Die Erinnerung


Die Nacht ist gräulich-gelb. Es riecht nach Furcht. Die Lichter fast gänzlich erloschen. Ein Summen des Motors zieht vorbei, es schallt über das ganze Quartier.

Nur noch ein paar Schritte bis zur Tür. Ich berühre die Türklinke, meine Finger zittern wie ein Vogel in Laubennest. Die Freude lässt die Kraft in meinen Fingerkuppen neu erwecken. Leise öffne ich die Haustür, danach die Kellertür, da umhüllt mich ein Geruch von gestandenem Wasser und fauler Erde. Ich atme tief ein und versuche ihn so zu kontrollieren, damit dieser Gestank nicht in meine Nase sticht. Mit den Händen taste ich in der Luft um den Lichtschalter zu finden. Links etwa in der Mitte müsste er sein – es ist so lange her. Inzwischen wirkt die eingeatmete Luft etwas leichter. Die Eingangstür ist ein gutes Ventil.

Endlich! Durch das fahle Leuchten der Glühbirne erkenne ich die Stufen nach unten. Die weissen Wände sind verschmutzt. Zig-Mal haben sich hier Hände abgestützt – staubige, voll mit Erde oder mit Schmieröl. Nie wurde dieser Teil des Hauses erneuert.

Mein Herz pocht. Langsam steige ich die Stufen hinab. Unten angekommen, stockt mein Atem. Die Hand vor der Nase kann nichts bewirken. Ein Luftstrahl verhockt, ein widerwertiger Geruch der Zersetzung kommt von meiner rechten Seite herüber. Diese Ecke ist pechschwarz. Es ist, wie wenn hier die Vergessenheit dem Tod nahe ist.

Ich kneife meine Augen, um die Konturen der in der Tiefe aufgestapelten Schachteln zu erkennen. Es sind einige. In diesem tiefen Teil des Kellers sind meine Schätze der Kindheit lieblos entsorgt worden. Die Kartons sind nicht mehr stabil, die Papierschichten sind aufgebläht. Die Feuchtigkeit an den Wänden fliesst in rieselnden Tröpfchen in den offenen Boden – dazwischen die Kartonschachteln. Die Ecken sind ineinander schräg verkeilt.

Es riecht alt und modrig. Ich stutze. Meine Nervosität steigt. Ich lange meinen Arm in den ersten Karton hinein. Links – rechts, da ertaste ich Bücher, Zeitschriften, DVD’s. Meine Bewegungen werden schneller und unruhiger. Tiefer in diesem Winkel greife ich in die nächste Schachtel. Links – rechts, nichts. Die dritte Schachtel ist in einen
winzigen Spalt gekippt. Ich rücke sie tastend zurecht – lange hinein. Ich ziehe sie heraus. Die Hand fühlt sich unangenehm benetzt an. Dann zuoberst! Ich spüre einen Geramikkopf mit Haaren. Das ist es. Das habe ich gesucht. Ich ziehe meine Vergangenheit hervor – trete ein paar Schritte zurück.

Meine Porzellanpuppe war noch da und fühlte sich unversehrt an. Im schummrigen Licht entdecke ich, Ihr Kleid ist voller verfaulten Stellen, der Stoff zerknittert und feucht. Die Fäulnis verschmilzt mit der Luft des Raumes. Sie ist mit der Zeit verwest, ohne jeglichen Schutz.

Meine vermoderte Kindheitserinnerung halte ich in der Hand. Nach all diesen Jahren der Bemühungen die kindliche Sonne im Herzen beizubehalten, wäre die Puppe ein Zeugnis dafür gewesen. Tief in mir weint etwas. Nichts mehr kann das Relikt der Vergangenheit retten. Mit gesenktem Kopf lege ich sie auf die erste Stufe des Ausgangs, lasse sie liegen und meine Gedanken an meine Kindheit dazu.

Das Tageslicht der Morgenstunden inzwischen im Hausflur, erhellt meinen Weg nach oben. Von weitem höre ich mein Handy klingeln. Die Stufen werden kürzer und ich atemlos. Im 3. Stock angekommen eile ich ins Zimmer. Da, das Handy lag auf dem Bett neben dem ausgepackten Koffer und meiner gegenwärtigen Lektüre: „Toxische Beziehungen“.


© Adamantia Xekalakis


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