Hinter mir eine Spur von Blut. Mein Blut. Oftmals hat man auch mich eingestochen. Immer und immer wieder. Ein halbes Jahr lang. Und doch sterbe ich nicht. Die Stiche sind nicht tief. Manche lang und kaum mehr als ein Kratzer, andere klein und fast schon punktförmig. Blutrote Symbole zieren meinen Körper an den Stellen, an denen das Messer meine Haut zerschnitten hat. Auf meinem Rücken ein Kreuz, vom Steißbein bis zum Nacken, von der linken bis zur rechten Schulter. Auf dem Bauch habe ich Pentagramme und Pyramiden und andere Zeichen, die ich nicht erkennen kann. Runde, eckige, längliche, kurze, aber vor allem blutige Zeichen. Über meinen Augen eine Krone, an meinen Beinen züngeln Flamen empor. Über dem Rauch des verbrennenden Holzes kreisen zwei Tauben. Man könnte meinen das meisterhafte Werk Meisterwerk eines grandiosen Künstlers. Doch das ist es nicht. Es ist vielmehr das schaurige Werk eines kranken Menschen. So bezeichnet er sich selbst.
Kraft fließt aus dem Körper. Mit jedem Tropfen Blut den ich verlieren werde ich schwächer, verliere ich mehr die Kontrolle, verschanze ich meinen Geist mehr. Die Schnitte sind dünn, oberflächlich, fast schon zärtlich, liebevoll wurden sie in die Haut geritzt. Doch der rote Strom will nicht versiegen, quillt weiter aus mir heraus, drängt an die stinkende Luft und verpestet sie noch mehr. Habe ich noch die Kraft weiter zu machen? Die Kraft genug Blut zu regenerieren? Die Kraft weiterhin aufrecht durch die Welt zu gehen? Die Kraft zu leben?
Ich laufe weiter. Kann nicht anhalten. Die Zeit hält ja auch nicht an. Um die nächste Ecke zum nächsten Haus und wieder weiter. Nasse Pflastersteine sind rutschig. Da vorne ein Park. Da geht es mir besser. Hoffentlich. Und doch geht es weiter. Laufe ich davon? Aber vor was? Vor dem Mann mit dem Messer? Nein. Nicht vor ihm, denn er ist es der weggelaufen ist. Fliehe ich vor mir selbst? Meinen Wunden? Warum kann ich nicht anhalten? Die Zeit kann es auch nicht.
Die Wunden werden nicht verschließen, denn das Gift der Klinge ist stark und hinterhältig. Ich spüre, wie das But aus mir heraus sprudelt, hellroter Rinnsal wird zu rubinrotem Fluss. Die letzte Wunde bekam ich vor drei Wochen. Und doch. Ich habe eine Grenze erreicht. Einen Punkt an dem es nichtmehr tiefer geht. Eine Senke. Oder eine Ebene. Eine Senke mit nur einem Anstieg hinter mir. Ich kann jedoch nicht zurück. Rückwärts kann man in der Zeit nicht reisen.
Ich merke wie sich meine Regeneration verstärkt. Wie ich nichtmehr schwächer werde. Wie mein ich in gleichem Maße Energie regeneriere wie sie aus mir herausströmt. Schwächer werde ich nichtmehr. Stärker werde ich auch nicht.
In mir ist genug Energie zum Überleben. Überleben. Nicht leben. Den roten Fluss kann ich verstecken. Mein Rücken bekomme ich gerade hin. Ein normales Leben zu führen kann ich schaffen. Zumindest werden es die anderen Denken. Menschen sind so leicht zu blenden. Lächle und sie halten dich für glücklich. Nichtmerkend, dass du nur nichtmehr weinen kannst. Darauf kommt es doch an. Oder?
Doch wer hat mir das angetan? Wer ist der Mann mit dem Messer? Es kann nur ein Mensch gewesen sein. Nur einem habe ich mich so stark anvertraut. Dieser eine ist der Bruder, den ich mir immer gewünscht hatte, den ich mir ausgesucht habe. Sein Gift heißt Vertrauen, sein Messer ist der Verrat.
Und so werde ich weiter ziehen. Den blutroten Fluss verstecken, mein Rücken gerade biegend. Lächelnd die Welt blenden. Damit ich ein normales Leben habe. Nicht auffalle. Damit keine Fragen kommen was denn mit mir los sein. Damit ich mich niemand mehr anvertrauen muss. Damit ich niemandem mehr vertrauen muss. Denn das kann ich nicht.


© Krähennest


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Beschreibung des Autors zu "Blutspur"

In übertragener Form ist dies eine halbjährige Leidensgeschichte. In der Realität hat sich jedoch keinerlei körperliche Gewalt zugetragen.

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