Sie setzte sich hin. Sie grübelte. Ihre Augen waren rot von den Tränen, die ihr kurz zuvor die Wangen hinuntergelaufen waren, ihr Hals fühlte sich trocken an. Vom Schluchzen. Sie hatte lange geweint, es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Immer, wenn sie gedacht hatte, sie hätte ihre Gefühle unter Kontrolle, kamen sie wieder. Dieses Ziehen im Bauch, dicht gefolgt von dem Brennen in den Augen, es war ihr nur allzu vertraut. Einen wirklichen Grund gab es eigentlich nicht. Sie schob es auf das Prämenstruelle Syndrom, das kannte sie schon. Diese Hormonschwankungen würden sie noch in den Wahnsinn treiben. Im einen Augenblick war sie super gelaunt, sie hatte mit ihm rumgealbert und so viel Spaß gehabt. Sie hatte seine Wärme genossen. Seinen Geruch. Gestern hatte er Parfum aufgelegt. Es roch gut. Sie sagte es ihm, denn sie wusste, dass er es für sie getan hatte. Er war einfach nicht der Typ für sowas. Der Typ Mann, dem solche Dinge wichtig wären. Sie hatte sich darüber gefreut, dass er es getan hatte, um ihr zu gefallen. Allerdings hätte er es nicht tun müssen. Es war ihr egal. Heute morgen war ihr wieder aufgefallen, wie gut er roch, wenn er keinen Duft aufgelegt hatte. Der warme Geruch seiner Haut war ihr in die Nase gestiegen und sie hatte, den Kopf auf seiner Schulter, unhörbar tief eingeatmet und einfach den Moment genossen. Sie hatte gespürt, wie sich sein Brustkorb rhythmisch hob und wieder senkte. Sie hatte seinem Herzschlag gelauscht und zu ihm aufgesehen. Wie er da lag, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet. Sie konnte seinen Atem quasi schmecken. Sie wunderte sich immer noch sehr darüber, dass ihr das nichts ausmachte. Wenn man darüber nachdenkt, ist es nicht unbedingt etwas Schönes, wenn man den verbrauchten Atem eines anderen inhaliert. Aber irgendwie machte ihr das bei ihm rein gar nichts aus. Wenn sie ihn so ansah, hatte sie gleichzeitig gewusst, welchen Farbton seine Augen unter den unverschämt langen Wimpern hatten, sie kannte das Leuchten nur zu gut, das in ihnen blitzte, wenn er von irgendeiner Sache besonders begeistert war. Oder den Ausdruck, mit dem er sie ansah, bevor er sie küsste. Sie sah ihn an und konnte fast fühlen, wie sanft sich sein Kuss auf ihren Lippen anfühlte...
Nach einer Weile war er aufgestanden. Er müsse nach Hause, irgendwie hätte er das Gefühl, er würde krank werden. Er hatte sie zum Abschied ganz fest an sich gedrückt. Sie hatte in seinem Ausdruck erkannt, dass es ihm leidtat, sie zurückzulassen.
Aber hier bleibt er doch nie, dachte sie ein wenig bitter. Sie wusste, dass das irgendwie nicht fair war. Am liebsten würde sie schon mit ihm zusammen wohnen. Aber er war noch nicht so weit. Sie klammerte. Sie wusste es, aber gleichzeitig wusste sie nicht, was sie dagegen tun sollte. Sie würden sich schon am Wochenende wieder sehen und trotzdem kullerten ihr, als sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ein paar heiße Tränen über die Wange.
Wütend wischte sie sie weg. Sie hatte überhaupt keinen Grund, so zu reagieren. Ja, er war gegangen. Aber das war ja ganz normal. Am Wochenende würden sie sich schon wiedersehen! Und dann weinte sie trotzdem. Das war so unlogisch, wieso weinte sie denn jetzt. Wieso konnte sie denn nicht einfach mal ganz normal mit sowas umgehen, immerhin war es doch eine ganz normale Situation? Und irgendwie fühlten sich die Tränen auf ihre ganz eigene Art irgendwie befreiend an und deshalb ließ sie ihnen freien Lauf. Das redete sie sich zumindest ein, denn sie hätte sie ohnehin nicht stoppen können. Sie liefen jetzt wie ein Wasserfall. Und leider ist das nicht so wie in Filmen, in denen drei Tränchen kullern und die Augen ein bisschen gerötet sind. Nein, vielmehr schwillt das ganze Gesicht an, die Nase verstopft zuerst und beginnt dann zu laufen und irgendwie hat man hinterher immer Kopfweh. Sie sah sich im Spiegel an. Gott, wie hässlich sie doch war, wenn sie weinte. Sie starrte sich eine Weile an und musste irgendwie ein bisschen grinsen. Wie sie da so stand, zerzauste Haare, gerötetes Gesicht. Auf dem Fußboden neben ihr eine ganze Packung verheulter Taschentücher.
Wieso heulten Menschen überhaupt? Sie befragte google. Es stellte sich heraus, dass das als eine Art Kommunikationsmittel funktionierte. Das ergab für sie aber irgendwie ebenso keinen Sinn, immerhin war niemand hier, der irgendwie auf diese "Signale" hätte reagieren können. Aber nun gut.

Nachdem die Traurigkeit einigermaßen verflogen war (obwohl sie unterschwellig irgendwie immernoch da war), kamen ihr ihre Gefühle für ihn wieder vor Augen. Sie hatte irgendwie das Bedürfnis, ihm die mitzuteilen. Und ihm mitzuteilen, was schief lief...
Sie setzte sich an den Tisch und verfasste eine WhatsApp-Nachricht. Früher wäre das irgendwie bedeutungsvoller gewesen. Da hätte man Feder und Tinte benutzt und einfach einen Brief geschrieben. Ein paar der Tränen hätten sich sicher gut auf dem Papier gemacht. Das würde Dramatik hinzufügen. Sie grinste ironisch. Aber dann wurde sie wieder ernst und begann zu schreiben. Sie hätte natürlich auch einen Brief schreiben können, aber sie hatte das Gefühl, das hier könnte nicht warten. Die Verzögerung mit der Post würde viel zu lange dauern. Es war Sonntag Abend um 19 Uhr und sie hatte außerdem keine Briefmarken da. Nein, sie müsste sich das jetzt von der Seele schreiben. Plötzlich bemitleidete sie die Menschen zu früherer Zeit. Sie hatten sich so sehr in Geduld üben müssen mit ihren Boten oder Brieftauben oder was auch immer. Und die Nachricht konnte verloren gehen. Sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte, also begann sie einfach zu schreiben:

.....


Du gibst mir so viel… Du gibst mir unglaublich viel, ich bin so glücklich mit dir und gleichzeitig bist du häufig der Grund, warum ich zu Hause sitze und heule. Ich weiß, dass wir uns in unserer Beziehung an unterschiedlichen Punkten befinden. Ich bin ziemlich verkorkst, was alles angeht, was auf einer Vertrauensbasis aufbaut. Ich bin anhänglich - zu anhänglich, weil ich immer irgendwie unterschwellig diese Angst habe, dich zu verlieren. Angst davor, dass sich unsere Stufen nie angleichen werden. Dass ich aus meiner Perspektive in der Beziehung immer einen oder zwei Schritte voraus bin. Ich habe mir schon immer gewünscht, eine Beziehung zu haben, von der die Menschen um mich rum irgendwann sagen "Wow, die sind immer noch zusammen? Krass." Ich will jemanden an meiner Seite haben, den ich irgendwann heiraten will. Der mich heiraten will. Mit dem ich gemeinsam Kinder bekomme und mit dem ich zusammen alt werde. Ich will, dass wir uns zusammen weiterentwickeln. Dass wir das hinbekommen und zueinanderstehen, auch wenn es vielleicht mal so aussieht, als wäre das Ganze nichts als eine Sackgasse. Ich will, dass wir die ganz normalen Probleme haben, die man halt so hat, wenn man in einer Beziehung ist. Und ich will, dass wir die zusammen lösen. Ich will mich streiten können, aber umso mehr will ich mich wieder versöhnen können. Ich wünsche mir so sehr, dass unsere Kinder ein heiles, ein funktionierendes Zuhause haben, in dem sie lernen, was Liebe ist. Was gegenseitige Unterstützung ist. Ich will bei allen Meilensteinen dabei sein, die die Person in seinem Leben erreicht. Ich will an seiner Seite sein und wenn es mal schwierig wird für ihn, dann will ich da sein, um ihn aufzufangen. Um ihm zu sagen, dass er das schaffen wird und um ihm zu zeigen, dass er alles wert ist, was diese Welt ihm zu bieten hat. Ich will jede Nacht neben dieser Person einschlafen, nachdem wir jede Nacht Gute-Nacht-Küsse ausgetauscht haben. Und genau so will ich jeden einzelne Morgen für den Rest meines Lebens neben dieser Person aufwachen. Sie soll das erste sein, was ich sehe, wenn ich morgens die Augen öffne. Ich will, dass die Beziehung von Optimismus geprägt ist und dass sie alles übersteht, was auf sie zukommt. Weil beide Partner zusammenhalten und für die Beziehung kämpfen. Die Beziehung soll unser beider Endgame sein. Ich will niemand anderen, ich brauche niemand anderen.
Ich will, dass diese Person du bist. Ich will, dass wir das alles zusammen erleben, denn ich kann mir dich an meiner Seite so gut vorstellen. Ich will, dass du derjenige bist, mit dem ich all das erlebe, was ich erleben will. Mit dem ich all das teilen kann, was mir durch den Kopf geht.
Schon jetzt bist du mein Anker. Du hältst mich fest, du bist mein Ruhepol. Ich vertraue niemandem auf der Welt so sehr wie dir. Ich habe mich bisher niemals jemandem so geöffnet wie dir.

Ich weiß, du bist (noch) nicht an diesem Punkt angekommen. Ich weiß, dass deine letzte Beziehung dir wahrscheinlich all dein Vertrauen in all das genommen hat. Ich weiß, dass du jetzt im Hier und Jetzt lebst und dass du dich vielleicht einfach noch nicht traust zu weit zu denken. Und glaub mir, das Ganze macht mir mindestens genau so viel Angst. Kannst du dir vorstellen, wie meine Hände zittern, während ich das hier schreibe? Dir zu sagen, dass ich dich liebe, war das Schwierigste, was ich je getan habe. Und ich habe es getan, weil es wahr ist. Ich habe enorme Vertrauensprobleme, ich habe Angst, dass all das in meinen Händen wegbricht, was ich mit dir habe. Ich weiß, jetzt gerade ist das irgendwie unbedeutend, du bist ja glücklich mit mir.. Aber ich glaube, wovor ich viel mehr Angst habe, ist, dass ich dir auf lange Sicht dann doch nicht die Richtige bin. Dass das hier für dich nur eine "Phase" ist in deinem Leben, die irgendwann vorbeigeht. Und ein riesengroßes Loch hinterlässt, weil du für mich doch so viel mehr bist als nur mein derzeitiger Freund. Ich wünsche mir, dass du der eine bist. Ich wünsche mir, dass du irgendwann mal das gleiche für mich empfinden kannst, wie ich für dich empfinde. Ich wünsche mir, dass du mich irgendwann so siehst: Als die Frau, die eine und einzige, die dir das geben kann, was du brauchst. Der du blind vertrauen kannst. Die Frau, mit der du für den Rest deines Lebens zusammen sein willst, ein Team sein willst. Ich wünsche mir so sehr, dass du das irgendwann in mir siehst.


...

Mittlerweile war es halb 12 und sie hatte noch keine Antwort bekommen. Aber das lag wohl ganz einfach daran, dass sie die Nachricht nicht abgeschickt hatte. Wahrscheinlich war es zu früh. Sie konnte ihn doch damit nicht überrumpeln. Sie hätte es ihm so gern gesagt.
Aber sie hatte Angst.


© spiegelfee


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