Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Quer- und Diagonaldenkens,

ein Essay von Albrecht Fabri, das 1946 erschien, trägt den Titel „Der schmutzige Daumen“. Abgesehen von der funkelnden, klaren Sprache enthält es einen interessanten Gedankengang, den ich zum Thema meines heutigen Vortrages machen möchte.

Es handelt sich in diesem Essay um zwei Kunstkenner, die die Bilder eines Künstlers betrachten, welche ihnen absolut perfekt erscheinen. Sie sind jedoch sehr erstaunt, dass ihnen eines der Bilder, obwohl es den anderen vom Duktus, Vollendungsgrad und technischer Vollkommenheit vollständig gleicht, unendlich perfekter und schöner erscheint. Schließlich entdecken sie einen schmutzigen Daumenabdruck in einer Ecke des Bildes, in dem sie die Ursache dieser Schönheit vermuten.

Im gleichen Essay erzählt Fabri von einem japanischen Jungen, der einen Weg fegen soll, dies nach mehrmaliger Wiederholung schließlich auch perfekt zustande bringt. Trotzdem ist der Vater unzufrieden. Schließlich streut er ein paar welke Blätter auf den blitzsauberen Weg und sagt: „Nun ist es gut“.

Was lernen wir aus diesen beiden Episoden? Kann es wirklich sein, dass Perfektion erst dann ihren Gipfelpunkt erreicht hat, wenn sie an irgend einer Stelle nicht perfekt ist?

Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang die Professorin M. aus unserem Kollegium ins Gedächtnis rufen, die ja leider in jungen Jahren an einem Hirntumor dahingeschieden ist. Sie erinnern sich, dass diese Dame schön war. Was heißt „schön“? Sie war absolut perfekt, nach einer kurzen Liaison, die ich vor Jahren mit ihr hatte, und nachdem dieser magische Moment verstrichen war, wurde sie zu meiner besten Freundin. Wie oft hat sie mir ihr Leid geklagt. Sie grämte sich darüber, dass es ihr nie gelang, eine erfüllte Beziehung zu einem Mann aufzubauen. „Sie trauen sich nicht an mich heran“, sagte sie oft, „sie haben Angst vor meiner Schönheit, vor dieser verdammten Schönheit!“

Ich erinnere mich noch gut, wie sie zum letzten Mal aus den Semesterferien zurückkam und mir noch schöner und noch perfekter erschien als jemals zuvor. Als ich sie genau betrachtete, bemerkte ich eine winzige Narbe an ihrer linken Wange. „Es war ein Dornenzweig, der mir ins Gesicht schlug, als ich durch Buschwerk streifte. Dieser Dornenzweig hat dafür gesorgt, dass ich jetzt auch ein Schönheitspflästerchen habe wie einst die Hofdamen am französischen Königshof“. Wir lachten beide. Es war das letzte Lachen, bevor sie kurze Zeit später in der Klinik ihrem Tumor erlag.

Doch genug jetzt der traurigen Erinnerungen und zurück zum eigentlichen Kern dieser Ausführungen – wie kann es sein, dass kleine Unvollkommenheiten zur Vollkommenheit führen können?

Nun, absolute Perfektion hat zwei grundsätzliche Mängel, erstens ist sie statisch, es ist nicht möglich, sie zu steigern, denn nichts kann ja vollkommener sein als das absolut Vollkommene. Doch gravierender ist ein zweiter Mangel.

Absolute Perfektion ist inhuman. In ihrer grausamen, unzugänglichen Vollkommenheit gehört sie gewissermaßen in den Bereich des Göttlichen. Sie ist gleichsam herausgehoben aus dem Bereich, der für Menschen zugänglich ist. Sie ist kalt, sie ist unnahbar. Man kann sie nicht streicheln oder liebkosen. Erst eine kleine Unvollkommenheit bildet den Zugang zu ihr, denn auch der Mensch ist unvollkommen. Unvollkommenheit ist menschlich und damit im eigentlichen Sinne human. Der Zugang zur göttlichen Vollkommenheit bleibt uns Sterblichen verschlossen.

Nun erscheint es natürlich als absurd, der Vollkommenheit nachträglich einen Schaden zuzufügen, um Zugang zu ihr zu erzwingen. Also gewissermaßen der Mona Lisa einen Pickel auf die Stirn zu malen.

Aber, liebe Studierende, das ist auch gar nicht notwendig. Denn wir brauchen als Menschen nur unser Bestes zu geben und können dabei jederzeit die Gewissheit haben, dass es nicht zur Perfektion gedeihen wird.

Nehmen wir als Beispiel noch einmal Leonardo da Vincis „Mona Lisa“. Sie erscheint vielen von uns als vollkommen, doch sie ist es nicht. Es ist ihr Blick, der sie unvollkommen macht. Mitten in ihrem makellosen Antlitz blitzt in ihren Augen so etwas wir Grausamkeit, wie Desinteresse am Jammer dieser Welt auf. Sie verachtet uns, sie ist im Grunde ein Monster. Das ist die eigentliche Unvollkommenheit, die das Bild letztlich ikonisch gemacht hat. Wie bewundern die Mona Lisa, weil wir sie nicht lieben können. Ähnlich verhält es sich übrigens mit dem Antlitz der Nofretete. Die Büste dieser Tochter des Echnaton steht im Museum in Berlin. Ich glaube, insgeheim hat Echnaton seine älteste Tochter nie wirklich geliebt, denn dazu war sie zu vollkommen. Sie war – so könnte man sagen – in den Bereich der Sonne entrückt, die der Herrscher bekanntlich für das einzig Göttliche hielt.

Welche Erkenntnis ziehen wir nun aus all diesem? Nicht etwa, dass wir für Unvollkommenheit sorgen müssen, um Schönes, Begehrenswertes zu schaffen. Nein, wir sollten nur nicht den letzten Rest an Menschlichkeit aus unseren Werken vertreiben wollen. Hinter den Vorhang, der das Inhumane vom Humanen trennt, können wir ohnehin nicht schauen, wir würden nach diesem Blick auch in eine Verzweiflung fallen, aus der wir uns nie wieder erholen könnten.

Also, liebe Studierende, bleiben sie so, wie Sie es jetzt schon sind. Sie alle – und natürlich auch ich – sind nicht vollkommen, so sehr wir uns auch um Vollkommenheit bemühen sollten. Wir brauchen uns des Restes von Unvollkommenheit, der in unsere Werken und Taten verbleibt, nicht zu schämen. Dieser Rest macht uns erst zu Menschen.

Und Götter wollen wir ja alle nicht sein. Ein Leben als Gott wäre an Langeweile nicht zu überbieten.

In diesem Sinne verabschiede ich mich für heute und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


© Peter Heinrichs


0 Lesern gefällt dieser Text.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Über die Humanität der Unvollkommenheit (Episode 42)"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Über die Humanität der Unvollkommenheit (Episode 42)"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.