Unendliche Stille am Grunde des Sees, dunkel und ruhig, es ist kein Laut zu hören. Die langen gekräuselten Farne stehen wie Wälder aus dunklem Grün, dicht an dicht, wabernde Vorhänge die sich nach oben winden; von dort, wo das Licht in fahlen Bündeln wie Sonnenstrahlen den See in Zwielicht taucht, das den Grund nicht mehr erreicht. Im Dämmerlicht schleichen ein paar hungrige Augen durch das neblige Gewässer. Völlig lautlos schlängelt sich der breite und doch geschmeidige, muskulöse Körper durch dieses Labyrinth, streift der schuppige Schwanz am glitschigen Seegras vorbei. Er nimmt den Hauch eines verlockenden Geruches war. Langsam und geschmeidig schwimmt er durch den Wald aus Seetang, immer wachsam, die starren Augen geradeaus, auf sein Ziel fixiert.
In der Mitte des Sees, völlig unerwartet, liegt eine Lichtung. Vier uralte Säulen aus Marmor ragen empor, darüber spannt sich eine glänzende Kuppel aus Perlmutt. Dornige Rosenranken winden sich um zierliche Geländer und eine weit geschwungene Treppe, die sich um die Säulen windet. Die Sonne die nur dort bis nach unten dringt, fällt von schräg oben in die Lichtung und lässt sie in ihrem mystischem Glanz erstrahlen. Verborgen und versteckt vor dieser Welt liegt dort eine geheimnisvolle Oase zwischen all der unheimlichen Dunkelheit des Grundes. Inmitten des kleinen Wasserschlosses sitzt, träumend, eine wunderschöne Nixe. Das Spiel von Licht und Schatten lässt ihren Fischschwanz in allen Farben des Regenbogens schillern. Ein Kamm aus Muschelzacken funkelt in ihren zarten Händen. Tief versunken kämmt sie sich ihr goldenes Haar, welches in wilden Wellen bis zu ihrer Taille reicht. Ihre vollen blau schimmernden Lippen sind leicht geöffnet und lassen eine herzzerreißende Melodie aus der Tiefe erklingen, bittersüß und melancholisch. In warmen Wellen breitet sich der Gesang von der Lichtung aus, in die Wälder aus Seegras. Ein süßer, verzückender Gesang, betörend für jeden der ihn hört. Der magische Gesang der Sirene, der sanft lockt, perlend klingt und in dem doch eine tiefe Wildheit liegt, die glasklare Schönheit der Natur preist, aber auch ihre Rauheit und Unnachgiebigkeit. Die Krone der Schöpfung, voller Leidenschaft, voll Besessenheit, voller Liebe, so schön wie tödlich. Weithin hallt es, bis in die Tiefen der Farnwälder.
Doch es fallen auch Schatten auf die hohen Säulen. Die Gefahr nähert sich, verborgen im Dickicht. Der scharf gezackte Schwanz zuckt. Die Nixe ist in tiefer Trance gefangen und bemerkt nicht wie die Schatten das Licht mehr und mehr verdrängen. Es wird düster. Der Jäger ist nun ganz nah, nur noch verborgen von einem großen Farn, richtet er seinen manischen Blick auf die zarte kleine Nixe. Lange dunkle Haare tanzen um sein scharf geschnittenes, kantiges Gesicht. Er erwischt seine lange, spitze Zunge dabei, wie sie ihm über die Oberlippe fährt. Speichel sammelt sich zwischen seinen Reißzähnen. Die Muskeln an seinem rechten Arm, der den dreizackigen Speer hält, wölben sich. Sein Körper steht unter erwartungsvoller Spannung. Freudige Erregung pulsiert durch seine Adern. Er ist bereit seine Beute zu fangen.
Doch er ist gefangen von dem Gesang der Nixe. Ihre Schönheit lässt ihn dort verharren. Wie erstarrt beobachtet er sie, unfähig von ihr abzulassen oder sich von der Stelle zu rühren. Sie ist wie ein Traum der ihn gefangen hält.

Ein plötzliches Geräusch hallt durch die Tiefe. Er befreit sich aus seiner Trance. Sein Jagdinstinkt erwacht wieder. Seine Muskeln zucken. Er schnellt aus seinem Versteck hervor und packt die überraschte Nixe. Verzweifelt versucht sie zu fliehen, doch seine kräftige Hand schließt sich um ihren Schwanz und zerrt sie zu sich. Sie windet sich, wehrt sich heftig. Ihre dünnen Arme stemmen sich mit erstaunlicher Kraft gegen seine Brust und versuchen ihn wegzudrücken. Er legt ihr den Dreizack unter das schmale Kinn, eine eindeutige Drohung. Sie gibt die Gegenwehr auf. Er packt sie brutal an den Armen, fesselt sie und nimmt sie mit, trägt sie fort aus dem Licht in die Tiefen des Seewaldes. Dort in der düstersten, schwärzesten Senke legt er sie ab, in der Mitte eines flaches Podest aus Stein, das von dunklen drohenden Ruinen umgeben ist. Angst brennt in den Augen der Nixe. Wieder versucht sie zu entkommen, doch sie kann sich nicht rühren. Der kriegerische Wassermann verzieht den Mund zu einem anzüglichen Lächeln, packt seinen Dreizack mit beiden Händen, schnellt auf sie zu und spießt sie mit geübtem Schwung seitlich auf. Eine scharfe Zacke dringt in ihre weiche Taille, eine in ihre Hüfte und eine etwas unterhalb in ihren schönen Fischschwanz. Sogleich quillt purpurrotes Blut aus den Wunden. Ihre Augen weiten sich vor entsetzlichem Schmerz. Bläschen kommen aus ihrem Mund, doch kein Laut ist zu hören. Langsam und qualvoll entrinnt das Leben aus ihr. Sie kämpft gegen den aufkommenden Nebel an. Ihre Hände beginnen zu glühen, lassen sirrende weiß-blau leuchtende Schlieren um ihren Körper kreisen, versuchen das Blut aufzuhalten, welches sich in wabernden Wolken im Wasser ausbreitet. Er lässt den Dreizack los und legt seine starken Hände um ihren schlanken weißen Hals, drückt auf ihre Kehle, während er versucht ihren Blick festzuhalten. „Du wirst mir meinen Wunsch erfüllen, ob du willst oder nicht“, sagt er mit drohender Stimme. Sie sieht ihn an, voller Schmerz, voller Trauer. Doch da ist noch etwas anderes in ihren Augen, etwas das er nicht deuten kann. Güte? „Du wirst zur Höhle fahren für das was du getan hast.“, erwidert sie erstaunlich sanft. Wie eine Göttin oder Urmutter, welche lächelnd auf die Fehler ihres Sohnes sieht. Und plötzlich ist da ein helles Leuchten in ihren Augen. „Ich weiß es längst“, flüstert sie mit schwacher Stimme. Verwirrt schaut er sie an. Sie lächelt leicht. Für einen Moment durchbohrt sie ihn mit ihrem hypnotisierend göttlichen Blick.
Dann erlischt das Licht in ihren Augen, ausdruckslos und leer blicken sie nach oben. Seine Hände sinken herab. Entsetzt sieht er, wie ihr Körper herabfällt. Er fängt sie auf und hält sie in seinen Armen. „Nein!“, schreit er entsetzt, „Du wirst mir nicht so leicht entkommen. Wage es nicht!“ Doch es ist zu spät.
Da legt er den Kopf in den Nacken und brüllt seinen Schmerz in die Weiten des dunklen Ozeans, schreit markerschütternd. Sein wahnsinniges Heulen zerreißt die Stille. Er fleht sie an zurückzukommen und schluchzt erbärmlich. Süßwasser mischt sich mit Salzwasser. Schließlich erstickt seine Stimme.
Totenstille legt sich über die Szenerie.

Auf einmal erscheint ein flackerndes helles Licht vor ihm. Langsam hebt er den Kopf. Eine Kugel aus gleißendem Licht schwebt vor der Dunkelheit. Und für einen Moment sieht er ihr Gesicht darin leuchten. Die tiefgründigen Augen sehen ihn durchdringend an.
Ist es nicht das was du wolltest?, hört er ihre sanfte Stimme in seinem Kopf.
Nein, will er sagen, will es schreien, aber es kommt kein Laut aus seinem Mund.
Was wolltest du dann?, fragt sie.
Ich war so allein… sickert es schwerfällig durch sein Kopf. Ich weiß nicht mehr wie es anfing, wie es dazu kam.
Nun erhältst du, was du immer begehrt hast.
Nein! Das ist es nicht, das war es nicht, fleht er verzweifelt. Das wollte ich nicht!
Dann ist es nun jenes geworden, was du verdient hast… du bist dumm, von Anfang an war dies der falsche Weg. Jetzt musst du damit leben.
Da zuckt ein mörderischer Schmerz durch seine Brust, zerreißt ihn, brennt wie dämonisches Feuer und ersticht sein Herz. Bitte, röchelt er, bleib. Seine Hand streckt sich nach dem langsam erlöschenden Licht. Doch sie ist unerreichbar. Eine unerträglich Qual lässt ihn erstarren.
Er bricht zusammen, fällt auf die Knie.

Die Nixe liegt still im Tod, ihr Körper so schön und bleich auf dem Stein. Ihre Haare breiten sich in Wellen von dunklem Gold, wie ein Schleier um ihr anmutiges Antlitz. Mit zitternder Hand greift er im Dunkeln nach dem schwarzen schillernden Dolch an seiner Hüfte. Ihre Worte hallen in seinen Ohren. Er packt ihn mit beiden Händen und richtet die bebende Klinge gegen sich selbst. Sein Atem stockt, als er sie tief in seinem Herzen versenkt. Ein eiskalter, glühend scharfer Schmerz fährt durch seine Brust, erreicht ihn wie der Schlag eines Felsens. In höllischer Qual öffnet sich sein Mund. Sein gellender Schrei verhallt. Dunkles Blut spritzt zwischen seinen Händen hervor. Seine Arme erschlaffen. Er fällt leblos zu Boden, schlägt mit banaler Endgültigkeit auf den Felsgrund. Reglos liegt sein Körper neben dem seines Opfers. Eine unheimliche Stille breitet sich aus.
Seine Seele verlässt seinen Körper. Sie entflieht in den endlosen Wald aus Tang und spukt nun, für alle Ewigkeit verdammt, durch die bleischweren stillen Tiefen.


© Robert Lier.scripts


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