Fern, fast am Ende der Welt, in einem Land, das längst vergessen ist, in einem Tal zwischen hohen schneebedeckten Berggipfeln, lebte einst ein Graf, der für sein lautes und polterndes Lachen bekannt war. Schon morgens, wenn er aufstand, begann er zu lachen, und noch am späten Abend, wenn die Sonne schon lange hinter der dunklen, gezackten Linie der Berge verschwunden war und die Dienerschaft schlafend in ihren Betten lag, hörte man dröhnend und donnernd das Gelächter des Grafen durch das Land hallen. Bis in die umliegenden Grafschaften hörte man es tosen, und von den hoch aufragenden Bergwänden kehrte das vielfache Echo zurück. Wenn Fremde in das Tal des Grafen kamen, dachten sie, sie seien in ein Erdbeben oder einen Vulkanausbruch geraten. Und weil dieses unbändige, eigentümliche Lachen die hervorstechende Eigenschaft des Grafen war, nannte man ihn landauf und landab nur Graf Lachsack.

Nun ist es gemeinhin so, dass Menschen die Luft aus ihrem Munde hervorstoßen, wenn sie lachen. Man könnte sagen, sie lachen aus sich heraus. Beim Grafen Lachsack war es genau umgekehrt. Er sog die Luft beim Lachen ein. Und nicht nur die Luft lachte er in sich hinein, sondern auch die Stimmung seiner Gespächspartner. Traf Graf Lachsack einen, der traurig war oder gar weinte, dann verschlang er dessen Gemütszustand mit polterndem Lachen, so dass der andere am Ende überhaupt nicht mehr traurig war. Lustig war er aber auch nicht. Er hatte gar keine Stimmung mehr.
Nun hätte man ja froh sein können, dass der Graf allen Trübsinn fortlachte, der ihm begegnete, und seine Untertanen von Verzweiflung, Enttäuschung und Wehmut befreite wie ein riesiger Staubsauger, aber leider war das schwarze Loch des gräflichen Lachens noch viel unersättlicher. Auch vor Zweifeln, Nachdenklichkeit und abwägendem Schweigen machte es nicht halt, und schließlich verschlang es alles, was sich nicht laut und lustig gebärdete. Je oberflächlicher eine Stimmung war, desto eher widerstand sie dem Sog des gräflichen Gelächters. Und so kam es, dass am Ende nur noch das grobe Lachen aus den Schenken, das schadenfrohe Kichern hinter halb zugezogenen Gardinen und das dumpfe Haha!, das vor allem leere Köpfe von sich geben, im Umkreis des gräflichen Schlosses zu hören waren. Die Traurigen, Nachdenklichen, Zweifelnden, mit einem Wort alle, die ein Land, das weiterkommen will in seiner Entwicklung, ebenso nötig braucht wie die Fröhlichen, sanken – ihrer Stimmung beraubt – zum dunklen Bodensatz der Bedeutungslosigkeit hinab.
Die Witzbolde und Possenreißer jedoch, die Fröhlichen und Dummfröhlichen litten nicht darunter, denn sie merkten garnicht, dass ihnen etwas fehlte. Billiger Wein, wohlfeile Weiber, gelallter Gesang und witzige Sprüche waren ja noch da, und mehr brauchten sie nicht, um den Tag und die Nacht herumzubringen.

***

Eines Tages ritt der Graf zur Jagd aus, umgeben von seinen Begleitern, grob scherzenden und grölenden Kumpanen. Man galoppierte durch den Wald und plötzlich geschah es, dass der Graf allein auf seinem ratlos wiehernden Gaul im Unterholz stand und seine Gesellen verloren hatte. Er stieg vom Pferd, setzte sich auf einen Baumstumpf nieder und schüttelte sich erst einmal vor Lachen. Und er lachte und lachte, und niemand hätte sagen können warum, am wenigsten er selber.
Da spürte er plötzlich einen leichten Lufthauch, und als er aufsah, stand vor ihm ein hagerer Mann. Er schaute den Grafen mit großen traurigen Augen an und fragte mit dumpfer Stimme:

"Warum lachst du?” "Weil ich Trübsal verabscheue. Ich verschlinge sie, verdaue sie und dünge den Boden damit. Ich will ein Reich, in dem alles dampft vor Lachen.”
Der hagere Mann sagte: "Wenn du siehst, was ich dir jetzt zeige, dann hast du kein Lachen mehr.”

Er machte eine Bewegung, und in der Luft, wie auf einer durchscheinenden großen Leinwand, sah der Graf alle Folterungen, Morde und sonstige Gräuel, die bisher auf dieser Erde geschehen waren. Es war ein schrecklicher Film, der da ablief und in erschütternden Bildern zeigte, wie klein der Schritt vom Menschen zum Unmenschen ist.

Der Graf öffnete den Mund, um seine Betroffenheit wegzulachen, so wie er es immer getan hatte, wenn ihm etwas anderes als laute Lustigkeit begegnet war. Aber zum ersten Mal im Leben fand er keinen Ton, und sein Mund blieb weit offen stehen.
Das Erlebnis hatte den Grafen regelrecht gelähmt. Er stand wie angewurzelt neben seinem Pferd und konnte sich weder von der Stelle bewegen, noch den aufgerissenen Mund wieder schließen. Und es vergingen viele Jahrhunderte, in denen Generationen von Menschen geboren wurden und nach der ihnen zugemessenen Lebensspanne ins Grab sanken. Generationen, in denen gelacht und geweint, froh gewagt und still verzagt wurde. Und Zeit, Sand und Vergessen rieselten auf den reglosen Grafen herab.

***

Erst stapfte ein junger Mann mit einer Schaufel durch die Wüste in das Tal, dann noch viele weitere. Sie wollten hineinschauen in die Vergangenheit, indem sie Häuser und Gerätschaften früherer Epochen ausgruben. Und als sie in dem sandigen Tal den Boden tief genug ausgehoben hatten und auf die Schicht jener Zeit stießen, für die sie sich besonders interessierten, fanden sie zerbrochene Skelette und zerschlagene Schädel, große und ganz kleine. Und sie schlossen mit dem unerbittlichen Scharfsinn der Wissenschaftler aus dem Zustand der Überreste, die sie ausgegraben hatten, auf eine aggressive, kriegerische Zeit.

Was sie aber nicht fanden, waren das Weinen und die leeren Herzen, die sinnlose Grausamkeit und die Verzweiflung der verwundeten Seelen. Sie hätten damit auch wenig anfangen können, denn das Verständnis für Seelen gehörte nicht zu ihrem Forschungsbereich.

So gruben sie weiter, und eines schönen Tages – die Sonne lachte fröhlich vom Himmel – stieß einer der Wissenschaftler auf einen harten Gegenstand. Er grub vorsichtig weiter und zog schließlich ein seltsames Ding aus dem Boden. Es war eine zusammengeschrumpfte Gestalt von dunkelbrauner Farbe mit fettig glänzender, ledriger Haut. Hart und steif war sie, und neben ihr lagen verstreut die Knochen eines Huftiers. Das mumifizierte braune Ding hatte sein Maul weit aufgerissen, so dass es aussah wie ein riesiger Stockfisch, der auf dem Trockenen gelandet und beim Schnappen nach Luft erstarrt war.

***

Sie brachten das Ding in einen besonderen Raum des Museums gleich hinter der Bibliothek. Dort standen auch in langen Reihen die goldgeprägten Geschichtsbücher, die aus jenen alten Zeiten berichteten. Doch sie erzählten nur vom immer fröhlichen Grafen Lachsack und seinem beneidenswerten Land, in dem das Leben der Bürger ohne Unterbrechung lustig und ungetrübt verlaufen war. Traurigkeit aber und Wehmut – so konnte man in den alten Quellen lesen – hatte es in jenem beneidenswerten Lande niemals gegeben.

Mit gefurchten Stirnen dachten sie lange vergeblich darüber nach, wie denn wohl die grausamen und erbarmungslosen Kriege dieser Zeit und das ewige Lachen zusammenpassten.

Aber – wie gesagt – für Seelen waren sie nicht zuständig.




© by Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Graf Lachsack"

Ein Graf, der glaubt, alles mit grölendem Lachen bewältigen zu können, scheitert an der Realität.

Gehört eigentlich in die Kategorie "Geschichten zum Nachdenken", ist mir aber wieder mal versehentlich in die falsche Abteilung gerutscht.

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Kommentare zu "Graf Lachsack"

Re: Graf Lachsack

Autor: D.R.Giller   Datum: 01.01.2018 20:38 Uhr

Kommentar: Schön geschrieben.. Graf Lachsack und seine Botschaft!

LG D.R.

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