Herbert fühlte den Sand zwischen seinen Zehen hervorquellen, spürte die Nässe des Meeres auf dem Gesicht. Er lauschte dem Rauschen des Atlantiks. Eine Möwe flog vor ihm auf, stieß einen schrillen Ruf aus. Der Ruf wurde von dem Getöse der brechenden Wogen verschluckt.
In Herberts Bewusstsein formte sich das monotone Rauschen der brandenden Wellen zu einem Mantra. Sein schweifender Blick fiel auf ein paar Fußspuren, die vor ihm den Strand entlangwanderten. Ohne darüber nachzudenken, begann er in die Fußspuren zu steigen, folgte ihnen, eins, zwei, drei ..... Das Mantra des Meeres fraß sich tiefer in sein Bewusstsein, ließ die Umgebung um ihn verschwimmen. Es kam ihm auf einmal vor, als ob er eine Treppe hinunterging, immer tiefer .... vier, fünf, sechs, sieben Stufen...

Plötzlich steht er vor einer Tür mit einem kleinen Fenster, welches verdunkelt ist. Darin spiegelt sich sein Gesicht, doch es ist nicht das Gesicht, das er kennt. Die Haare in Herberts Nacken stellen sich auf, ein Schauer rast durch seinen Körper. Ein Schrei will sich aus seinem Mund lösen, doch seine Zunge ist vor Schreck erstarrt. „Bin ich am Verrücktwerden?“ Der Gedanke formt sich nur halb, verschwimmt wieder, so wie der Versuch, das Übergehen in einen Traum bewusst aufzuhalten, es geht nicht! Er sinkt ganz hinüber.
Gefühle sind da, die Gefühle flüstern von Aufregung, Angst und Hoffnung. „Warum, verdammt noch mal, habe ich es getan? Wird sie mir vergeben?“ Unschlüssig steht er vor der Tür, die Hand setzt zum Klopfen an, macht in der Luft halt. Er holt tief Atem, kalte Luft strömt in die Lunge, das Herz pocht immer mehr. „Noch kann ich schnell davonrennen, noch kann ich es einfach abhaken, Sonja für immer vergessen …“ Er nimmt allen Mut zusammen und klopft an. Stille. Sekunden scheinen sich in Minuten zu verwandeln. Endlich Schritte, ein Schlüssel knarrt im Schloss, die Tür geht auf. Zwei wunderschöne Augen sehen ihn an. Sonjas Lippen öffnen sich: „Hallo, Rudolf, komm rein, lass uns reden“. Er will ihre Hand greifen, will sie nah bei sich spüren, doch sie hat sich schon umgedreht und läuft vor ihm den Gang entlang. Als er das Esszimmer erreicht, sitzt sie schon am Tisch. „Wie viele schöne Abende haben wir hier zusammen verbracht. Was nun?“ Schießt es ihm durch den Kopf, als er sich setzt und Sonjas Hand ergreift. Sie zieht die Hand nicht weg, sieht ihn aber fragend an.
„Sonja, es tut mir so leid, das mit Lise, ich weiß nicht, was in mich gefahren war. Kannst du mir vergeben, können wir noch mal von vorn anfangen? Können wir nicht meinen Seitensprung aus unserem Leben streichen und es noch mal versuchen? Bitte vergib mir.“ Eine Träne tritt aus seinem Auge und bahnt sich ihren Weg die Wange hinunter; er wischt sie mit der freien Hand weg und sieht Sonja fragend an. „Bitte!“
Sonjas Blick verlässt seine Augen und wandert auf den Tisch vor ihr. „Natürlich kann ich dir vergeben. Warum auch nicht?“
Sein Herz springt ihm fast aus der Brust, alles ist in Ordnung, sie vergibt mir! Ein Lächeln übernimmt sein Gesicht. Er will aufstehen, um Sonja in die Arme zu schließen, doch ihre Hand hält ihn irgendwie auf dem Stuhl.
Dann lässt sie seine Hand los und zieht sich langsam den Verlobungsring vom Finger, legt ihn auf den Tisch und sieht ihm in die Augen: „Ich vergebe dir, es würde mir nichts bringen, dir nicht zu vergeben, doch heiraten kann ich dich nicht.“

Weißer Schaum flog durch die Luft, als sich eine Welle krachend an einem Felsen brach.
Durch den Knall wurde Herbert wieder ins Hier und Jetzt gezogen. Eine leichte Brise strich über sein Gesicht. Er fühlte die Tränen, die ihm die Wangen hinunterrannen, konnte sie nicht aufhalten.
Das eben Erlebte schien Jahre zurückzuliegen, verblichen wie ein altes Foto, das lange in der Sonne gehangen hat. Trotzdem war es lebendiger in ihm als alles andere, was er in letzter Zeit erlebt hatte.
Sein Blick erfasste die Spuren, in welchen er gelaufen war. Waren es Rudolfs Spuren? Wer war Rudolf? Gab es so etwas wie ein früheres Leben?
Herbert wollte das Erlebte greifen, erklären. Doch auf einmal wusste er, dass der nüchterne Verstand, wenn es um Erkenntnis ging, nichts anderes war als ein gehbehinderte Opa, der meinte, es mit dem Ich seiner Jugend in einem 100m Lauf aufnehmen zu könnten.
Herbert verstand nun auch die indianische Weisheit: „Du solltest über niemanden urteilen, wenn du nicht eine Meile in seinen Mokassins gelaufen bist.“
Er hatte Rudolfs Seitensprung als seinen erlebt, gefühlt, hatte Sonja betrogen, genauso wie Manuela ihn vor Jahren betrogen hatte. Wie Sonja hatte auch er damals die Verlobung abgebrochen. Hatte er dadurch sein Glück gefunden? Er war zweimal verheiratet und wieder geschieden, immer hatte er nach ihr gesucht, doch nie wieder hatte er eine wie Manuela gefunden.
Jetzt konnte er Manuela, Rudolf, Sonja, seine eigene damalige Reaktion, alles konnte er verstehen.
Herbert wischte sich die Tränen von den Wangen, schaute aufs endlose Meer hinaus.
Eins hat er heute wiedergefunden, sein Herz, seine Emotionen waren auf einmal frei. Endlich verstand er, dass Vergeben nichts mit dem Verstand zu tun hat, dass wirkliches Vergeben nur aus dem Herzen kommen kann, aus der Gefühlswelt. Leise flüsterte er: „Ich vergebe dir, Manuela, und noch viel wichtiger, ich vergebe mir selbst dafür, dass ich so viele Jahre meines Lebens vergeudet habe, weil ich dir nicht wirklich vergeben hatte.“
Er stand von dem Felsen auf, wischte sich eine letzte Träne aus dem Gesicht und wanderte mit leichtem Schritt seiner Zukunft entgegen.


© Heiko Denker


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