Sie fährt jede Woche einmal von A nach B und wieder zurück. Mit dem Fahrrad, 7,6 Kilometer. Sie mag den Verkehr auf der Strasse nicht.

In A wohnt sie, in B wohnt er. Und das schon lange, seit ihrer Schulzeit. Sie wendet jeweils vor seinem Haus. Er ist verheiratet, hat 2 gesunde Kinder, 1 Hund, 2 Autos und 1 grosse Garage. Manchmal steht er am Fenster und schaut nach unten. Meistens steht er nicht da, sie schaut nach oben.

Früher trafen sie sich zwischen A und B. An einem Waldrand hinter einer Holzbeige. Sie küssten sich jeweils. Ihre Eltern wussten nichts davon. Er versprach ihr, sie später zu heiraten.

Sie wohnt in A, ihr Mann ist vor kurzem überraschend verstorben. Ein bekannter Mann, ein erfolgreicher Mann. Ein Lebemann, der viel unterwegs gewesen war. Sie war seinem Tatendrang erlegen gewesen. Hatte sich sicher und abgesichert gefühlt. Doch ein Rest blieb, über all die Jahre.

Manchmal fährt sie auch sonntags nach B. Beobachtet ihn und seine Familie aus der Ferne. Wie sie im Garten sitzen und kaum sprechen. Früher sprach er von Aufbrechen, von Abenteuern. Auch die Welt hatte er retten wollen. Weit ist er nicht gekommen, denkt sie. Ein schönes Haus, ab und zu ein Ausflug. Und 4x Urlaub pro Jahr. Er wird die Welt nicht retten, denkt sie. Er wird nicht einmal sich selbst retten können.

Sie hatte Ärztin werden wollen. Aus dem wurde nichts. Ihr Mann hatte für alles gesorgt. Ein angenehmes Leben, keine Kinder, keine Sorgen. Ein unerfülltes Leben im luftleeren Raum.

Jede Woche fährt sie einmal von A nach B. Das Haus in B gleicht manchmal einem Schloss, in dem niemand wohnen will. Sie wendet dann wie üblich mit ihrem Fahrrad. Fährt nach A zurück, zu ihrem Schloss, in dem sie auch nicht mehr wohnen will. Und manchmal stehen am Waldrand 2 Fahrräder. Neben der Holzbeige, wie damals.


© René Oberholzer


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Kommentare zu "Wie damals"

Re: Wie damals

Autor: Horatius   Datum: 20.09.2018 15:56 Uhr

Kommentar: Eine interessante Geschichte. Voller Ambivalenzen, Träume und Brüche. Wie kommt man auf sowas? Selbst erlebt? wohl... niemand ist frei davon, wenn man viel gesehen, selbst viel versucht hat. Ein lohnender Text, wert für einen Erzählband zum Blättern, um solch einen Text plötzlich zu finden. Ich fand kürzlich die Kurzgeschichte "Der Sturm" von Kate Chopin, 1898, der ebenfalls Abgründe des Beziehungslebens anschaulich darstellt. A und B trennen wie verbinden die beiden zugleich, wie die Orte so das Leben, das jeder von ihnen führt. man ist Gast voreinander. Wo man bleiben muß, da ist nicht Glück. Das Dilemma von Glück: manchmal gibt es dies ja auch in den grenzen, in denen man bleibt. manchmal liegt es ausserhalb. dauer imwechsel, wie goethe titelt, das wäre ideal. Es ist nicht leicht, Gefährte zu sein, geschweige denn Freund. Reisen bedeutet Sehnsucht. Ohne diese offenbar kein Glück. Statik erstickt jedes gefühl, jedes Traumleben
Danke für deine lyrische Fantasie in a-moll

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