Er kontrollierte den Namen an der Klingel. Dann läutete er etwas nervös. Er mochte es nicht, zu Arbeitskollegen nach Hause zu kommen. Arbeit war Arbeit und Privatleben war Privatleben. Soweit ging die Theorie. Aber sein Vorgesetzter schien keine Grenzen zu ziehen. Als sein Assistent hatte man manchmal auch keine Wahl. Er musste nur die Unterlagen abgeben und hoffen, dass er nicht gleich zu noch mehr eingeteilt wurde. Vielleicht war es aber auch nur ein Test. Er war sich da bei seinen Vorgesetzen nicht ganz so sicher. Manchmal sagte er so absurde Sachen mit völliger Ernsthaftigkeit. Wenn man ihn dann völlig irritiert ansah, begann er zu lachen. Manchmal aber auch nicht. Er hatte einen völlig verkorksten Humor. Der Türöffner brummte, ohne dass jemand durch die Gegensprechanlage zu ihm gesprochen hätte. Er warf sich fast gegen die Klinge. Irgendwie schaffte er rechtzeitig die Tür auf. Es war doch furchtbar peinlich noch einmal läuten zu müssen. Jetzt starrte er das Treppenhaus hinauf, das sich wie eine Schlange höher und höher windete. Welches Stockwerk? Er wusste es nicht. Sein Vorgesetzter hatte es ihm nicht gesagt und er hatte gar nicht daran gedacht, dass er fragen musste. Er hatte also keine Wahl und nahm die Treppe. Nur ein kurzes Stück weiter oben hörte er eine Tür. Er atmete aus. Es konnte also nicht mehr weit sein.
Die Tür vor ihm war nur einen Spalt offen. „Komm rein! Komm rein!“, hörte er eine Frauenstimme rufen. Er stockte. Das musste die falsche Tür sein. Doch im nächsten Moment kam ein lächelndes Frauengesicht zum Vorschein, das gar nicht überrascht schien ihn zu sehen. „Komm rein! Komm rein! Richard hat mir gesagt, dass du kommst. Er ist gleich wieder zurück.“ Er starrte. Sie winkte ihn herein. Also hatte er gar keine andere Wahl mehr. Er hatte doch nur kurz die Unterlagen vorbeibringen wollen. Jetzt sollte er, weiß Gott wie lange, hier auf seinen Chef warten. „Tut mir leid, es sieht ein wenig aus. Ich muss noch etwas fertig bekommen und hab mich ausgebreitet. Kann ich dir etwas zum Trinken anbieten?“ Unsicher trat er in den großzügigen Eingangsbereich der Wohnung. „Danke, aber ich wollte wirklich nur ganz kurz …“ Die Frau wirbelte bereits in die Küche. „Zumindest ein Glas Wasser“, erklärte sie mit ihrer Singstimme. Also bekam er ein Glas Wasser. „Und lass die Schuhe gleich an. Es ist sowieso nicht geputzt!“ Zögerlich folgte er ihr in die Küche, die sich als Wohnküche entpuppte. Hinter der Tür breitete sich ein riesiges Zimmer aus. Das war eine Wohnung von der er mit seinem Gehalt nur träumen konnte. Die Frau drückte ihm ein Glas Wasser in die Hand. „Setz dich!“ Sie schob ihn sanft weiter in den Raum hinein. Der Sofatisch war größer, als jeder andere Sofatisch, den er bisher gesehen hatte. Er ließ sich auf den Sessel nieder und versank in der Polsterung. Irgendwie kam er sich gefangen vor. In der einen Hand hatte er das Wasserglas. Mit der anderen klammerte er sich noch immer an seine Mappe. Sie hockte sich auf den Boden im gegenüber. Das verbesserte seine Situation kein bisschen. Er starrte auf den Tisch. Er war voll mit Steinen, Perlen und Drähten und Zettel. Sie schob etwas von dem Chaos zur Seite um ihn Platz zu schaffen. Dankbar legte er seine Sachen ab. Sie lächelte ihn breit an. Sie trug einen weiten Pulli. Er sah schon abgetragen aus. Das Lila war ausgewaschen und wirkte mehr wie grau als Farbe. Auch ihre Hosen wirkten abgetragen und ihre Haare waren in einen schlampigen Knoten mit einer Spange hoch geklemmt. Damit passte sie überhaupt nicht in die schicke Wohnung und zu seinen schicken Chef. Ihre Finger begannen Perlen hin und her zu schieben. Irgendwie war die Situation reichlich unangenehm. Er rückte ein Stück vor, um nicht mehr ganz in der Sesselfalle zu kleben. „Ich heiße Paul“, meinte er jetzt etwas unbeholfen. Sie blickte auf. „Ich bin Lena. Aber wir sind uns schon mal begegnet.“ Er blinzelte. Das konnte nicht sein. Er hatte absolut überhaupt keine Erinnerung. Und sie war eine Frau, die man in Erinnerung behielt. „Bei der Eröffnungsfeier vom neuen Gebäude vor einem halben Jahr.“ Er erinnerte sich an die Feier. Damals war er erst wenige Monate bei der Firma gewesen. Er erinnerte sich auch daran, dass auch die Partner eingeladen waren. An Lena erinnerte er sich jedoch nicht. War sein Chef wirklich mit Frauenbegleitung gekommen? Lena lachte. „Es macht wohl einen ganz schönen Unterschied, wenn ich mich herrichte: Make up, enges, langes, schwarzes Kleid mit Federschmuck an der Schulter, Federschmuck im Haar. Die Haare hatte ich damals auch dunkel mit einer grünen und einer blauen Strähne.“ Langsam kam die Erinnerung zurück. Das war Lena? Damals war sie der Paradiesvogel gewesen. Sie hatte gelacht und mit den Männern geflirtet, obwohl man gleichzeitig gewusst hatte, dass sie unerreichbar war. Jetzt wirkte sie im Vergleich wie eine graue Maus. Sie fuhr sich in die Haare. „Mein Mann mag es gerne, wenn ich mich rausputze. Aber an gewöhnlichen Arbeitstagen wie diesen, ist mir das zu viel Mühe.“ Mann? „Ich wusste gar nicht, dass Richard verheiratet ist“, rutschte es aus ihm raus. Lena hob ihre linke Hand und wedelte damit vor seinem Gesicht hin und her. „Schon seit zwei Jahren. Wir sind gemeinsam durchgebrannt und haben gleich drei Wochen Urlaub hinten angehängt. Es war das Romantischte, was Richard jemals gemacht hat.“ Sie kicherte. Urlaub? Er hatte sich nicht vorstellen können, dass sein Vorgesetzter das Wort Urlaub überhaupt kannte. Die Wörter „Wochenende“ und „Zeitausgleich“ kannte er schließlich auch nicht. „Richard trägt seinen Ring nicht am Finger. Das stört ihn. Und er redet auch nicht groß darüber. Das ist schließlich privat, irgendwie!“ Dafür, dass es privat war, redete sie ganz schön viel darüber. Aber es störte nicht. Sie hatte eine angenehme Stimme. Irgendwie begann er sich langsam zu entspannen. Er trank von seinem Wasser. „Und was machst du da?“ „Das wird etwas Besonderes!“ Sie richtete sich auf und fischte Zettel aus ihrem Chaos. In ihren Augen entstand ein Leuchten. Sie legte die vier Zettel vor ihm auf den Tisch. Darauf waren Entwürfe von Kleidern zu sehen. „Ich habe mit einer Freundin zusammen ein Ausstattergeschäft. Sie ist Schneiderin. Ich mache den Schmuck auf den Kleidern, den Haarschmuck und alles, was dazu gehört.“ Er starrte auf die Kleider. Er verstand überhaupt nichts davon. „Hier, das Kleid für die Braut: wir haben die Mitte angehoben und die Röcke etwas weiter gemacht. Sie ist schwanger. So sieht man es weniger.“ Lena kicherte. Sie begann weiter ihn auf Details von den Kleidern aufmerksam zu machen, die er so gar nicht bemerkt hätte. Sie hatte sich wirklich viel dabei gedacht. So viel verstand sogar er.
„Hast du dir ein neues Opfer gefunden?“ Er zuckte zusammen. „Richard!“ Lena sprang auf. Sie fiel ihrem Mann um den Hals, als hätte sie ihn schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Die beiden küssten sich inniglich. Peinlich berührt blickte er zu Boden. Seine Hände begannen nach der Mappe zu suchen, die irgendwie unter Lenas Zettel gekommen war. „Meine Frau ist eine wahre Künstlerin, nicht wahr, Paul?“ Er nickte. Was hätte er anderes tun können? Außerdem war es wirklich wahr. Die Kleider sahen toll aus, soweit er das beurteilen konnte. Richard legte einen Arm um Lenas Hüften und sie schmiegte sich automatisch an seine Seite. Die beiden waren eine Einheit. Sie wirkten perfekt zusammen. „So, was hast du mir mitgebracht?“ Seine Finger bekamen die Mappe zu fassen und er zog sie hervor. Im nächsten Moment hatte Richard die Mappe in der Hand. Dabei hatte er doch gerade erst Lena festgehalten. Er schlug sie auf, blätterte durch die Zettel, kontrollierte mehrfach den Inhalt. „Das ist, was ich brauche“, murmelte er. Paul atmete erleichtert aus. Es war nicht einfach seinen Chef zufrieden zu stellen. „Ich schick dir später ein Dokument. Das brauche ich als Handout für die Sitzung Montag in der Früh.“ „Natürlich“, murmelte er, selbst wenn das bedeutete, dass er Montag extra früh kommen musste. Aber das hatte er schon irgendwie erwartet. Welcher Idiot hatte die Sitzung auf 8 Uhr gelegt? Er kratzte sich am Hinterkopf. Er wusste, es war kein anderer Termin frei gewesen. „Und ich brauche dich als Schriftführer“, fügte Richard noch hinzu. Endlich blickte er von den Unterlagen hoch. „Danke! Das ist alles, was ich brauche. Wir sehen uns am Montag. Genieß die Zeit bis dahin. Es ist schließlich Wochenende!“ Er starrte. Er kannte es also doch, dieses Wort: Wochenende.

Er zog an seiner Krawatte. Irgendwie schien sie an diesem Tag überhaupt nicht sitzen zu wollen. Das war wieder typisch! Sie hatten wichtige Gäste hier. Er hatte für sie Theaterkarten besorgen müssen. Zum gefühlten tausendsten Mal tastete er in seine Brusttasche, um zu prüfen, ob sie wirklich da waren. Sein Chef, Richard, wie er ihm vor ein paar Wochen quasi befohlen hatte ihn zu nennen, würde mit den Gästen kommen. Er tastete nach der Haarsträhne, die immer irgendwie auszubüchsen schien. Sie klebte dank Gel noch immer an der richtigen Stelle. Er blickte auf die Uhr. Sein Vorgesetzter war spät dran. Die Vorstellung würde in zwanzig Minuten beginnen. Er hatte den genauen Terminplan im Kopf. Unbeholfen blätterte er durch das Vorstellungsheft, was ihm eine freundliche Dame bereits gereicht hatte. Das Stück interessierte ihn überhaupt nicht. Er wusste, er war nur da, um die Karten abzuholen und die Mäntel zur Garderobe zu bringen. So etwas taten doch Assistenten. Vielleicht war es auch gar nicht so schlecht, eine Abwechslung zum üblichen Fernsehprogramm. Jetzt endlich sah er seinen Chef die Treppe hoch kommen. Er machte einen Schritt auf ihn zu und erstarrte. Er war nicht alleine gekommen. Natürlich war er nicht alleine gekommen. Ihre Gäste waren auch da. Aber an der Seite seines Chefs schwebte das bezauberndste Fabelwesen, was er jemals gesehen hatte. Sie war wie eine Kreuzung von einer Elfe und einen Schwan. Jetzt lachte sie auch noch perlend, wie perfekt zu ihrer Rolle. Er musste aufpassen, dass sein Mund nicht offen stehen blieb. Dann beschleunigte sein Chef auf die letzten Meter und schob sich zwischen ihm und der Erscheinung. „Paul, gut das du schon hier bist. Hast du die Karten?“ Er nickte und zog wie zum Beweis die Karten hervor. Sein Chef nahm sie entgegen und prüfte sie mit einem kurzen Blick, bevor er sie in seiner Jackettasche verstaute. „Darf ich dir deinen Mantel abnehmen, Liebling!“, wandte er sich zu seiner überirdischen Begleiterin. Er wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern löste das Stoffstück von ihren Schultern. Dann bot er dasselbe Service der Frau ihres Geschäftspartners an. „Paul, so schön dich zu sehen.“ Als wären sie beste Freunde, hauchte ihm das Fabelwesen zwei Küsse auf die Wangen. „Frau Bodner, haben sie schon Paul, den Assistent meines Mannes kennen gelernt?“ Er reichte der Frau die Hand, dann auch ihrem Mann. „Garderobe“, fiel ihm schlagartig wieder ein. „Darf ich die Kleidungsstücke schon in die Garderobe bringen, während Sie sich ihren Platz suchen?“ „Das ist lieb, Paul! Er ist so ein Schatz, nicht wahr, Richard!“ Sein Chef belud ihn mit den Kleidungsstücken als Antwort.
Der Vorhang fiel und die erste Pause begann. Er unterdrückte ein Gähnen. Das Stück war langweilig und er hatte nach der Hälfte irgendwie abgeschalten und war leicht weggedöst. Jetzt standen seine Sinne schlagartig wieder auf Alarm. Sie wurschtelten sich mit der Masse nach draußen auf die Gänge. Plötzlich tippte sein Chef ihn auf die Schulter. Wieso konnte sich dieser Mann in jeder Situation anschleichen? „Kümmere dich um die Damen, während ich mit Herrn Bodner ein paar geschäftliche Dinge bespreche“, flüsterte er ihm zu. Dann war er plötzlich weg, Herr Bodner auch und er stand mit Frau Bodner und der Elfe alleine da. Er blinzelte kurz. Frau Bodner begann von dem ersten Akt zu reden. Sie schien ganz hingerissen zu sein. Irgendwie wusste er nicht, was er dazu sagen sollte. „Möchten Sie etwas zu trinken?“, fragte er in eine Pause hinein. Beide lehnten ab. Sie unterhielten sich hervorragend. Er hatte gar nichts zu tun. Irgendwie verlor er sich in den Anblick von Lenas Kleid oder besser dem, was es nicht verriet und trotzdem mit wenig Fantasie erahnen ließ. Es war wie perfekt für sie gemacht. Sein Chef hatte wirklich alles: eine tolle Wohnung, eine perfekte Frau, einen super Job, der ihn scheinbar auch erfüllte, und bei dem er auch noch mehr als genug verdiente. Als sein Assistent war ihm natürlich auch schon mal sein Lohnzettel in die Hände gekommen. Er hatte ihn mit großen, runden Augen angestarrt, so wie Lena jetzt. Er hätte auch gerne so ein Leben! Er seufzte. „Ist etwas, Paul?“ „Nein, nein! Ich bin etwas durstig und werde mir etwas zu trinken holen. Sicher, dass ich nichts mitbringen soll?“ „Nein, aber beeil dich! Die Pause ist gleich vorbei!“ Er nickte und flüchtete. Lenas Lächeln war einfach zu viel.

Er lehnte sich auf seinen Stuhl zurück. Sein Blick fiel auf die Uhr auf seinem Monitor. Nur noch drei Stunden bis zum Abflug. In ein paar Minuten würde er das Taxi rufen. Sein verrückter Chef hatte ihn erklärt, dass er ihm zum Flughafen begleiten musste, weil er ihm noch eine lange to-do-Liste diktieren musste. Er seufzte. Einen workoholischen Chef zu haben war eine Sache. Aber wieso musste er davon ausgehen, dass all seine Untergebenen auch so waren. Die eine Woche Dienstreise versprach für ihn eine Erholung zu werden. In Gedanken hatte er schon die letzten Tage einen Stundencountdown laufen: drei Stunden noch. Dann war er seinen Chef los, zumindest für fünf Tage. Selbst wenn sich mehr als genug Arbeit auf seinen Schreibtisch stapelte, würde er heute früher gehen. Danach würde er sich einen stressfreien Abend machen: keine spontanen Telefonanrufe, weil sein Chef noch irgendetwas brauchte, kein schlechtes Gewissen. Er griff nach seinem Telefon und suchte die Taxinummer heraus. Die Tür zu seinem Chefbüro wurde geöffnet. „Paul, das Taxi!“ Er hob sein Telefon. „Ich bin gerade dabei.“ Vielleicht sollte er doch sein Telefon ausschalten. Sicher war sicher!
Er rutschte neben seinen Chef ins Taxi. Noch eine Stunde vierzig: sie lagen ausnahmsweise gut in der Zeit. „Wir fahren noch bei mir vorbei. Ich muss noch etwas abholen“, erklärte Richard. Das war nicht wahr! Sein Chef machte ihn wahnsinnig! Bevor er noch in irgendeiner Weise protestieren konnte, hatte sein Vorgesetzter dem Taxifahrer die Adresse gesagt. Er hätte sowieso keine Meter zu seinem Vorgesetzten gehabt. Sein Vorgesetzter war schließlich der Chef und er nur der Assistent. Nervös blickte er hinaus auf den Verkehr. Es war später Nachmittag, wahrscheinlich die schlimmste Zeit. „Du musst ein wenig lockerer werden.“ Er zuckte leicht zusammen. Dann riss er sich vom Fenster los. Sein Chef grinste ein wenig. „Es wird sich alles ausgehen, Paul“, beruhigte er ihn. Er nickte nur. Am Ende des Tages war es vor allem das Problem seines Chefs, wenn er die Maschine nicht mehr bekam. Aber irgendwer musste sich die Sorgen machen. „In einem Monat fliege ich voraussichtlich nach China“, erklärte er jetzt. „Soll ich mich um die Flüge kümmern?“ China, das war sicher eine längere Dienstreise. Er sah sich schon zwei bis drei Wochen lang seine Überstunden abbauen. Er könnte wieder zum Laufen beginnen. Er musste ein wenig abnehmen und er war total außer Form. „Ich möchte, dass du mich begleitest.“ Er schluckte. Sein Chef lachte. „Du brauchst keine Panik zu bekommen. Mit Stäbchen essen ist nicht die Schwierigkeit und du kannst auch Besteck verwenden.“ Hatte er wirklich so ein entsetztes Gesicht gemacht? Er musste sich zusammenreißen. Sein Chef lachte. „Spaß beiseite: es wird dir gut tun. Du willst sicher nicht ewig Assistent bleiben. Unsere Produktionsfirmen und unsere wichtigsten Kunden dort zu kennen, wird dir weiterhelfen.“ Von was redete er da? Er war ja noch nicht einmal ein Jahr auf seiner jetzigen Position. „Wenn man eine Karriere plant, dann kann man nie früh genug damit anfangen. Und du bist doch der Planungstyp.“ Hatte er seine Gedanken gelesen? Sein Vorgesetzter war ihm reichlich unheimlich. „Denk darüber nach!“
Er dachte darüber nach, dachte und dachte. Er war so darin vertieft irgendeinen Sinn in Richards Verhalten zu finden, dass er erst begriff, dass sie bei der Wohnung seines Chefs angekommen waren, als dieser die Taxitür öffnete. „Natürlich kannst du mitkommen“, hörte er jetzt seinen Chef sagen. Was? Im nächsten Moment blickte ihm das wunderschönste Lächeln der Welt entgegen. Sie war diesmal relativ normal gekleidet. Aber er konnte noch immer ihre überirdische Aura sehen. „Hallo Paul! Ich wusste nicht, dass du auch da bist.“ Endlich erwachte er aus seiner Passivität. „Soll ich mich nach Vorne setzen?“ Aber da war Lena bereits neben ihm ins Taxi gerutscht. „Das macht zu viele Umstände“, erklärte sein Chef. Er kam jetzt auch in den Wagen. Irgendwie war die Rückbank zu eng für drei. Selbst wenn Lena eng an ihren Mann lehnte, berührte sie ihn doch ständig. Zuerst war es ihr Fuß. Dann war es ihr Oberschenkel. Er wurde heiß und kalt zugleich. Er verfolgte Lenas Finger, wie sie sich um den Oberschenkel ihres Mannes klammerten. „Richard ist manchmal so vergesslich. Kannst du dir vorstellen: er hat seinen Pass zuhause liegen gelassen. Hätte ich ihn nicht zufällig gefunden, hätte er es gar nicht bemerkt.“ Er schüttelte langsam den Kopf. Er musste sich zusammenreißen. Die Finger seines Chefs flirteten mit einer von Lenas Haarsträhnen, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten. „Zum Glück hab ich ja dich!“ „Und ich dich! Ich bin so verloren ohne dich!“ Plötzlich drehte sich sein Magen um. Er schluckte bittere Galle. Was war los? Sonst wurde ihm nie beim Autofahren schlecht. Er starrte auf das Paar ohne ihre Seuseleien und Liebesbekenntnisse zu hören, während er fortlaufend mit seinem Magen kämpfte. Plötzlich hörte er seinen Namen heraus. Er nickte artig. „Das ist so lieb von dir, Paul!“ Er starrte. Wozu hatte er jetzt zugestimmt? Sie strahlte ihn an. Sein Magen zog sich zusammen. Wieder berührten sich unabsichtlich ihre Beine. „Ja, Paul ist einfach zu nett für diese Welt. Daran solltest du noch arbeiten.“ Von was redeten die beiden überhaupt? „Lass das, Richard. Ich weiß schon, was du vorhast. Du willst aus ihm einen karrierefixierten Egozentriker machen. Aber Paul ist genau richtig so, wie er ist.“ „Hast du das gehört, Paul?“

„Paul, es tut mir leid, wenn ich dich störe. Es ist… ich kann nicht vergessen, was du im Taxi gesagt hast.“ Er blinzelte. War da Lena? Sie hatte sich nicht mit Namen gemeldet, so als hätte sie schon tausende Male bei ihm angerufen, so als täte sie das jeden Tag und nicht zum ersten Mal. Und was hatte er im Taxi gesagt? Er war doch nur sprachlos neben ihr gesessen. „Ich weiß es ist lächerlich. Richard kommt morgen ja wieder. Aber die letzten Tage waren kaum aushaltbar gewesen. Die Wohnung ist so leer ohne ihn.“ Was wollte Lena? Immer wenn sie in der Nähe war, sogar jetzt am Telefon, schien sein Gehirn irgendwie träge zu werden. Er konnte nicht mehr richtig denken. „Ich weiß, du hast Arbeit und wahrscheinlich schon etwas anderes zu tun, aber könntest du vielleicht vorbeischauen. Nur ein bisschen!“ „Natürlich!“, rutschte es aus ihm raus, noch bevor sein verlangsamtes Gehirn denken konnte. „Das ist so lieb von dir!“ „Kein Problem! Ich habe das doch versprochen.“ Hatte er das? Sein Chef hatte ihm am Flughafen noch erklärt, dass er Lena gut nach Hause bringen sollte und sich um sie kümmern sollte. Zählte da auch dazu, dass er sie jetzt tröstete, während er nicht da war? Was tat er da überhaupt? „Ich bin sowieso gerade dabei Schluss zu machen, baue ein paar Überstunden ab. Ich kann…“ Er blickte auf die Uhr. „Vielleicht in einer halben Stunde da sein. Ist das in Ordnung für dich?“ „Oh, Paul! Das ist so lieb von dir!“
Er starrte Sekundenlang auf sein Hände, während sein Hirn gerade nachvollziehen begann, was er gerade getan hatte. Scheiße! Was tat er da überhaupt? Lena war von einem anderen Stern: der Stern seines Chefs. Und sie war auf diesen Stern fest verankert. Wie wollte er die Lichtjahre überbrücken? Er biss sich auf die Lippen. Er musste sie vergessen, je schneller desto besser. Aber jetzt konnte er nicht mehr absagen, oder? Er fuhr sich in die Haare und seufzte laut. Dann schnappte er wieder sein Handy und suchte die Ruflisten heraus. Wollte er diese Nummer speichern? Natürlich wollte er sie speichern. Und jetzt musste er sich beeilen. Sie wartete auf ihn und ein kleiner, masochistischer Teil in ihm freute sich unglaublich darüber.
„Oh, Paul!“ Sie fiel ihm quasi um den Hals. Ihr Gesicht war verheult. Sie blieb an ihm hängen. Nach einer Weile legte er vorsichtig die Arme um ihren Oberkörper. Ein Ruck ging durch sie hindurch. Sie löste sich von ihm. „Was musst du von mir denken?“ „Dir geht es nicht gut.“ Sie wandte sich von ihm ab. „Willst du einen Tee? Ich habe ein Wasser aufgestellt.“ Sie lief in die Küche und ließ ihn einfach mit leeren Händen stehen. Er wartete. Aber sie kam nicht zurück. Also schloss er die Tür. Vorsichtig folgte er ihr in die Küche. „Willst du schwarzen Tee oder grünen? Wir haben auch weißen und roten. Richard hat eine große Sammlung. Jedes Mal, wenn er in China ist, bringt er wieder Kilos mit. So schnell kann man die gar nicht aufbrauchen.“ Er war überhaupt kein Teetrinker. Er hatte keine Ahnung davon. „Einen Schwarzen“, murmelte er. Sie zog zwei Teepackungen aus einer Lade. „Darjeeling oder Earl Grey? Bei den schwarzen ist die Auswahl nicht so groß!“ Ihre Augen leuchteten ihn an. Er hatte überhaupt keine Ahnung. Aber er spürte, dass er eine Entscheidung treffen musste. Das war, was sie von ihm wollte, was sie vielleicht auch von seinen Chef wollte. Der war gut und schnell in Entscheidungen treffen. Sie würde es nicht tun. Er wählte den Darjeeling und ließ sich auf einen Hocker nieder, nur nicht zu bequem. In die Falle des Sofasessels würde er nicht mehr fallen. Ihre Finger begannen den Tee vorzubereiten. Dabei wischte sie immer wieder Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre Frisur wirkte nicht geordnet wie sonst. Ihre Haare waren einfach irgendwie zusammengeknüllt worden und dann mit einem Haarband unsicher fixiert. Auch ihr Gewand war zerknittert und überhaupt nicht so, wie er es sonst von ihr kannte. Es schien ihr wirklich nicht gut zu gehen. Er merkte, dass er wütend wurde. Wenn sie Trennung so schlecht vertrug, wieso hatte Richard dann einen Job, wo er ständig weg war. Was würde sie tun, wenn sie beide in China waren? Das waren zwei lange Wochen und nicht nur fünf Tage. „Er kommt ja morgen wieder.“ Sie drehte sich zu ihm um. „Nur noch etwas über einundzwanzig Stunden: ich weiß!“ „Du zitterst ja! Komm, gib mir das.“ „Ich bin normal nicht so, weißt du! Aber vor dir habe ich das Gefühl, ich kann das machen, ich kann mich gehen lassen. Das ist schon seit dem ersten Moment so.“ Sie fuhr sich mit dem Arm über die Augen. Fing sie jetzt zum Heulen an? Das durfte nicht passieren. Was machte er denn dann? Was sollte er jetzt tun? „Wie geht es dir mit deinem Hochzeitskleid-Projekt?“ Sie blinzelte kurz. „Das? Das ist schon lange fertig. Aber ich mach jetzt etwas Neues. Soll ich es dir zeigen?“ Ablenkung: das war der ganze Sinn der Sache. Natürlich nickte er. „Komm mit! Ich hab dir Unterlagen drüben im Schlafzimmer!“ Er schluckte leicht. Eigentlich wollte er nicht ins Schlafzimmer seines Chefs gehen. Aber eigentlich war die ganze Situation sowieso drunter und drüber. Besser war es, nicht so genau über all das nachzudenken.
Er stockte in der Tür. „Was ist das denn?“, rutschte es aus ihm heraus. Lena drehte sich verwirrt um. Dann folgte sie seinem Blick zu einem Kasten. „Die gehören Richard. Es sind Erbstücke. Er hat da so ein Ding für manche Sachen.“ Er kam langsam auf den Schaukasten zu. Darin lagen zwei alte Pistolen. „Willst du sie mal in die Hand nehmen?“ Lena hockte sich hin. Ihre Hand tastete etwas an der Unterseite des Kastens ab. Plötzlich hatte sie einen Schlüssel in der Hand. Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Ich bin nicht so für Waffen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Für Richard sind sie, glaube ich, mehr so etwas wie Maschinen. Er pflegt sie und poliert sie und alles. Vielleicht denkt er, es ist etwas von der Seele seines Großvaters in sie übergegangen.“ Das waren Waffen! Sein Chef hatte zwei Schusswaffen im Schlafzimmer ausgestellt. Irgendwie war das krank. Aber wahrscheinlich verstand er davon zu wenig. „Sie funktionieren immer noch!“ „Was?“ „Richard hat das gesagt. Sie funktionieren noch, in der Theorie zumindest. Er hat sie nie abgefeuert.“ Sie starrten beide auf die Pistolen im Schrank. Die Stimmung schien wieder völlig zu kippen. Er musste etwas sagen. „Irgendwie sind sie auch schön, wie Kunstwerke fast.“ Er starrte auf die Pistolen. Dann dachte er an die verzierten Kleider, die sie ihm das letzte Mal gezeigt hatte. Sie musste das so sehen. Ja, jetzt konnte er es auch sehen: Kunstwerke.

Er saß auf seinen Küchentisch und starrte aus dem Fenster ohne irgendetwas zu sehen. Seine Hände umklammerten die Tasse kalten Kaffee. Er saß schon seit Stunden. Er war von einem Alptraum geweckt worden, an den er sich nicht mehr so recht erinnern konnte. Er wusste nur noch, es hatte etwas mit ihr zu tun gehabt. Das war nicht schwer. Fast alles, was in seinem Kopf derzeit abspielte, hatte mit ihr zu tun. Danach war er gefühlte Stunden im Bett gelegen und hatte versucht wieder ein zu schlafen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Also war er noch in der Dunkelheit aufgestanden und hatte sich Kaffee gekocht. Aber auch der Kaffee wollte nicht schmecken oder richtig wirken. Also hatte er auch ihn aufgegeben. Er stellte die Tasse mit dem nutzlosen Gebräu auf den Tisch ab. Es war alles nutzlos!
Wenn er seine Augen schloss, sah er ihr Gesicht. Es war egal, ob es das Gesicht des überirdischen Wesens aus dem Theater war oder das verheulte Gesicht von nur ein paar Tagen zuvor. Er empfand sie alle als wunderschön. Er wollte sie berühren. Er wollte sie küssen. Er wollte sie in seine Wohnung entführen und sich ihr zu Füßen werfen. Er wollte sie anbeten. Aber er hatte kein Recht dazu. Sie gehörte jemand anderen. Er kaute an seiner offenen Lippe. Es machte ihn fertig, dass sie jemand anderen gehört. Er war fertig! Und er wusste nicht, wie er in der Früh seinen Chef unter die Augen treten sollte. Wenn er nur an ihn dachte, packte ihn die unglaubliche Wut. Er behandelte sie nicht gut genug und sie war ihm trotzdem verfallen. Wieso? Wieso? Seine geballte Faust schlug auf die Tischplatte ein. Der kalte Kaffee schwappte über den Tassenrand. Wieso?
Resignierend stand er auf. Es war inzwischen hell geworden. Er musste sich duschen und zur Arbeit. Dort wartete jede Menge Ablenkung auf ihn. Das war, was er jetzt brauchte: die Zusammenstellung aller Belege für die Dienstreise; die letzte Organisation des Dienstessens am nächsten Tag; Zusammenstellung der Unterlagen für die Sitzung am Nachmittag und so vieles mehr. Er musste sie vergessen. Er hatte gar keine andere Wahl. Er seufzte. Und er würde sie nicht wiedersehen. Wenn sie das nächste Mal anrief, würde er ihr nein sagen oder einfach nicht abheben. Wie schwer konnte das sein?

Er gähnte. Er war müde und wollte nur noch nachhause. Dort konnte er dann augenblicklich ins Bett fallen und über nichts mehr nachdenken. Das war seine neue Strategie. Er fuhr sich durch die Haare. Es begann zu nieseln. Das Wetter war so schlecht, wie er sich fühlte. Den Nachmittag hatte es gegossen. Am Abend war es dann besser geworden. Er öffnete seine Tasche um den Knirps hervor zu holen. Dann erinnerte er sich, dass er ihn im Restaurant liegen gelassen hatte. Kurz überlegte er, es sein zu lassen. Aber einen Neuen zu kaufen war mühsam und der Regen versprach stärker zu werden. Zumindest war er noch nicht weit gekommen. Er drehte um und lief los.
Als er beim Restaurant war, regnete es in Strömen. Er hechtete von Hauseingang zu Hauseingang. Nur wenige Meter davor geriet er ins Stocken. Sein Chef und Frau Papette von der Nachbarabteilung standen noch immer vorm Restauranteingang und redeten. Er mochte die Frau nicht sonderlich. Sie hatte sich während des Essens ständig in den Mittelpunkt gestellt und dann auch noch allen schöne Augen gemacht. Das war unprofessionell! Er fragte sich, was sein Chef noch mit ihr zu bereden hatte. Sie war nicht einmal in irgendeiner Weise wichtig. Selbst wenn sich sein Chef meistens großzügig gab, hatte er doch schnell begriffen, dass er sich seine Gesprächspartner zum Plaudern sehr bewusst aussuchte. Er tat nie irgendetwas, ohne dass er sich davon etwas versprach. Lenas Gesicht schoss wieder in seinen Kopf. Nutzte er sie auch nur aus? Sie war eine tolle Frau. Sie liebte ihn. Aber was war mit ihm. Liebte er sie? Er biss sich auf die Lippen. Es musste wohl so sein. Aber für den Moment wollte er lieber unfair sein und glauben, dass sein Chef ein gefühlloses Arschloch war. Er starrte auf das Paar. Er war so nah, dass er ihr schrilles Lachen hören konnte. Was sie redeten verstand er nicht. Er fragte sich, ob er noch näher herankommen könnte. Er rutschte von einem Fuß auf den anderen. Inzwischen war seine rechte Hälfte schon ordentlich durchnässt. Eigentlich wollte er nur seinen Schirm und dann ins Bett. Konnten die beiden nicht endlich gehen, so dass er ohne peinlichen Moment wieder zurück konnte? Standen die zwei nicht etwas zu nah an einander. Plötzlich bekam er ein ganz schlechtes Gefühl in seinem Magen. Alles zog sich zusammen. Ihm wurde schlecht. Im nächsten Moment, wie zur Bestätigung, dass alle seine schlechten Gedanken über seinen Chef in den letzten Tagen wahr waren, zog er Frau Papette an sich heran und küsste sie. Der Kuss dauerte eine Ewigkeit. Er war wie erstarrt vor Schock und vor Kälte. Danach hielten sich die beiden ein wenig an der Hand. Schließlich küssten sie sich noch mal. Was sollte das? Dann fuhr das Taxi vor. Im nächsten Moment waren sie verschwunden. Er stand noch immer da und fror. Was sollte er tun? Er dachte an Lena. Schließlich holte er sein Handy hervor und suchte die Nummer heraus: die verbotene Nummer. Er starrte sekundenlang auf das Display. Sie würde am Boden zerstört sein. Er sah sie wieder vor sich mit den vertränten Augen und den zittrigen Händen. Er ließ das Handy wieder in seine Tasche sinken. Das konnte er nicht machen.

„Was ist los, Paul?“ Er zuckte zusammen. Schuldbewusst blickte er auf. „Du hast Augen wie ein Uhu und bist schon den ganzen Vormittag schlecht gelaunt.“ Er schluckte. Seine Fingerspitzen begannen zu schwitzen vor lauter Nervosität und er kaute schon wieder an seinen Lippen. Eigentlich hätte er seinen Chef ansprechen wollen, aber irgendwie war nie wirklich Zeit gewesen. „Ich… ich wollte mit dir reden.“ „Ich hab eine Viertelstunde.“ „Was, jetzt?“ „Nein, in sieben Tagen! Was glaubst du?“ Natürlich jetzt! Er rieb sich seine Hände ab und folgte seinen Chef in sein Büro. Der ließ sich auf seinen Drehsessel sinken und wartete. Er hatte jetzt keine Chance mehr auszuweichen. Er musste es ausspucken. „Ich… ich habe dich gestern gesehen.“ Sein Chef zeigte keine Reaktion. Er musste doch kapieren um was es ging. „Ich habe meinen Schirm vergessen und bin noch einmal zurückgelaufen.“ Noch immer zeigte er keine Reaktion, kein Anzeichen von Schuld. „Ich finde das nicht richtig, Lena gegenüber finde ich das nicht richtig.“ Sein Chef nickte langsam. „Das ist eine private Angelegenheit“, erklärte er schließlich. „Und du hast doch immer darauf bestanden Privates und Berufliches zu trennen.“ War das alles? So ruhig konnte er sein. „Ihr habt euch geküsst und… und seit gemeinsam weggefahren und…“ Ihm fehlten die Worte. „Es tut mir leid. Ich habe dich in eine unangenehme Situation gebracht. Das habe ich vermeiden wollen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du noch einmal zurückkommst.“ Er entschuldigte sich bei ihm? Wie konnte er dabei auch noch so eine aalglatte Mine aufsetzen? Um ihn ging es hier doch gar nicht. Er plumpste auf den Besuchersessel. „Sie liebt dich so sehr. Noch vor einer Woche hat sie sich die Augen ausgeheult, weil sie dich so vermisst hat. Und jetzt tust du ihr so etwas an.“ „Ich denke nicht, dass das berufliche Umfeld ein Ort ist, wo wir über so etwas sprechen sollten.“ „Der Punkt ist doch, dass du es zu etwas beruflichen gemacht hast: du hast es doch nach dem Arbeitsessen mit einer Kollegin getrieben.“ „Der Punkt ist wohl eher, dass du dich in meine Frau verliebt hast.“ Sein Mund klappte auf und wieder zu. „Mir ist nicht entgangen, mit welchen Blicken du sie beobachtet hast.“ Scheiße! Wieso kam das jetzt auf einmal? „Du bist ein Schwein!“ Erschrocken fuhr er sich zum Mund. War ihm das wirklich gerade rausgerutscht? Sein Chef schmunzelte leicht. „So viele Emotionen! Das ist es, was sie aus einem macht. Am Anfang habe ich auch gedacht, ich muss ihr die Welt zu Füßen legen. Aber du kennst sie eigentlich gar nicht und du weißt nichts über unsere Beziehung.“ „Ich…“ Sein Chef hob mahnend den Zeigefinger und er schluckte den Rest des Satzes hinunter. Die Tür wurde hinter ihm geöffnet. „Die Besprechung…“ „Ich weiß, ich brauche nur ein paar Minuten.“ Wie konnte er noch immer so ruhig sein? Wie konnte er? Er war wirklich ein Schwein. Er kochte innerlich vor Wut. Wie sollte er für so einen Mann arbeiten? „Ich kündige!“ „Nein, das wirst du nicht tun“, erklärte das Schwein ruhig. Er hatte seinen Notizkalender geschnappt und blätterte darin. „Du kannst mich nicht davon abhalten.“ „Da hast du recht. Aber wenn du klug bist, solltest du auf mein Angebot eingehen.“ Er starrte. „Du nimmst dir die restliche Woche frei. Du hast sicher genug Überstunden für Zeitausgleich. Freitagabend habe ich Zeit. Da setzen wir uns irgendwo zusammen und reden noch mal darüber in Ruhe.“ „Wieso sollte ich das tun?“ „Wenn du nach Freitagabend noch immer gehen willst, lösen wir deinen Vertrag auf: keine Kündigungsfristen, keine Probleme mit der Arbeitslose. Wenn du jetzt kündigst, musst du mich noch über zwei Monate aushalten.“ Sein Chef blickte auf die Uhr. Er war ein Schwein. „Sagen wir um 19 Uhr. Du kannst den Ort bestimmen. Sag mir nur kurz vorher bescheid. In Ordnung?“ Aber er war das Schwein mit den besseren Argumenten. Er hasste ihn dafür. Er nickte trotzdem leicht. „Gut, ich muss zu meiner Besprechung.“ Richard kam aus dem Sessel hoch. Er schnappte sein Sakko und schlüpfte hinein, während er bereits halb aus der Tür draußen war. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, fühlte er sich wie der mieseste Verräter.

Als er die Treppe hochkam, stand sie bereits bei der Tür und strahlte ihn an. Der Anblick traf ihn wie einen Schlag. Er wollte das nicht tun, nicht wirklich. Aber irgendwie hatte er keine andere Wahl. Und er hasste Richard. Es war so unfair. Die Netten bekamen nie die hübschen Mädchen. „Paul, das ist eine Überraschung. Musst du nicht arbeiten?“ „Ich habe mir frei genommen. Zeitausgleich: ich habe so viele Überstunden. Ich störe nicht?“ „Nein, nein! Komm rein! Ich freu mich dich zu sehen.“ Sie gab ihm Küsse auf die Wange. Er war wie elektrisiert. „Ich muss mich noch einmal für das letzte Mal entschuldigen. Ich war völlig neben mir. Es war nicht nur… es ging mir einfach nicht so gut. Ich habe gerade Wasser für Tee aufgestellt. Du willst sicher auch einen. Darjeeling, ja? Ich hab es nicht vergessen.“ Er nickte artig. Konnte er das wirklich machen? Er atmete tief durch. Nicht er war der Schuldige hier, sondern dieses Schwein Richard. Sie hatte etwas Besseres verdient. Sie hatte etwas viel Besseres verdient.
Die Teetasse dampfte vor ihm. „Was führt dich hier her? Du hast gesagt, du willst reden.“ Sie lächelte. Etwas zog sich in ihm zusammen. „Es geht um Richard.“ Er nahm einen Schluck. Dann platzierte er die Tasse wieder ordentlich vor ihm auf den Tisch. Alles war hier so ordentlich, so wie es sein sollte. „Ich habe gestern beobachtet, wie er eine andere Frau geküsst hat.“ Lena blinzelte. „Willst du Zucker?“ „Hast du mich gerade nicht verstanden?“ „Doch! Willst du Zucker?“ „Nein!“ Ihr Blick senkte sich in ihre Tasse. „Ich glaube, ich will einen!“ Jetzt war sie hoch und fingerte die Zuckerdose aus einem Regal hervor. Dann warf sie einen Würfel in ihre Tasse und begann um zu rühren. „Lena, ich will dir nicht wehtun. Aber ich dachte, du solltest es wissen.“ Sie blickte zu ihm auf. „Aber ich weiß es doch!“ Das traf ihn wie einen Schlag. „Er… er hat es dir gesagt?“ „Nein, nicht direkt. Aber als Frau weiß man so etwas. Ich kenne Richard. Ich liebe ihn. Ich weiß, wenn er so etwas tut.“ Was sagte sie da? Wie konnte sie so ruhig bleiben? „Heißt das, er macht das … öfter?“ Sie schüttelte leicht den Kopf. Ihre Hände fuhren langsam aus, wie kleine Tentakel, und wickelten sich um seine. „Du bist so lieb zu mir Paul. Du hast dir sicher Sorgen gemacht.“ Das begann es noch gar nicht zu beschreiben. „Aber weißt du, die Liebe zwischen mir und Richard. Das ist nicht wirklich körperlich. Das ist so schwer zu beschreiben. Wir respektieren uns als Partner.“ „Das ist Bullshit! Liebe ist immer auch etwas Körperliches.“ Ihre Finger strichen über seinen Handrücken. Ihm war heiß und kalt zu gleich. Wie machte sie das nur mit ihm? „Nein, Paul, du verstehst nicht. Ich bin krank. Schon seit Wochen kann ich nicht… er braucht das…“ Er schüttelte den Kopf. Das war Wahnsinn! Wieso verteidigte sie ihn noch? „Ich könnte das nicht. Ich würde das nie tun. Für die Frau, die ich liebe…“ Das war nicht richtig. Abrupt stand er auf. Er kam sich plötzlich vor als hänge er in einem klebrigen Netz und bekomme keine Luft mehr. „Ich liebe ihn, Paul. Ich werde ihn immer lieben. Er ist mein Seelenspiegel, mein anderes ich.“ Sie ließ ihn los. Er kam hinter dem Tisch hervor. Die Tassen klirrten leicht. Seine Knie wurden weich. Ohne wirklich zu verstehen, was er tat, sank er auf die Knie. „Die Welt würde ich dir zu Füßen legen: alles! Verstehst du das? Du hast so viel besser verdient. Ich versteh nicht… ich versteh nicht, wie du ihn noch vertrauen kannst.“ „Paul, oh mein Gott, Paul!“ Sie sank zu ihm auf den Boden. Er wollte sie jetzt ergreifen, sie umarmen. Aber sie gehörte nicht ihm. Die Netten bekamen nie das Mädchen. So war es doch. „Ich würde alles tun für dich!“ „Ich liebe ihn, Paul!“ Das sagte alles. Irgendwie kam er hoch. Er flüchtete aus der Küche. Sie hockte noch immer da und starrte ihm hinterher. Das war das Ende. Sie hatten sich alles gesagt. Es war höchste Zeit für ihn zu gehen. Er brauchte frische Luft, um wieder zu atmen.

Lustlos blickte er die Stellenanzeigen durch. Richard hatte sein Wort gehalten. Sie hatten sich getroffen. Aber er hatte nichts mehr zu sagen gehabt. Es ging alles ganz schnell. Richard hatte gesagt, dass er es bedauere. Aber er meinte es nicht so. Davon war er überzeugt. Er bedauerte auch nichts. Er hatte das Gefühl, er war freier wie nie zuvor. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass er noch eine Woche blieb, um alles auf zu räumen. Danach trat er seinen Resturlaub an. Am Ende des Monats war der Spuck vorbei. Es kam ihn seltsam vor, nichts zu tun zu haben. In den ersten zwei Tagen hatte er zehn Bewerbungen ausgeschrieben. Aber jetzt fand er nicht mehr wirklich etwas, was ihm zusagte. Er fuhr sich durch die Haare. Dann strich er über seine Wange. Er hatte sich seit zwei Tagen nicht mehr rasiert. Das war nicht seine Art. Es juckte auch. Aber es war ihm egal. Er schloss seinen Laptopdeckel und stand auf. Es brachte im Moment ja doch nichts. Er streckte sich. Dann kontrollierte er die Uhrzeit. Es war schon zu spät für noch einen Kaffee. Er würde sich ein Essen warm machen und sich dann vor den Fernseher hinsetzen. Irgendein hirnloser Film würde schon laufen. Es war nichts so entspannend wie ein hirnloser Film. Er räumte das dreckige Geschirr vom Schreibtisch zusammen, den er jetzt auch zum Essen benutzte. Vielleicht sollte er die viele Freizeit nutzen, um seine Wohnung auf zu räumen. Er könnte irgendetwas umstellen. Die alten Regale hatten er schon seit Jahren und die Böden begangen durch zu hängen. Das störte ihn doch schon die längste Zeit. Jetzt hatte er keine Ausrede mehr. Morgen konnte er das angehen.
Die Türglocke läutete. Er runzelte die Stirn. War es einer seiner Nachbarn? Er hatte keine Freunde, die unangemeldet kamen. Er stellte den dampfenden Teller wieder zurück in die Mikrowelle. Dann trottete er zur Tür. Es läutete noch mal. „Ja ja!“, murmelte er. Seine Hände fummelten an dem Sicherheitsschloss und er zog die Tür auf. Mitten in der Bewegung erstarrte er. Ein Schauer lief über seinen Rücken. „Unten war offen!“ Er nickte. Er stand unter Schock. „Tut mir leid! Ich hätte anrufen sollen. Das war alles so plötzlich!“ Sie lächelte. Er zuckte zusammen und erwachte aus der Starre. „Nein, nein! Komm rein! Ich…“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Stattdessen griff er nach ihrer Tasche und zog sie in die Wohnung. „Es ist ein bisschen eng hier. Ich wollte aufräumen, jetzt, wo ich Zeit habe. Aber irgendwie bin ich noch nicht dazu gekommen.“ „Richard hat gesagt, was du getan hast.“ „Ich… ich… Willst du etwas essen? Hast du schon gegessen?“ Sie lächelte. Es war das schönste Lächeln, das es gab. „Ich glaube, ich habe ein wenig Hunger, wenn es nicht zu viele Umstände macht.“ „Es macht keine Umstände. Lass einfach alles einmal liegen und komm rein.“ Sie nickte leicht. Er ging vor in die Küche. Seine Wohnung kam ihm plötzlich so schäbig vor. Sie war besseres gewöhnt. „Es ist sehr gemütlich hier!“ „Du musst nicht extra nett sein.“ „Nein, es gefällt mir wirklich. Es ist heimelig.“ „Ich wohne schon seit Ewigkeiten hier und alles ist vollgestopft. Hier! Ich hab leider nur die eine Portion. Ich habe nicht mit Gästen gerechnet. Aber ich habe noch Kekse.“ Er hielt ihr eine Gabel hin. Sie kicherte leicht. „Das ist nicht ganz das, was du gewöhnt bist.“ Sie griff nach der Gabel. Ihre Hände berührten sich. „Nein, es ist perfekt.“ Sie aßen eine Weile in Schweigen. Nach nur wenigen Happen schob Lena den Teller zu ihm. Sie zog ihre Beine an und lehnte sich ein wenig zurück. Er wartete, dass sie etwas sagte. Schließlich räusperte er sich. „Wir haben beschlossen, dass es besser so ist“, begann sie, bevor er etwas sagen konnte. „Besser, wie?“ „Richard hat den ganzen Druck mit der Arbeit, die Reise nach China und so. Und ich habe eine schlechte Phase, hab ständig Stimmungsschwankungen und all das.“ Er starrte sie an. Sie begann den Ring an ihrem Finger zu drehen. „Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir probieren wie es ist, wenn wir uns eine Weile nicht sehen.“ „Ihr habt euch getrennt?“, fragte er vorsichtig nach. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich denke schon, ja!“ „Hat er dich rausgeschmissen?“ „Nein, so etwas würde er nie tun. Er hat angeboten im Hotel zu übernachten, bis ich etwas gefunden habe. Aber das wollte ich nicht. Es ist seine Wohnung.“ Er atmete tief durch. „Ich…“ „Es…“, begannen sie gleichzeitig. „Natürlich kannst du hier bleiben.“ „Du bist so nett, Paul!“ Er seufzte. „Ich weiß!“
Er lag im Bett und starrte auf die Decke. Seine Hände waren hinter seinem Kopf verschränkt. Er verstand das alles nicht. Sein Magen rumorte, weil er nicht genug zum Essen bekommen hatte. Er hatte ihr das Wohnzimmer überlassen und sich bald zurückgezogen. Noch einmal hatte er versucht nach Stellen zu suchen. Aber die Ausschreibungstexte hätten genauso gut auch auf Chinesisch sein können. Die Buchstaben waren über den Bildschirm gehüpft und er hatte gar nichts mehr gesehen. Jetzt lag er im Bett, aber war auch nicht richtig müde. Irgendwie war das alles verdreht und verkorkst. Die Tür wurde vorsichtig geöffnet. Er kam hoch. „Es tut mir leid! Schläfst du schon?“ Er schaltete die Nachtlampe ein und blinzelte. Sie hatte nur ein dünnes Nachthemd an und sah super sexy aus. Hatte Richard das jeden Tag zu Gesicht bekommen? Er schluckte. „Brauchst du noch etwas?“ Sie schwebte zu seinem Bett. „Mir ist ein wenig kalt.“ „Ich kann dir noch einen Überwurf geben.“ Sie griff nach seiner Hand. Ihre Finger waren eiskalt. „Paul, du liebst mich, oder? Das wolltest du mir damals doch sagen.“ Er schluckte, nickte aber dann. „Wieso schlaf ich dann am Sofa und du hier?“ Jetzt wurde ihm schlagartig heiß, kalte Finger hin oder her. „Ich dachte, du wolltest es so.“ „Nein, ich will es nicht so.“


© lerche


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