Ich weiß, dass man das Eigentum anderer Leute nicht begehren darf. Aber ich begehre dieses Fahrrad auch gar nicht. Ich habe eine mystische, geheime, magische Beziehung zu diesem Drahtesel. Und das Fahrrad hat eine Verbindung zu mir. Ich kann es spüren. Jede Nacht beobachte ich das Fahrrad und das Fahrrad beobachtet sicher auch mich. Da ist naheliegend, wenn eine Beziehung auf Gegenseitigkeit beruht. Das Fahrrad ist an einen Zaun gekettet, der rein gar nichts umzäunt. Aber ich will die Existenzberechtigung dieses Zauns nicht beurteilen. Ein Zaun darf auch existieren, wenn er rein gar nichts umzäunt. Das ist meine Meinung. Aber wie gesagt; Ich will nicht über die Existensberechtigung irgendwelcher Gegenstände urteilen. Ich bin auch viel zu sehr von der Magie und der Herrlichkeit dieses alten Fahrrades eingenommen. Der Rahmen ist schwarz lackiert. Jetzt hier im Mondlicht könnte ich das natürlich nicht erkennen. Aber ich bin gestern heimlich daran vorbeispaziert. Da habe ich sehen können, dass jemand den Fahrradrahmen mit dicker, schwarzer Farbe zugepinselt hat. Das tut der Schönheit dieses Fahrzeuges keinen Abbruch.

Das Fahrrad ist einsam. Das kann ich spüren. Ausserdem schließe ich das aus der Tatsache, dass das Fahrrad schon lange nicht mehr benutzt wurde. Die Lenkstange ist leicht nach links eingeschlagen und das Fahrrad steht Nacht für Nacht an immer der selben Stelle. Natürlich kann das auch ein Trick sein und jemand will mich glauben lassen, das Fahrrad würde schon ewig nicht mehr gefahren. Aber wer würde sich die Mühe machen, das Fahrrad exakt so zu positionieren, Nacht für Nacht, um mich glauben zu lassen das Fahrrad sei einsam.

Ich begehre dieses Fahrrad nicht. Ehrlich nicht. Ich kann nichtmal besonders gut fahren. Mir fällt es schwer, die Balance zu halten. Es ist mir auch zu riskant zwischen all den Autos herum zu fahren, die wie metallische Haifische durch den Ozean der Zivilisation wuseln. Ich bestaune nur die Herrlichkeit dieses schlampig schwarz lackierten Fahrrades das einsam nachts im Mondlicht steht und eine mystische Verbindung zu mir aufbaut. Das Fahrrad und ich, wir wissen beide, dass wir nicht füreinander bestimmt sind. Aber das ist okay. Es ist gut so, wie es ist. Ich möchte diese Momente nicht missen, in denen wir und gegenseitig anstarren.

Das einsame Fahrrad

© by Björn Coen


© by Hartmut Holger Kraske


2 Lesern gefällt dieser Text.

Unregistrierter Besucher


Beschreibung des Autors zu "Das einsame Fahrrad"

Auch irgendwie eine Liebesgeschichte.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Das einsame Fahrrad"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Das einsame Fahrrad"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.