Im Haus ist es still, als ich nach Hause komme. Meine Eltern wollten Essen gehen, also bin ich wohl allein. Sam und ich saßen noch eine gefühlte Ewigkeit auf der Couch. Dann stand er auf und verließ das Haus, er wollte alleine sein. Wäre ich an seiner Stelle, ging es mir wohl genauso. Nicht nur, dass er Jeremy betrogen hatte, in dem er mich geküsst hat. Nein, er muss sich auch noch mit den Gefühlen für Caleb auseinandersetzen. Mittlerweile ist mir klar woher die Spannungen zwischen den beiden kamen. Ich gehe in mein Zimmer und packe meine Schulsachen aus. Mir fallen Sams Gummibärchen in die Hände und ich muss lächeln. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Ich möchte meine Freunde nicht verlieren. Ich möchte Sam nicht als Freund verlieren und schon gar nicht möchte ich einen Keil zwischen ihn und Jeremy schlagen. Dafür bedeuten sie mir einfach zu viel. Ich schlage meine Bücher auf und versuche mich auf die Mathe-Aufgaben zu konzentrieren. Vielleicht schaffe ich es heute, meine Hausaufgaben zu machen. Immer wieder schleichen sich die Jungs in meine Gedanken. Hätte ich doch mit Jeremy reden sollen? War es richtig einfach zu gehen? Ich seufze und lehne mich auf meinem Stuhl zurück. Unten geht die Tür auf und ich höre meine Eltern hereinkommen. Leise schleiche ich mich zur Tür um zu hören, worüber die beiden reden. Sie lachen und reden. Sie klingen glücklich, alle beide. Ich versuche den Kloß im Hals herunterzuschlucken. Die Hausaufgaben rufen wieder und ich lasse mich wieder am Schreibtisch nieder. Von unten ist das Klingeln des Telefons zu hören. Ich sehe auf die Uhr. Für mich kann es um die Uhrzeit nicht sein.
„Morgan“, ruft meine Mutter von unten. Als ich bei ihr ankomme hält mir den Hörer entgegen. Sie sieht besorgt aus. „Es ist Alice.“
„Hallo Alice“, sage ich verwundert ins Telefon.
„Morgan … Hör mal! Ich muss … Weißt du wo Sam ist?“ Mir wird heiß und kalt zugleich. „Morgan?“
„Ähm, nein. Tut mir leid! Warum? Ist er nicht zu Hause?“
„Wir haben ihn das letzte Mal heute Mittag mit dir im Wohnzimmer gesehen. Seid ihr beiden zusammen weggegangen? Morgan. Bitte! Wir müssen wissen wo er ist!“ Meine Mutter steht immer noch neben mir.
„Nein. Er ist vor mir gegangen. Er hat auch nicht gesagt, wohin er wollte. Er hat gar nicht mit mir geredet.“
„Wirklich? Ich dachte, ihr seid zusammen.“
„Nein, eigentlich nicht.“ Ich überlege. „Alice. Ich könnte vielleicht wissen wo er ist, aber die Wahrscheinlichkeit, dass er dort ist, ist sehr gering.“
„Wo?“ Niemand außer uns vieren kennt den Ort. Wenn wir wirklich nicht mehr weiter wissen gehen wir dahin. Allerdings kennen Jeremy und Caleb den Ort.
„Ich … einen Moment!“ Ich verdecke den Hörer mit der Hand und wende mich meiner Mutter zu.
„Mum, ich weiß, das wird dir nicht gefallen. Ich denke, ich weiß wo Sam ist. Es ist besser, wenn jemand von uns mitgeht.“ Ich sehe sie flehentlich an. „Lass mich bitte gehen!“ Sie nickt.
„Ausnahmsweise. Gib mir bitte den Hörer!“
„Mum, danke.“
„Hallo Alice“, sagt sie in den Hörer. „Morgan kommt rüber und holt Jeremy und Caleb ab. Sie weiß, wo er ist, aber ich will nicht, dass sie um diese Uhrzeit noch alleine unterwegs ist … Gut, dann kommen Jeremy und Caleb hier her.“ So schnell ich kann, laufe ich nach oben um mir meine Schuhe und Jacke anzuziehen. Nach einer kleinen Diskussion, erlaubt mir meine Mutter den beiden mit dem Fahrrad entgegen zu fahren. Wir treffen uns auf halbem Weg, sie sind ebenfalls mit dem Fahrrad unterwegs.
„Es geht jetzt nicht darum, was heute Mittag vorgefallen ist“, sagt Caleb streng.
„Deswegen ist er aber verschwunden“, erwidere ich.
„Ja, genau“, er zeigt mit dem Finger auf mich. „Weil du ihn geküsst hast!“ Ich atme ein, versuche ruhig zu bleiben und ihm nicht an den Hals zu springen.
„Es war auch bestimmt nicht hilfreich, dass du sauer warst. Du hast doch gar keinen Grund! Dich geht das alles doch gar nichts an!“ So ein Arsch.
„Denkst du auch einmal an Jeremy? Er ist genauso mein bester Freund wie du und Sam. Und er wurde belogen.“
„Leute“, sagt Jeremy, den ich schon fast vergessen hätte, leise. „Können wir ihn einfach suchen. Ich mache mir wirklich Sorgen. Einfach abzuhauen ist nicht seine Art.“ Ich sehe Caleb an, dass er noch mehr zu sagen hat. Mir geht es nicht anders, aber Jeremy hat Recht, erst müssen wir Sam finden.
„OK“, gebe ich mich geschlagen. „Denkt ihr, er ist am Aussichtspunkt im Wald oben?“
„Ja, ich denke schon.“ Jeremy sieht schrecklich aus, er macht sich Vorwürfe. Gerne würde ich ihm etwas Beruhigendes sagen. Allerdings würde mir Caleb gleich wieder ins Wort fallen. Schweigsam machen wir uns auf den Weg zum Aussichtspunkt. Eigentlich sieht man von da oben nichts. Als Kinder haben wir immer verbotenerweise im Wald gespielt und irgendwann wurde der Aussichtspunkt eben unser Geheimversteck. In den letzten Jahren sind wir selten dort gewesen. Bis jetzt. Wir lassen unsere Räder am Waldrand stehen und laufen den Berg hoch. Nach ein paar Metern entdecken wir Sams Fahrrad und wir entspannen uns etwas. Am richtigen Ort wären wir auf jeden Fall. Als wir oben angekommen sind, sehen wir, dass Sam am Abhang sitzt. Wir bleiben stehen und halten die Luft an. An der Stelle an der er sitzt, geht es steil bergab. Wir sehen uns besorgniserregend an. Caleb gibt Jeremy ein Zeichen, dass er mit Sam reden soll. Ich bete zu Gott, dass er es schafft ihn von der Stelle wegzubekommen. Eine falsche Bewegung und er stürzt zehn Meter in die Tiefe. Dass würde er nicht überleben. Ist er deshalb hier? Er wird sich doch wohl nicht umbringen wollen?
„Ich weiß, dass ihr da seid“, hören wir Sam sagen.
„Gut“, Jeremy macht einen Schritt nach vorne. „Dann weißt du auch, dass wir möchten, dass zu uns rüberkommst.“
„Und dann?“ Er schnieft.
„Hey Sammy“, versucht es Caleb. „Mach keinen Scheiß!“
„Haltet die Klappe! Alle! Ihr habt doch keine Ahnung! Mein Leben ist scheiße!“ Ich traue meinen Ohren nicht. Das kann ich nicht so stehen lassen.
„Na wenn das so ist!“ Ich schlendere langsam zu ihm rüber. Er dreht den Kopf und ich bete, dass er keine plötzliche Bewegung macht. „Mein Leben ist auch scheiße. Wie sieht es aus? Springen wir zusammen?“ Ich kann spüren wie mir Caleb und Jeremy entsetzte Blicke zuwerfen.
„Du denkst auch, ich bin total bescheuert!“, schnauzt mich Sam an.
„Ja, allerdings! Sonst würdest du da wegkommen, damit sich mein Herzschlag wieder beruhigt.“ Er zögert einen Moment, aber langsam schiebt er sich vom Abhang weg und steht auf. Als er sich zu uns umdreht und wir sein Gesicht sehen können, wird uns erst richtig klar wie schlecht es ihm geht.
„Können wir uns auf den Baumstamm setzen?“, bittet ihn Jeremy.
„Sollen Morgan und ich gehen?“ Sam zuckt bei Calebs Worten die Schultern.
„Keine Ahnung. Ich weiß gerade überhaupt nichts mehr.“ Er starrt auf den Boden. Ich könnte losheulen, wenn ich ihn so sehe. Jeremy steht da und sieht ihn nur an. Er weiß auch nicht weiter. Ich gehe zu Sam und schiebe ihn in Richtung Baumstamm. Wir setzen uns hin und ich gebe Caleb und Jeremy ein Zeichen, dass sie sich uns gegenübersetzen sollen.
„Und nun?“, will Caleb wissen. Ich öffne den Mund und will schon etwas sagen. Allerdings wäre das nicht sonderlich nett, daher schlucke ich die Worte herunter.
„Seid ihr zusammen?“, fragt Jeremy mit brüchiger Stimme.
„Nein!“, sage ich in einem festen Ton. Sam dreht den Kopf in meine Richtung und sieht mich traurig an. Eigentlich hatten wir noch nicht darüber gesprochen, für mich gibt es in der Sache allerdings nichts zu sagen.
„Was sollte dann der Kuss?“, meldet sich Caleb zu Wort.
„Nichts, vergiss es einfach!“ Meine Stimme wird von Wort zu Wort kälter. Ich merke es, aber ich tue nichts dagegen. Caleb lacht verächtlich.
„Erst küsst du Sam, der mit seinem Verhalten Jeremy verletzt. Was Sam nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann!“ Er sieht uns der Reihe nach an. „Und jetzt rammst du Sam auch noch ein Messer in den Rücken! Was ist los mit dir?“
„Es war ein Fehler“, stelle ich klar.
„Es ist eine Sache, das oder ob es ein Fehler war“, schnauzt mich Caleb an. „Wie du allerdings damit umgehst ist unterste Schublade. Schätzchen.“ Das letzte Wort spuckt er förmlich aus.
„Vielleicht sollten wir nach Hause gehen“, überlegt Jeremy laut. Caleb steht auf und läuft wortlos los. Da ich nichts mehr zu sagen habe, mache ich dasselbe. Bei den Rädern warten wir schweigend auf Jeremy und Sam, die noch oben geblieben sind. Ich hoffe, dass sich die beiden aussprechen und versöhnen. Ich höre einen Stock knacken. Hinter mir erscheinen Jeremy und Sam, sie halten sich an den Händen. Ich entspanne mich etwas. Sie haben sich vertragen.


© Emilia Hunter


1 Lesern gefällt dieser Text.

Unregistrierter Besucher

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Ein Freund für die Ewigkeit - Kapitel 7"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Ein Freund für die Ewigkeit - Kapitel 7"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.