Die Teetasse © by Jack E. Griss 2010

Fräulein Cäcilia Allensperg, die in einem ehemaligen Bedienstetenhäuschen einer grossen Villa am Stadtrand wohnte, legte grossen Wert darauf, als „Fräulein“ angesprochen zu werden. Trotz ihrer 72 Jahre war es ihr stets gelungen, sich in eine Wolke von eleganter Zurückhaltung, in eine Art geheimnisvollen Schleier zu hüllen, so dass die meisten Bewohner von Konradshausen meinten, es handle sich bei Fräulein Allensperg wohl um eine verarmte Gräfin. Niemand konnte etwas Schlechtes über Fräulein Cäcilia Allensperg sagen, sie bezahlte ihre Einkäufe stets bar und gab bei Botendiensten auch reichlich Trinkgeld. Kurz und gut, die Allensperg war von den Konradshausern wohlgelitten und genau die bereits erwähnte Wolke und der Schleier hatten zur Folge, dass sie einfach das gerüchte- und sagenumwobene, allen bekannte Fräulein Allensperg war.
Weniger sagenumwoben war Prof. Erasmus Krecowski. Von ihm war bekannt, dass er bis zu seiner Pensionierung vor elf Jahren als Lateinprofessor an der Mittelschule gearbeitet hatte und dass er vor acht Jahren, als seine Frau überraschend schnell gestorben war, in eine kleine Zweizimmerwohnung neben der örtlichen Sparkassa gezogen war. Manche Konradshausener hatten ihn als liebevollen, ausserordentlich geistreichen Professor schätzen gelernt und auch als Mitglied des städtischen Kammerorchesters war er vielen Konzertbesuchern als versierter Bratschist und amüsanter Kommentator des Konzertablaufes in bester Erinnerung. Prof. Krecowski sah man des Öfteren gemeinsam mit Fräulein Cäcilia Allensperg im beschaulichen Museums-Café in offensichtlich sehr tiefschürfende Diskussionen vertieft, so dass einmal die Dame beinahe vergass, ihren längst kalt gewordenen Orangenblütentee auszutrinken und der Professor, mit einer leeren Tasse in der linken, immer noch beschwörend flüsternd, seiner Gesprächspartnerin irgendetwas klar machen wollte. Dabei machte er mit der freien rechten Hand dermassen beschwörend ausholende Gesten, dass jene Tasse mit dem Tee, welcher nervöse Spannungszustände und Schlafstörungen bei Fräulein Allensperg zu lindern vermochte, in ernsthafte Gefahr zu geraten drohte.
Man kann nicht sagen, dass das Fräulein und der etwa gleichaltrige Professor ein sogenanntes Verhältnis gehabt hätten. Zumal das Wort „Verhältnis“ sogleich suggeriert, es bestünden eventuell unübliche sexuelle Beziehungen. Nein, die beiden kannten sich, wussten sich blendend miteinander zu unterhalten und dann und wann besuchte Krecowski sein Fräulein auch im Bedienstetenhaus. Sie unternahmen gemeinsame Spaziergänge, hatten beide nebeneinander liegende Abonnementsplätze im Konzerthaus und im Stadttheater und plauderten sehr oft, wie schon erwähnt, gemeinsam im Museums-Café.
Dass Fräulein Allensperg eine leidenschaftliche Teetrinkerin war und das Getränk am liebsten Krüge weise zu sich zu nehmen pflegte, war dem Professor wohl bekannt. Deshalb war er sehr schnell von Entschluss, als er auf dem Weihnachtsmarkt am Vormittag des 24. Dezembers eine riesengrosse Teetasse entdeckte, auf welcher geschrieben stand: Da dir die Tasse stets zu klein, wird diese wohl genügend sein! Ausserdem war auf der Vorderseite „Das Porträt der Adele Bloch-Bauer“, von Gustav Klimt 1907 aufgedruckt. Und Krecowski wusste sehr genau, welche Begeisterung seine Bekannte, die er stets mit Fräulein Cäcilia anzusprechen pflegte, für den Jugendstil zu empfinden vermochte. Der Vers mit der wohl genügend grossen Tasse war zwar nicht gerade Weltliteratur, aber er war überzeugt, dass auch diese Zeilen freudige, humorvolle Anerkennung finden würden, wenn er heute Abend bei Fräulein Cäcilia das Geschenk überreichte.
Zuhause angekommen, nahm er die Teetasse aus dem Plastiksack und begann zu überlegen, wie er das Geschenk wohl am besten verpacken könnte. Die Tasse einfach so zu übergeben, schien dem Professor denn doch zu banal. Er erinnerte sich an eine Schachtel, die er sofort aus dem Schrank holte. Auf den ersten Blick war jedoch klar: Die Schachtel war zwar wunderschön und auch in der Breite wohl passend, jedoch viel zu hoch. Krecowski beschloss, die vier Seitenwände der Schachtel etwas zu kürzen, damit diese dem Inhalt dann eher angepasst sein würden. Pedantisch, wie er war, legte er sich Lineal, Bleistift, Schere und eine Tube Leim bereit und begann mit der Operation. Nach einer halben Stunde intensiver Bemühungen entfuhr dem älteren Herrn plötzlich ein „Himmelkreuzdonnerwetter!“ Er hatte festgestellt, dass die Schachtel nun um einiges zu niedrig geraten war. Kopfschüttelnd hielt er das Lineal an sein Werk und nach einem sehr ärgerlichen: „Logisch, ich alter Trottel!“ machte er sich daran, mit den abgeschnittenen Resten und Klebeband die fehlende Höhe zu ergänzen.
Diese knifflige Arbeit zog sich unerwartet in die Länge und dauerte bis gegen Mittag. Dann aber war es soweit: Die Teetasse passte in Höhe und Breite genau in die Schachtel! Das heisst, etwas Zwischenraum war schon noch vorhanden und der Professor beschloss, diesen nach dem Mittagessen, mit Seidenpapier auszustopfen, um die Gefahr eines Porzellanbruches zu eliminieren.
Nachdem er sein Lieblings-Instantsüppchen „Gemüsecreme mit Pilzen“ verspeist hatte, machte er sich sofort auf den Weg, um in der Papeterie Seidenpapier, silberfarbenes Geschenkpapier und auch dazu passende Schnürbänder zu kaufen. Gleich danach eilte Krecowski nach Hause, um sein Werk zu vollenden.
Sollte er auch in die Tasse hinein Seidenpapier stopfen, oder nur aussen herum? Er entschied sich dafür, die Tasse einfach nur sorgfältig einzuwickeln! Nun ging es noch darum, die Schachtel, welche durch die Erweiterungsarbeiten leider sehr an Eleganz eingebüsst hatte, mit dem Papier einzupacken.
Dieses Unterfangen gestaltete sich recht umständlich. Ein lautes „Verdammte Scheisse“ unterbrach plötzlich die nur durch raschelndes Papier ergänzte Stille in der Professorenwohnung. Erschreckt über seinen ungewöhnlich heftigen Ausbruch, stand er schweissgebadet inmitten von Karton- und Papierresten in seiner Stube und hatte bereits das zweite Mal das Papier zu klein geschnitten. In etwa einer Stunde sollte er sich mit Fräulein Cäcilia Allensperg in deren Wohnung zwecks kleiner, zweisamer Weihnachtsfeier treffen. Noch blieb ihm von dem grossen Bogen genügend Papier, aber diesmal musste es gelingen. „Erasmus“, sagte der Professor, „Erasmus, reiss dich zusammen!“
Tatsächlich hatte er nach kurzer Zeit das Silberpapier zu einem passenden Stück geschnitten und begann nun vorsichtig die Schachtel einzupacken. Das mit dem Falten und Einklappen des Papiers bereitete Erasmus jedoch zunehmende Schwierigkeiten. Im Geschäft sah das immer so leicht aus: Zack, zack und schwupps war das Päcklein jeweils gemacht. Erfreulicherweise und mit gehörigem Stolz schaffte er es, das Geschenk fertig einzupacken und auch noch mit einem roten Band zu versehen.
Blick auf die Uhr! - Oh! - Rasieren, Zähne putzen, umziehen und ab die Post. Geschenk nicht vergessen! Pünktlich erreichte er das Haus von Fräulein Allensperg! Professor Krecowski klingelte und als die Tür geöffnet wurde, geschah das Entsetzliche: Das Päckchen fiel zu Boden und polterte die vier Steinstufen vor dem Haus hinunter!
Kreideweiss vor Schreck stand der Professor da und es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich niederbeugte, um die Schachtel aufzuheben. „Ich habe, ich wollte, äh, verzeihen sie, …“ stotterte der Unglückliche. „Kommen sie doch erst einmal herein, Erasmus“, meinte Fräulein Allensperg. Wie in Trance folgte er der Dame ins gemütliche Wohnzimmer, krampfhaft die leicht ramponierte Schachtel umklammernd.
„So, - für den ersten Schreck!“, meinte mit beruhigender Stimme das Fräulein und kredenzte für beide einen feinen Cognac. „Zum Wohl!“ „Ach ja, also, ja dann, zum Wohl!“, krächzte der Professor und kippte sich den Cognac hinter die Binde. Danach nahm er wortlos das Päckchen, das er unter seinen linken Arm geklemmt hatte, öffnete es und entnahm ihm die Tasse. Leider blieb beim Herausnehmen jener Teil mit dem Portrait von Frau Adele Bloch-Bauer in der Schachtel zurück und in der Hand hielt er den Henkel mit einem Stücke Tasse dran, auf dem zu lesen stand: …. wird diese wohl genügend sein.
Obgleich Fräulein Allensperg über eine Stunde benötigte, um den zerknirschten Professor wieder einigermassen ins Gleichgewicht zu bringen, wurde es eine schöne, traute Weihnachtsfeier an deren Höhepunkt der Professor meinte: „Cäcilia, ich hätte dir die Tasse einfach im Plastiksack bringen sollen!“ „Ach, Erasmus, vergiss es!“, schmollte Fräulein Allensperg und kuschelte sich mit gesenktem Blick an seine Schulter.
Die Teetasse übrigens wurde feinsäuberlich zusammengeklebt und noch heute blickt Frau Adele Bloch-Bauer vom Büchergestell im Bedienstetenhaus.


© Jack E. Griss


1 Lesern gefällt dieser Text.



Beschreibung des Autors zu "Die Teetasse"

auch schüchterne, ältere Personen finden erfüllende Begegnungen

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Die Teetasse"

Re: Die Teetasse

Autor: Ella Sander   Datum: 26.11.2018 18:21 Uhr

Kommentar: Eine schöne Geschichte. Sehr lebendig geschrieben. Die Protagonisten wachsen einem an's Herz. :)

Liebe Grüße,
Ella

Kommentar schreiben zu "Die Teetasse"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.