Ich bin zur Heirat meines Vaters eingeladen. Seine 3. Frau. Einiges jünger als er. Eigentlich genau mein Typ. Eine Sahne-Frau, die das Südtirol genauso überwältigend findet wie ein Erdbeerbecher im Sommer, gross gewachsen, luftiges Haar, lange Beine, ein Traum, ein Sommertraum, der auch im Winter Bestand haben wird. Charlotta ist ihr Name, ich habe sie vor Jahren kennengelernt und wollte sie seit diesem Moment immer mehr kennenlernen. Mein Vater ist ein einflussreicher Mann, kennt viele Menschen, hat Charisma und auch einiges an Geld. Ich bin sein Sohn, etwas in seinem Schatten, was die Ausstrahlung, das An- und das Aussehen betrifft. Charlotta ist eine witzige, wortgewandte Frau in den 30ern, kinderlos, viel gereist und auch gebildet, mag spanische Lyrik, wie ich, würde bei aller Liebe zum Südtirol nie an ein Konzert der Kastelruther Spatzen gehen, wie ich, mag Senfbrote mit geschnittenen Gurken, wie ich, und mag den Anblick von zackigen und schroffen Bergwänden, wie ich. Doch morgen wird sie meinen Vater heiraten, meinen Vater, der immer, auch nach der Scheidung von meiner Mutter, gut zu mir gewesen ist. Und Charlotta, diese rassige Frau, die mein Herz höherschlagen und meine Fantasie blühen lässt, wird das Bett mit ihm teilen und nicht mit mir, und morgen werden sie getraut werden, und ich werde sitzenbleiben und still sein, er ist mein Vater, und ich werde ihm alles Gute wünschen. Aber nur halbherzig, ich werde gut drauf sein müssen, morgen nach der Trauung, und gute Miene zum bösen Spiel machen. Charlotta weiss von meinen Gefühlen für sie, sie hat sie kommentarlos entgegengenommen, was hätte sie auch anderes machen sollen. Morgen wird der schönste Tag meines Vaters sein, wieder einmal. Charlotta wird ein weisses Kleid tragen, das ich in einem Katalog bereits gesehen habe, sie wird dieses unbeschreibliche Lächeln aufsetzen, das sie für mich so anziehend macht, und ich werde still leiden und hoffen, dass die Ehe mit meinem Vater nicht von langer Dauer sein wird. Morgen werde ich fröhlich sein, obwohl ich heulen könnte. Morgen werde ich in Schwarz erscheinen, von Kopf bis Fuss, mit einer abgebrochenen Rose im Knopfloch.


© René Oberholzer


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