnzimmer zu gehen.

Als ich nachkam, saß er auf der Couch, rückte zur Seite und wies mit beiden Händen auf den Platz neben sich. Ich setzte mich und er schob mir ein volles Glas Rotwein hin, hob seines und murmelte: ?Auf uns??
Ich versuchte meine Stimme eindeutig klingen zu lassen. ?Auf dich und mich, Heinz im Glück!?
Er lachte, trank hastig, verschluckte sich und musste husten.
Vorsichtig klopfte ich ihm auf den Rücken. Er räusperte sich mehrere Male. ?Ich beklaue nur Frauen, die nicht geben wollen. Nur solche.?
Fragend sah ich ihn an.
?Nun ja, ich erkenne die geizigen und gierigen sofort an ihren kalten Augen und Stimmen, die nichts mitschwingen lassen. Du, aber? dich könnte ich, wenn ich wollte, ausnutzen.?
?Na, Heinz im Glück, und da soll ich dir jetzt wohl besonders dankbar sein??
?Musst du nicht.?
Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, seinen Blicken nicht ausweichen zu müssen.
Heinz verbrachte die Nacht nicht auf der Wohnzimmercouch.
Er schlief schnell in meinen Armen ein.
Als ich am Morgen gegen acht Uhr wach wurde, war der Platz im Bett neben mir leer. Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch lagen zwei Zwanzig-Euro-Scheine und ein Zettel.
Wenn du mich besuchen willst, nimm das Taxi. Stand da in krakeligen Druckbuchstaben. Wohne im Schwalbenweg. Heinz im Glück.
In Lindlar im Schwalbenweg kannte niemand einen Heinrich, der sich Heinz im Glück nannte.


© KarlFeldkamp


0 Lesern gefällt dieser Text.




Kommentare zu "Zeit für Glück"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Zeit für Glück"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.