Der gefiederte Kobold


In der schlechten Zeit, Mitte der vierziger Jahre, schafften sich viele Leute Hühner an.
Die damaligen Legerassen waren die weißen Leghorn und die rebhuhnfarbigen Italiener.
Die Rassen Sussex und Rhodeländer wurden hauptsächlich als Glucken, zur Kükenaufzucht genommen,
Die Familie Weiß hatte schon Schafe und Gänse, jetzt sollten es noch Hühner sein.
Ostersonnabend brachte Mutter Weiß vom Bäckermeister Uhlmann neun Eintagsküken der Rasse rebhuhnfarbige Italiener mit.
Nachbar Wachenbrunner hatte schon vorher für die Familie Weiß ein kleines Kükenhaus gefertigt. Klaus Weiß, der Sohn, opferte seinen kleinen Pferdestall und Mutter Weiß stellte in denselbigen eine Zinkwärmflasche. Die Ecken des Ställchens wurden mit Papier ausgestopft, damit sich die Küken nicht erdrücken. Das Wasser in der Wärmflasche wurde alle zwei Stunden erneuert.
Zur damaligen Zeit wurde mehrmals am Tage der Strom abgeschaltet. Die Wärmflasche war die einzige Alternative, wenn man keine Glucke besaß. Das Kükenhaus stand in der Wohnküche der Familie Weiß. Man konnte stundenlang den munteren Küken zusehen. Sie sprangen durch die Fenster des kleinen Pferdestalles. Manchmal waren sie auch alle im Pferdestall verschwunden und saßen auf der warmen Wärmflasche.
Die neun Küken wuchsen ohne Schwierigkeiten heran. Es stellte sich heraus, dass es sieben Hennenküken und zwei Hähnchenküken waren.
Mutter Weiß schickte Klaus nun öfter in den Wald, dort musste er Ameisenpuppen sammeln. Ameisenpuppen waren die besten Leckerbissen für die Küken.
Nach 12 Wochen kamen die Jungtiere mit in den großen Auslauf zu den Gänsen.
Bei den jungen Italienerhähnen stellte sich heraus, dass der eine Junghahn den anderen Junghahn unterdrückte.
Der dominante Hahn erhielt von der Familie Weiß den Namen Ferdinand. Der Hahn hörte sehr schnell auf seinen Namen. Es bürgerte sich bei der Familie Weiß ein, dass man die Hühner zum Füttern nicht mit „ putt, putt“ sondern mit „ferdi, ferdi“ rief.
Die Junghühner liefen bei diesem Ruf, wie um ihr Leben, zur Futterstelle. Ferdinands Dominanz kam u, a. zum Ausdruck beim Krähen. Wenn der andere Hahn zu krähen versuchte, stürzte er sich auf seinen Rivalen. Er jagte ihn durch den ganzen Auslauf.In kurzer Zeit führte der andere Hahn, der nur „Hahn“ gerufen wurde, ein unscheinbares Leben. Er verhielt sich ängstlich und still. Er lebte nur auf, wenn Ferdinand nicht in seiner Nähe war.
Am Morgen, wenn die Hühnerstallklappe geöffnet wurde, rannte Ferdinand sofort hinter seiner Lieblingshenne her. Die wilde Jagd ging meistens durch den ganzen Hühnerauslauf, bis er sie „treten“ konnte. Nach diesem Akt schüttelte er sich einige Male und krähte danach. Seine Lieblingshenne hatte schon an Kopf eine kahle Stelle.
Ferdinand entwickelte sich jetzt auch zu einem „Wachhund.“ Dieses kam darin zum Ausdruck, dass er alle Familienmitglieder, bis auf Klaus, attackierte. Wachsam stand er an der Tür zum Hühnerauslauf, um jeden anzuspringen, der den Auslauf betreten wollte. Vater Weiß nahm immer den Reisigbesen in den Hühnerauslauf mit.
Diese Handlung hatte zur Folge, dass Ferdinand noch angriffslustiger wurde.


Klaus musste vorwiegend die Tiere versorgen, und er widmete Ferdinands Angriffsattacken keine so große Bedeutung zu.
Der Hahn hatte die Angewohnheit, einen anzuspringen und mit den Läufen zu schlagen. Natürlich war hacken dabei auch an der Tagesordnung.
Rechts von Weißes Grundstück befand sich eine Obststreuwiese mit alten Apfelbäumen. Dahinter war die Landgaststätte mit dem Namen „Waldesruh“. Die Hühner wechselten oft über die Wiese bis zur Gaststätte. Dort angekommen, suchten sie unter Tischen nach Speiseresten. Einige Gäste brachten bei ihren Ausflügen zur Gaststätte ihre Hunde mit. Sobald die beiden Hähne einen Hund erspähten, stürmten sie halb fliegend, halb rennend auf diesen zu. Sie schlugen mit ihren Läufen und hackten. Ihr gemeinsamer Überraschungsangriff schlug die Hunde in die Flucht, und ihre Besitzer in Rage.
Der Angriff der Hähne auf die junge Schäferhündin „Betty“ des Fleischermeisters Rhode brachte das Fass zum Überlaufen. Einerseits waren die Hühner für die Städter eine Attraktion, anderseits hatte der Gastwirt Hamann den Ärger mit den Hundebesitzern.
Gastwirt Hamann sagte der Familie Weiß unmissverständlich, dass er bei der nächsten Attacke der Hähne, diesen den Hals umdrehe.
Zu bemerken wäre noch, dass die Schäferhündin „Betty“, selbst unter Anwendung von Gewalt, sich nicht in die Nähe der Landgaststätte bringen ließ.
Ein anderes Phänomen war die Tatsache, dass Ferdinand den anderen Hahn, als gleichberechtigt, mitkämpfen ließ. Der Hahn machte auch manchmal Fremden gegenüber Droh- Gesten, ohne danach einen Angriff zu starten. Er nahm kleine Steinchen in seinen Schnabel und ließ diese fallen. Ferdinand scharte mit eingedrehten Flügeln auf der Stelle. Diese Zeremonie wiederholte er solange, bis jemand einige Krumen hinwarf. Er lockte dann immer seine Hennen herbei, und erst wenn diese da waren, begann er zu fressen.
Ferdinand wurde sehr alt, und er bekam bei der Familie Weiß sein „Gnadenbrot“.
Er wurde zum Spielzeug für die Enkelkinder. Der Hahn ließ von den Enkelkindern überall geduldig hintragen. Die kleine Sophie setzte ihn immer in ihren Puppenwagen. Er sprang dann immer auf den Rand des Wagens. Dort blieb er dann sitzen und ließ sich herum fahren.
Es war ein schöner Maientag. Die Sonne schien, und die Obstbäume blühten. Klaus wollte, wie an jedem Tag, die Stalltür öffnen als er Ferdinand drinnen tot liegen sah.
Die Traurigkeit über den Tod des Hahnes ergriff alle.
Der Hahn bekam sein Grab unter einen Kirschbaum. Frau Weiß stellte ein Einweckglas auf das Grab und die Enkelkinder pflückten immer frische Wiesenblumen, die sie in das Glas steckten.
Den Winter über bekam das Grab eine Decke aus Fichtenzweigen.

Ferdinand blieb bei allen in guter Erinnerung!


© Jürgen


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