Ich erhielt einen Brief mit den Worten „Ich liebe dich!“. Natürlich war ich hocherfreut, denn so etwas kriegt man nicht alle Tage zu hören. Um meiner Freude Luft zu machen, zeigte ich den Brief einem Freund. „Von wem ist er?“, fragte dieser Freund neugierig. „Von einer alten Freundin, die ich sehr mag, aber schon Jahre nicht mehr gesehen habe“, antwortete ich wahrheitsgemäß und immer noch ein wenig aufgeregt. Der Freund schüttelte leicht den Kopf. „Ich würde da sehr aufpassen“, riet er mir, „mit solchen Frauen ist nicht zu spaßen. Erst melden sie sich Jahre lang gar nicht und dann kommt so ein Brief. Die führt etwas im Schilde, sag ich dir. Ich kenne solche Frauen. Am besten gar nicht darauf antworten. Zerreiß den Brief und lass ihn nie gewesen sein!“ Dann legte er väterlich seine Hand auf meine Schulter. „Vertrau meinem Rat und lass die Finger von dieser Frau. Oder wenn du mir nicht vertraust, dann suche bitte diese befreundete Psychologin auf. Die kennt sich aus und wird dir schon sagen, was von solchen Briefen zu halten ist“. Er überreichte mir eine Visitenkarte. „Sei bloß auf der Hut!“, mahnte er nochmals und überließ mich meinem Schicksal.

Konzentriert und andächtig begutachtete die Psychologin den Brief. Ich dachte schon etwas ungeduldig, wie lange sie denn noch braucht, um drei Wörter zu lesen, da hob sich ihr Blick und sie schaute mir mit einer teils verständnisvollen, teils mitleidigen Miene tief in die Augen. „Und sie sagen, diese Frau wäre eine Bekannte von damals?“ Sie fuhr fort, ohne meine Antwort abzuwarten. „ Aus meiner Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass Frauen dieser Art in den allermeisten Fällen unzurechnungsfähig sind“. Ein kurzes, wohl abermals verständnisvoll gemeintes Lächeln fuhr über ihre Lippen, dann beeilte sie sich, mir die Sachlage zu erklären. „Es gibt eigentlich nur zwei plausible Erklärungen für solch einen Brief. Entweder die Frau will Sie zum Narren halten oder sie hat ernsthafte psychische Probleme. Nicht auszuschließen ist natürlich auch, dass beides zutrifft. In diesem Fall wird sich die Angelegenheit höchstwahrscheinlich dahingehend entwickeln, dass Sie es mit einem Stalker zu tun haben.“ Den Satz beendete sie einmal mehr mit dem für sie so typischen Lächeln. Obgleich ich mit ihrer Antwort keinesfalls zufrieden war, hatte ich doch Bedenken, meine Skepsis zu äußern. Nichtsdestotrotz fasste ich mir ein Herz und ließ sie an einem Gedanken teilhaben, der mir schon die ganze Zeit im Kopf herumschwirrte. „Und was ist, wenn sie mich einfach nur liebt?“ Meine Finger begannen sich nervös in die Armlehne zu graben. Die Psychologin schaute kurz irritiert, dann aber wieder gewohnt verständnisvoll. „Das, mein lieber Herr, ist das Letzte, was diese Frau fühlt. Nie im Leben würde eine normale Frau so etwas schreiben. Eine normale Frau würde sich erklären. Sie würde den Kontakt behutsam aufbauen. Um dann den richtigen Zeitpunkt abzupassen, Ihnen gegenüber ihre Gefühle zu äußern. Diese Frau jedoch ist, gestatten Sie, dass ich das so sagen muss, krank.“ Ihr Lächeln wich einem nun wieder sehr konzentriertem Gesichtsausdruck. Kurz entschlossen nahm sie den Brief nochmals zur Hand und unterzog ihn einer zweiten, diesmal noch gründlicheren Inspektion. „Auch diese Schrift“, murmelte sie, mehr zu sich selbst, um mich dann mit fester Stimme wieder mit einzubeziehen: „Diese Schrift ist mehr als eigentümlich. Ich rate Ihnen sehr, diese von einem Graphologen untersuchen zu lassen. Der wird Ihnen sagen können, in welcher Verfassung die Frau diesen Brief geschrieben hat.“ Anschließend notierte Sie etwas auf einem Stück Papier, erhob sie von Ihrem Stuhl und überreichte mir lächelnd den Zettel. „Hier, rufen Sie diesen Mann an, der wird Ihnen gerne weiterhelfen!“ Dann führte sie mich zur Tür und gab mir die Hand: „Alles Gute wünsche ich Ihnen!“

Der Graphologe besaß ein gewaltiges Labor, vollgepackt mit allerlei Instrumenten, mithilfe derer sich selbst die krickeligste Handschrift entziffern ließ. Er begrüßte mich herzlich, gab mir aber auch gleich zu verstehen, dass er sich normalerweise eher mit „echten“ Kriminalfällen beschäftigen würde. Da er mich allerdings auch nicht gleich in Verlegenheit bringen wollte, fuhr er fort, mir zu versichern, vollstes Verständnis für meine Situation zu haben. Wohl um das zu bekräftigen, kam ein vielsagendes „Frauen, was?“ über seine Lippen. Dabei seufzte er, rollte leicht mit den Augen und puffte mir freundschaftlich in die Seite, was ich als überflüssig empfand und mir zudem etwas peinlich war. Dann verlangte er den Brief und zog sich damit für etwa eine halbe Stunde zurück. Als er wiederkam, hatte er etwas Triumphierendes in den Augen. Sofort begann er seine Ausführungen. „Die Schrift ist auffallend unförmig, woraus ich schließe, dass der Brief unter einer hohen mentalen Anspannung geschrieben wurde. Zudem ist die Tinte sehr ungleichmäßig verteilt, was wiederum darauf hindeutet, dass der Schreiber gezögert hat, die Worte niederzuschreiben. Wenn ich ehrlich bin, kenne ich diese eigentümliche Verteilung der Tinte sonst eher von Entführungsopfern, die in ihrer Gefangenschaft dazu gezwungen werden, einen Brief an ihre Familie zu schreiben. Ich gehe also davon aus, dass dieser Brief nicht freiwillig zustande gekommen ist. Ob ein innerer oder äußerer Zwang dazu geführt hat oder gar Gewalt im Spiel ist, das vermag ich natürlich nicht zu beurteilen“.
Zwar hatte ich mir von dem Treffen sowieso nicht viel versprochen, dennoch war ich an dieser Stelle enttäuscht, denn bis auf bloße Vermutungen enthielt sein Gutachten nichts, was den anfänglich triumphierenden Blick hätte rechtfertigen können. Als ob mir meine Enttäuschung anzusehen war, ergriff der Graphologe schnell wieder das Wort, wobei er mir dabei vorkam wie ein Kartenspieler, der unmittelbar davorstand, sein Ass auszuspielen. „Nebst der eigentümlichen Schrift habe ich allerdings noch etwas Anderes entdeckt. Sehen Sie die Stellen, an denen sich das Papier ganz leicht wellt? Das sind Feuchtigkeitsflecken, oder um genauer zu sein, getrocknete Tränen.“ Er legte eine kurze Pause ein, um sich zu vergewissern, dass die Botschaft auch angekommen war. Da meine Reaktion allerdings eher verhalten ausfiel, machte er sich schnell daran, das zweite Ass aus dem Ärmel zu ziehen. „Nun ist es natürlich nichts Besonderes, dass bei einem Brief mit solch emotionalem Inhalt Tränen fließen. Aber sehen Sie hier unten die Flecken? An diesen Stellen schlägt der Brief anderen Wellen als oben. Mir kam das verdächtig vor und ich habe daher auch diese Stellen untersucht. Statt Tränen haben wir es hier mit getrocknetem Wodka zu tun.“ Er schaute mich abermals erwartungsvoll an, doch noch immer war meine Reaktion wenig euphorisch. Also lag es an ihm, die Falle zuschnappen zu lassen. „Jetzt frage ich Sie, welche Frau trinkt beim Briefe schreiben Wodka? Und wer ist so dumm, den Wodka dann auch noch zu verschütten? Und dann die zittrige Handschrift. Mein Herr, ich leg mich fest, wir haben es hier mit einer Alkoholikerin zu tun!“ Ich nickte, allerdings wohl eher, um die Mühe zu würdigen, die er sich meinetwegen gemacht hatte. Da er jedoch mein Nicken als Zustimmung interpretierte und sich mittlerweile sowieso viel zu sehr in den Fall hineingesteigert hatte, als dass er mich jetzt einfach so hätte gehen lassen können, gab auch er mir eine Telefonnummer. „Dies ist die Nummer eines guten Bekannten, der eine anonyme Alkoholikergruppe leitet. Wenn Sie dem Ihren Fall erklären, dann weiß er sicherlich, mit was für einem Typ Mensch wir es zu tun haben“. Er wünschte mir noch „viel Erfolg“ und puffte mir zum Abschied ein letztes Mal in die Seite.

Mit dem gekrümmten Gang und der leicht fettigen Frisur hatte der Mann eher etwas von einem zu Therapierenden als von einem Therapeuten. Aber das musste natürlich nichts heißen, denn bekanntermaßen sind Betroffene nur allzu oft die besseren Ratgeber. „Frauen, die Wodka trinken, davon habe ich hier viele sitzen“, meinte er, nachdem ich ihn über die Vermutung des Graphologen in Kenntnis gesetzt hatte. „In den allermeisten Fällen sind zerrüttete Beziehungsverhältnisse die Ursache“, fuhr er fort, „häufig hat der Mann dabei die Frau betrogen, manchmal verhält es sich auch andersherum.“ Dann stockte er kurz, wohl um zu überlegen, wie weit er sich angesichts der ihm nun bekannten Indizien aus dem Fenster lehnen sollte. „Ich kann hier natürlich nur raten, aber meiner Meinung nach ist der Brief ein Hilfeschrei. Die Frau wurde möglicherweise verlassen, Familie und Freunde haben sich von ihr abgewandt und Sie sind der letzte Strohhalm, den sie nun verzweifelt zu greifen sucht“. Wieder nickte ich eifrig. „Der Brief“, fragte er, „Kokainspuren wurden nicht zufällig darauf gefunden?“ Ich verneinte und hatte dabei fast das Gefühl, jemanden enttäuschen zu müssen. „Nun, was kann ich Ihnen sagen?“, setzte er erneut an, „seien Sie auf jeden Fall vorsichtig, im besten Fall sucht die Frau lediglich jemanden, mit dem sie sich über das Geschehene hinwegtrösten kann, im schlimmsten Fall ist sie nicht nur psychisch am Ende, sondern auch pleite und hat es daher auf ihr Geld abgesehen. So oder so sind Sie nicht die Hilfe, die sie jetzt braucht. Wenn Sie also einen Rat von mir haben wollen, dann tun Sie gut daran, den Kontakt nicht zu vertiefen. Heute reichen Sie ihr den Finger und morgen ist der Arm weg. Geschichten solcher Art kann ich Ihnen viele erzählen und glauben Sie mir, nur die allerwenigsten gehen gut aus.“ Mit diesen Worten geleitete er mich nach draußen. „Ich hoffe, Sie treffen die richtige Entscheidung!“, rief er mir noch hinterher.

Wieder zu Hause fühlte ich mich dermaßen erschöpft, dass ich geradewegs meinen Lieblingssessel ansteuerte, um mich dort mit einem leichten Seufzen niederzulassen. Da ich jedoch viel zu aufgewühlt war, um stillzusitzen, war ich in der nächsten Sekunde schon wieder auf den Beinen. Nachdenklich zog ich meine Runden um den Wohnzimmertisch. Dann setzte ich mich wieder. Dann stand ich auch schon wieder. Und so ging das noch eine Weile hin und her, bis ich mich schließlich dazu durchrang, einen Antwortbrief zu verfassen. Nach zwei missglückten Anläufen war ich mit der finalen Version sehr zufrieden. Ich schrieb: „Ich bin nicht der, den du suchst. Ich bin auch nicht das, was du brauchst. Ich bitte dich daher, mir nicht mehr zu schreiben.“ Glücklich darüber, die treffenden Worte gefunden zu haben, lief ich gleich zur Post, um den Brief abzuschicken. Als ich wiederkam fiel mein Blick auf die geöffnete, halbleere Wodkaflasche, die ich wohl vergessen hatte, wegzustellen.


© Benni


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Beschreibung des Autors zu "Der Liebesbrief"

Eine Geschichte über die Liebe und wie man ihr mit Sicherheit entkommt.

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Kommentare zu "Der Liebesbrief"

Re: Der Liebesbrief

Autor: Magdalena Möller   Datum: 09.06.2013 14:07 Uhr

Kommentar: eine sehr schöne geschichte

Re: Der Liebesbrief

Autor: Benni   Datum: 10.06.2013 11:25 Uhr

Kommentar: Vielen Dank. So ein Lob ehrt mich von einer Frau, die erwiesenermaßen etwas vom Schreiben versteht, natürlich doppelt :-)

Re: Der Liebesbrief

Autor: Evia   Datum: 24.08.2015 9:14 Uhr

Kommentar: :-)

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