In dem schönen Gedicht von der Marie A. beschreibt Bertold Brecht, wie er die Erinnerung an eine Frau über viele Jahre nur bewahrte, weil sich ihm das Bild einer flüchtigen Wolke am schönen Sommerhimmel eingeprägt hatte. Auch für ihn gab es eine Marie A. und die Begegnung mit ihr dauerte eine Sekunde, vielleicht auch zwei, länger bestimmt nicht.

Er war dabei ein Café zu betreten, als eine Frau ihrerseits hinaus gehen wollte. Ihre Wege kreuzten sich in dem engen Durchgang der Tür und sie stießen zusammen. Zusammen­stoßen ist eigentlich übertrieben, es war nur eine flüchtige, aber dennoch deutliche Berührung. Überrascht durch den Schwung, mit dem er die Tür geöffnet hatte und durch die plötzliche Konfrontation, wollte sie ausweichen und drückte sich dabei einen kurzen Moment lang an ihn.

Der physische Kontakt, der beendet war, bevor er ihn richtig spürte, wurde durch einen leichten, nur schwach wahrnehmbaren, aber dennoch deutlichen Geruch ergänzt. In dem Moment der Berührung roch er diese Frau ganz deutlich, nicht nur den Hauch eines Parfüms, auch ihre nackter Haut und ihren Schweiß. Dieses auf ihn einströmende Signal erregte ihn und verstärkte seine Aufmerksamkeit.

Die Wirkung von Berührung und Geruch wurden durch ihre Stimme verstärkt. Eine Stimme, die warm und leicht vibrierend, allein durch ihren Klang eine Botschaft darstellt, ohne dass man die Worte oder deren Sinn verstehen musste. Er verstand jedoch das einzige Wort, das sie in diesem Moment sagte: „disculpeme“ – Entschuldingung, eine Floskeln, die man oft gebraucht, ohne wirklich zu meinen, was sie aussagt.

Erst zuletzt nahm er sie auch optisch wahr, nicht nur als Schatten, als unbestimmte Gestalt, die ihm im Weg stand. Die Position der beiden Körper an diesem ungünstigen Ort und die Umstände des kurzen Aufeinandertreffens waren nicht geeignet, um sie eingehender betrachten zu können. Er war groß, sie viel kleiner und der Abstand war so eng, dass er nur ihren Kopf und Teile ihres Oberkörpers sehen konnte. Von ihrer Kleidung fiel ihm nur eine braune, ziemlich durchsichtige Bluse auf, durch die ein heller BH schimmerte. Die oberen Knöpfe waren offen und er sah den Ansatz ihres Busens. Aber dieses erotische Signal blieb fast unbeachtet, genauso wie ihr Haar, das nur eine diffuse, dunkle Masse zu sein schien. Sein Blick blieb auch nicht an ihrem Gesicht hängen, das sie ihm, nach oben schauend, für einen kurzen Moment voll zugewandt hatte. Es war wohl eher unauffällig, weil er sich später nicht mehr erinnern konnte, wie es ausgesehen hatte. Eingeprägt hatten sich ihm nur ihre Augen, schöne Augen, mit einem freundlichen, ein wenig provokativen Ausdruck.

Aber selbst diese Augen und auch die Botschaft, die er aus ihrem Blick herauszulesen glaubte, hätte er längst vergessen, wenn da nicht ein grüner Punkt gewesen wäre, ein kleiner grüner Punkt am unteren Rand eines ihrer Augen. Er war Teil eines dezenten Make-up, vermutlich eines Lidschattens oder eines Farbstrichs, der die Augen betonen sollte. Vielleicht hatte sie ihn bewusst aufgetragen, eine kleine, raffinierte Irritation oder er war da, weil sie sich etwas nachlässig geschminkt hatte, jedenfalls war der grüne Punkt deutlich sichtbar. Er war für ihn der Höhepunkt dieser kurzen Begegnung, die Basis ihrer Beziehung, der Kulminationspunkt des Aufeinandertreffens, der i-Punkt, der für lange Zeit in seinem Gedächtnis haften blieb und auf den sich seine ganze Erinnerung an dieses marginale Ereignis reduzierte.

Die Begegnung war in dem Moment, in dem sie statt fand auch schon beendet und blieb ohne Folgen. Beide fanden ihren Weg durch die enge Tür, die Körper glitten aneinander vorbei, der Duft verwehte, das „disculpeme“ verhallte und das Gesicht mit den faszinierenden Augen hatte sich wieder abgewandt. Die Tür wurde geschlossen, er schaute ihr nicht nach und nur der grüne Punkt war ihm geblieben.

Der grüne Punkt

© yupag chinasky


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