Wenn es nach Kim gegangen wäre, dann hätte es wegen des Neuen ruhig noch ein paar Tage trubelig bleiben können, einfach wegen der Abwechslung.

Aber leider war Jonas nicht auf den Kopf gefallen und nachdem Melanie ihm einen Tag alles intensiv erklärt hatte, kam er dann auch sehr schnell mit allem klar. Sogar mit dem PC-Programm, das, wie Kim aus eigener Erfahrung wusste, nicht grade unkompliziert war.

Natürlich hatte Jonas trotzdem noch die ein oder andere Frage, aber im Großen und Ganzen war er schon sehr bald eine große Hilfe.

Dazu kam, dass er einfach ein netter unkomplizierter Mensch war, der sich sofort in ihre kleine Gemeinschaft hineingefunden hatte und schon am Donnerstag nahm es ihm niemand übel, dass er in die liebevollen Frotzeleien bezüglich Kims nicht vorhandenem Liebesleben und Melanies Toneulensammlung mit einstieg.

Und so fühlte es sich bald an, als wäre er schon immer da gewesen und der graue Alltag kehrte wieder ein. Auf den Kim noch ein bisschen hätte verzichten können. Und da er erst mal keine Lust mehr hatte, Niklas zu begegnen, hieß das, dass er zwischen der Arbeit und seiner Wohnung hin und her pendelte und die Abende vor dem Fernseher verbrachte. Was ihm nicht wirklich gefiel.

Natürlich hätte er ein wenig im Freundeskreis herumtelefonieren und dann sicher auch jemanden gefunden, mit dem er den Abend hätte verbringen können, aber da alle anderen in der Stadt wohnten und er kein Auto besaß, hätte er da erst mit dem Bus hinfahren und am Ende auch irgendwie wieder zurückkommen müssen. Das Problem dabei war, dass ab einer gewissen Uhrzeit überhaupt kein Bus mehr fuhren und Kim war zu geizig, um Geld für ein Taxi auszugeben.

Zwar hätte er auch bei Bastian, seinem besten Freund seit Kindertagen, vorbeischauen können, der eine halbe Stunde Fußweg von ihm entfernt wohnte, aber er hatte das Gefühl, dass er sowieso viel zu oft bei ihm herumhing und deswegen auch gelegentlich ein schlechtes Gewissen. Weswegen Bastian hier jetzt nicht in Frage kam.

Am einfachsten wäre es gewesen, wenn schon schon jemand da gewesen wäre, mit dem er zusammen hätte fernsehen können. Aber dann stand Kim wieder vor dem gleichen Dilemma wie sonst, weil er einfach nicht wusste, wie er so jemanden kennenlernen sollte. Er hatte kein Interesse daran, in irgendwelche Schwulenbars oder -clubs zu gehen, weil er sich da vorgekommen wäre, wie auf dem Präsentierteller. Und da würde er dann vermutlich auch nur so oberflächliche Bekanntschaften machen, wie bei Niklas' Online-Dating.

Allerdings könnte ihm soetwas auch passieren, wenn er jemand beim Sport, den er nur gelegentlich machte, oder vielleicht beim Einkaufen kennenlernte. Und war nicht sogar seine letzte Beziehung vor drei Jahren nicht mehr als eine oberflächliche Bekannschaft gewesen, weil sie es nicht länger als ein Jahr miteinander ausgehalten hatten? Und das, wo eine gemeinsame Freundin sie doch damals miteinander verkuppelt hatte, weil sie angeblich ,so gut zusammenpassten'.

Am besten wäre es gewesen, sich komplett von seinem romantischen Ideal zu verabschieden, vorallem, weil das sowieso nicht mehr zeitgemäß war, sich, wie alle anderen auch, auf oberflächliche Bekannschaften einzulassen und dann zu gucken, was daraus wurde. Und vielleicht würde er dann ja sogar Glück haben. Die Wahrscheinlichkeit war jedenfalls um Einiges höher als wenn er hier alleine auf dem Sofa saß und auf den Fernseher starrte.

Er nahm sein Handy in die Hand und hatte schon die ersten Buchstaben der Adresse der Seite eingetippt, die Niklas ihm vor einiger Zeit empfohlen hatte – aber dann legte er das Gerät wieder zurück auf den Tisch. Denn ein sehr dominanter Teil in ihm weigerte sich, trotz aller guten Argumente, einfach, aufzugeben. Schließlich er hatte ja praktisch ständig vor Augen, dass es auch genau so funktionieren konnte, wie er es wollte. Und zwar in Form von Bastian.

Sie hatten fast alles zusammen durchgemacht: Kindergarten, Grundschule, Gymnasium. Erst danach hatten sich ihre Wege getrennt. Kim hatte die Ausbildung zum Bürokauffmann gemacht und Bastian war zum Studieren weggegangen. Und da hatte er dann Greta kennengelernt. Sie hatten beide an der Bushaltestelle gestanden, als es anfing zu regnen und natürlich gab es kein Wartehäuschen, um sich unterzustellen. Bastian hatte vorsorglich seinen Schirm mitgenommen aber Greta hatte keinen gehabt und da sie Bastian vorher schon aufgefallen war, war er natürlich zu ihr hingeeilt und hatte den Schirm über sie gehalten. Sie waren ins Gespräch gekommen, sofort auf einer Wellenlänge gewesen und als der Bus schließlich kam, waren sie nicht eingestiegen, weil sie da bereits in dem Café auf der anderen Straßenseite gesessen und sich angeregt unterhalten hatten.

Als Bastian ihm davon erzählt hatte, fand Kim das auf der einen Seite absolut wunderbar, aber auf der anderen Seite konnte er nicht verhindern, doch ein kleines bisschen neidisch zu sein. Wovon er Bastian natürlich nie erzählt hatte. Genau so wenig wie, dass er danach auch anfing, an Regentagen nach Kerlen ohne Regenschirm Ausschau zu halten. Bis ihm dann bewusst wurde, dass er, im Gegensatz Bastian, das Problem hatte, dass er nicht wissen konnte, ob er bei einem Annäherungsversuch nicht vielleicht eine Prügelei riskieren würde. Also hatte er sein Vorhaben nie in die Tat umgesetzt, aber häufiger davon geträumt, wie es wäre, wenn es doch geklappt hätte.

Bastian und Greta waren nach acht Jahren immer noch unzertrennlich und wohnten inzwischen in der umgebauten Scheune auf dem Hof von Bastians Eltern, den der irgendwann übernehmen würde.
Und nach acht Jahren ohne größere Streitereien, zumindest hatte Kim nie mitbekommen, dass es bei ihnen mal groß gekracht hatte, war der nächste Schritt dann auch ziemlich klar.

Kim, der an diesem Wochenende, so wie auch an fast jedem anderen, mal wieder bei ihnen zu Besuch war, war deswegen auch wenig überrascht, als Bastian sich, nachdem Greta im Bad verschwunden war, zu ihm umdrehte und mit glänzenden Augen sagte: "Ich werde sie nächste Woche fragen, ob sie mich heiraten will."

"Wie schön", erwiderte Kim und meinte es auch genau so, obwohl er nicht verhindern konnte, einen leichten neidischen Stich zu spüren.

"Den Ring hab ich schon gekauft und natürlich gut versteckt", sagte Bastian grinsend. "Am Dienstag hat sie frei, ich werd mit ihr einen langen Spaziergang im Wald machen und sie dann fragen. Mit Kniefall und allem."

"Da wird sie dann definitiv nicht nein sagen können!", war Kim überzeugt. Er selbst hätte so einen Antrag jedenfalls nicht ablehnen können.

"Ja, da geh ich von aus!" Bastian lehnte sich im Sessel zurück und lächelte sein selbstzufriedenes Lächeln, das Kim schon seit dem Kindergarten kannte. "Und dann, wenn alles in trockenen Tüchern ist, dann hätte ich dich gerne als Trauzeugen."

"Klar, gerne!", sagte Kim wie aus der Pistole geschossen. Beinahe hätte er auch noch ,Es wäre mir eine Ehre'hinzugefügt, aber das empfand er dann doch als ein bisschen zu dick aufgetragen. Also sagte er nichts weiter, obwohl er das Gefühl hatte, noch irgendetwas hinzufügen zu müssen. Aber selbst, wenn ihm noch was eingefallen wäre, kam Greta in diesem Moment zurück ins Wohnzimmer und sie wechselten schnell das Thema.

Von diesem Moment an war die bevorstehende Hochzeit das Einzige, an das Kim grade denken konnte. Nicht nur, weil er sich unglaublich für diese beiden wunderbaren Menschen freute, sondern weil es ihm deutlich vor Augen führte, wie weit er selbst davon noch entfernt war. Aber bevor er deswegen noch deprimiert wurde, konzentrierte er sich lieber darauf, die ersten Ideen für seine Rede als Trauzeuge, die ihm spontan eingefallen waren, aufzuschreiben.

Das Thema ließ ihn allerdings nicht in Ruhe. Als er am Sonntag zum einmal im Monat stattfindenden Familienessen kam und seine Mutter ihm die Haustür öffnet, sagte sie erst "Hallo, mein geliebter Sohn!", dann umarmte sie ihn einmal fest und noch während dieser Umarmung fragte sie betont dramatisch: "Wo ist denn mein zukünftiger Schwiegersohn? Ich hatte so gehofft, du würdest ihn endlich mal mitbringen."

Kim verdrehte die Augen, was sie aber glücklicherweise nicht sehen konnte, da sie ihn immer noch umarmte. Auf diesen Spruch hätte er eigentlich vorbereitet sein müssen, schließlich brachte sie ihn gefühlt bei jedem Treffen, aber während er Kim ansonsten nur auf die Nerven ging, hatte er jetzt, angesichts Bastians bevorstehender Hochzeit, einen ziemlich faden Beigeschmack. "Du wirst es als Erste erfahren, wenn ich ihn kennengelernt habe", antwortete er trotzdem das Gleiche wie sonst auch immer und nahm sich vor, Bastians Hochzeit auf keinen Fall anzusprechen. Seine Mutter war immer noch eng mit Bastians Mutter befreundet und würde es früher oder später sowieso von ihr erfahren.

Der Rest der Familie war schon da und saß am Tisch, auf dem auch bereits das Essen stand und Kim beeilte sich seine Jacke auszuziehen und sich dazu zu setzen.

Aber auch, wenn er weder Bastians Hochzeit noch sonst irgendwelche Beziehungs-Themen ansprach, genügte allein seine bloße Anwesenheit, dass die Sprache dann doch irgendwann darauf kam.

Den Anfang machte seine Schwester Vivienne, als sie sich mitten in der gefräßigen Stille, in der alle mit ihrem Essen beschäftigt waren, plötzlich an Kim wandte, der neben ihr saß und mit einem breiten Lächeln sagte: "Ach, das hätt ich beinahe vergessen, wir haben da einen Neuen im Yoga-Kurs, der würde dir sicher gefallen. Er ist lieb, groß und total beweglich." Sie gestattete sich ein kurzes anzügliches Grinsen und die Tatsache, dass ihre Mutter genau so saß, dass sie es sehen konnte, ließ Kim rot werden.

"Soll ich da vielleicht mal was arrangieren?" fragte Vivienne, der sein Rotwerden nicht entgangen war, unschuldig.

"Nein, danke!" erwiderte Kim würdevoll. So verzweifelt, sich von seiner Schwester verkuppeln zu lassen, war er definitiv nicht.

"Ach komm schon, nimm das Angebot doch an", mischte sich da sein Bruder Michael ein. "Dann bringst du auch endich mal jemanden bei der nächsten Familienfeier mit und stehst nicht da, wie das fünfte Rad am Wagen." Das meinte er natürlich scherzhaft, aber es machte Kim trotzdem wütend. Er schnitt ihm eine Grimasse und widmete sich dann aufmerksam seinen Kartoffeln, wobei er hoffte, dass sich das Thema damit erledigt hatte.

Es war natürlich niemandem entgangen, wie unangenehm das Gespräch für ihn war und schließlich hatte sein Vater Erbarmen und fing an, eine lustige Geschichte zu erzählen, die ihm auf der Arbeit passiert war. Sehr zu Kims Erleichterung, der schon kurz davor gewesen war, aufzustehen und zu gehen.

Am Dienstagnachmittag fing Kim dann plötzlich an, ein wenig nervös zu werden. Bastian hatte ihm zwar keine Uhrzeit gesagt, wann er Greta den Antrag machen wollte, aber Kim vermutete, dass es irgendwann nachmittags passieren würde. Und bis jetzt hatte er auch noch keine Nachricht von ihm diesbezüglich erhalten, also war sicher noch nichts passiert. Und jetzt war er wahrscheinlich stellvertretend für Bastian nervös, der bestimmt die Ruhe selbst sein würde. Das letzte Mal, dass Kim ihn nervös gesehen hatte, war kurz vor seiner Abiprüfung in Deutsch gewesen, einem Fach, das ihm nie wirklich gelegen hatte.

Aber auch als der Nachmittag schießlich in den Abend überging und Kim seinen üblichen Platz auf seiner Couch vor dem Fernseher eingenommen hatte, hatte Bastian sich noch nicht bei ihm gemeldet. Kims Nervosität war aber inzwischen verschwunden. Bastian meldete sich vermutlich nicht, weil sie grade zusammen mit seinen und vielleicht auch Gretas Eltern die Verlobung feierten. Und er würde sicher morgen oder auf jeden Fall in den nächsten Tagen einen ausführlichen Bericht erhalten.

Dass er kurz eingenickt war, merkte Kim erst, als ihn die Türklingel aus dem Schlaf riss. Er brauchte einen Moment, um sich zurecht zu finden und nachdem er einen kurzen Blick auf die Uhr an der Wand geworfen hatte, stand er auf und ging zur Tür. Es war neun Uhr abends und natürlich erwartete er um diese Zeit niemanden mehr, also vermutete er, dass auf der anderen Seite der Tür keine guten Nachrichten auf ihn warteten.Er öffnete sie mit einem unguten Gefühl und es dauerte einen Moment bis er die Gestalt, die da im dunklen Treppenhaus stand, als Bastian identifizieren konnte.

Kim war so überrascht, ihn da stehen zu sehen, dass er für einen Moment unfähig war, zu reagieren. Dann ging das Licht im Hausflur plötzlich an und er konnte Einzelheiten erkennen. Wie Bastians rote verschwollene Augen, als hätte er ziemlich heftig geweint und die halbleere Flasche in seiner Hand, deren Etikett sie eindeutig als eine Wodkaflasche auswies. Erst jetzt gelang es ihm, sich aus seiner kurzzeitigen Erstarrung zu reißen. "Du liebe Güte, was ist passiert?" rief er dann erschrocken, obwohl er es sich schon sehr gut vorstellen konnte.

Bastians "Greta hat mit mir Schluss gemacht!" erschütterte Kim dann trotzdem bis ins Mark, sodass er zu mehr als einem geschockten "Was?!" nicht fähig war.


© Fenni


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