Die Schulzeit jedes Kindes sollte eine Zeit sein, in der es die ersten festen Freundschaften knüpft, mit Begeisterung Lesen und Schreiben lernt, was es bis zu seinem Tod brauchen wird. Eine Zeit, die aus Freude besteht, aus Lust daran, etwas zu erfahren, lauter Dinge zu entdecken, die Welt in vielen Facetten kennenzulernen und zu verstehen – und dies gemeinsam mit 15 anderen Kindern, einer kleinen gemeinschaftlichen Gruppe, die zusammenhält.
Doch für mich war es das nicht. Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, umgibt mich eine graue Hülle aus Angst und Alleinsein.


Die Astrid - Lindgren - Grundschule in unserem Nachbarort Osthausen. Es war eine kleine Klasse und wir waren 5 Mädchen. Ich hatte eine einzige Freundin, ob sie eine wahre Freundin war, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Ich war ein Kind und sie war die Person, zu der ich mich irgendwie hingezogen fühlte, mit der ich am meisten redete. Lucie, Paula, Alina, Celine und ich. Ich weiß nicht, wieso oder wann es anfing, aber vor allem Lucie und Celine sagten mir des Öfteren, dass ich so dünn sei, zu dünn und mehr essen soll. Sie sagten mir, sie machten sich Sorgen, dass ich sterbe, wenn ich nicht dicker werde. Sie fragten mich, ob ich magersüchtig bin und was ich alles essen würde. Wenn ich ihnen erzählte, was ich alles aß, sagten sie, dass man davon nicht satt werden würde. Ich fragte meine Mutter, ob ich genug aß und was ich antworten soll, wenn die Mädchen wieder etwas sagten.
Wir hatten dreimal in der Woche Sport und sollten uns in einer kleinen Rumpelkammer neben dem Klassenraum umziehen. Jedes Mal schauten sie mich sorgenvoll und leicht angewidert an und sagten „du bist so dünn“, „du musst mal mehr essen“ „das ist nicht gesund, wenn man so dünn ist und das sieht auch nicht schön aus“. Jedes einzelne Mal sagten sie das. Vier Jahre lang.

Dann kam die Regelschule und es fing richtig übel an, als Lucie einen Ausschnitt meines Tagebuches gelesen hatte, in welchem ich über Verenice - ein Mädchen aus der Klasse - vieles erzählte. Sie ging zu Verenice und erzählte ihr alles, was ich über sie geschrieben hatte. An vielen Morgenden unterhielt sich Lucie mit mir über Verenice, machte sie schlecht und sagte mir, mit welchen Schimpfwörtern ich sie bezeichnen könnte. So sprach ich diese Worte aus und Lucie ging erneut zu Verenice und erzählte ihr, wie ich sie genannt hatte.
Daraufhin ging Verenice mit allen Mädchen aus der Klasse auf mich los, fragte mich, was das sollte und machte mich komplett runter. Sie schlossen mich aus, und auch nachdem ich mehrfach ruhig versuchen wollte, zu erklären, warum ich diese Sachen geschrieben hatte, machte sie sich nur lustig darüber.
Alle Mädchen in der Klasse redeten über Verenice, weil sie allen auf die Nerven ging. Alle sagten das gleiche und ich war nun die Person, die von allen als blöde Kuh und die schlimme Außenseiterin angesehen wurde.
Ein paar Tage ging es so, alle schrieben mir Zettel, wo etwas Schlechtes über mich draufstand, steckten meine Federmappe in den Müll oder jemand zog mir den Stuhl unter dem Hintern weg, als ich mich setzen wollte. Sie stellten sich in einen Kreis, tuschelten und schauten grinsend in meine Richtung. Dann kamen sie zu mir, sagten mir, wie scheiße meine Klamotten aussehen würden, wie hässlich meine Zahnlücke sei und machten mir ein schlechtes Gewissen darüber, dass meine Mutter nur billige Sachen aus dem Kick kaufen würde, meine Eltern ein schlechtes Einkommen hätten, warum ich ein altes Tastenhandy hätte und vieles mehr. Fragen, auf welche es keine richtige Antwort geben konnte, weil auf jede meiner Antworten eine Reaktion aus Belächeln und erneutem Pöbeln kam. Ich sprach etwas aus, alle verdrehten die Augen, als ob das was ich erzählte so wertlos und unsinnig wäre, dass es ein guter Felsen dafür war, gegen welchen wieder neue Wellen der Peinigung prallen konnten. Dann gingen sie wieder und ich wartete sehnsüchtig, dass die Hofpause vorbei ging.
Irgendwann kam Verenice wieder zu mir und fragte mich erneut, warum ich diese Dinge über sie geschrieben hätte. Ich erklärte ihr, dass ich viele Ereignisse unfair fand, wie sie da mit anderen Mitschülern und mir gehandelt hatte und ich deshalb wütend war. Auch entschuldigte ich mich bei ihr, dass ich die Schimpfwörter gesagt hatte und erklärte ihr aber, dass ich mit ihr einfach nicht gut klarkäme und wir deshalb Abstand halten könnten. Sie belächelte es wieder nur, und sorgte dafür, dass auch die anderen es belächelten.
Da fing es erst richtig an…

Jeden Morgen ging ich zur Schule, meist mit Lucie, wir unterhielten uns und sobald wir im Klassenraum ankamen, wich sie von mir, schloss sich den anderen an und pöbelte gegen mich. Ich setzte mich an meinen Platz, packte die Schulsachen aus und blieb starr sitzen, guckte auf den Tisch und wartete auf den Beginn der Stunde. Die anderen Mädchen kamen, beleidigten mich, schmissen im Vorbeigehen meine Sachen herunter oder zogen mir an den Haaren. Ebenso wurden mir Kommentare an den Kopf geworfen, wie denn meine Haare aussehen würden, dass mein Pullover kindisch sei oder andere Dinge.
Die Stunde verging. In der Fünf Minuten Pause kam wieder jemand, rempelte mich von hinten an oder rief nach mir und ich sollte herkommen, um bestimmte Fragen zu beantworten. Manchmal lachten sie und schickten mich direkt wieder zurück und fragten, warum ich überhaupt gekommen sei, aber oft machten sie Bemerkungen über Dinge die ich tat, dass das komisch sei und machten Bewegungen übertrieben nach, die sie bei mir beobachtet hätten.
In den Schulstunden war es gerade noch erträglich, doch am schlimmsten waren die großen Pausen. Kaum ging der Gong, strömten alle raus, ich ging als letztes, versteckte mich auf der Toilette, aß dort mein Brot, solange, bis die Schüleraufsicht mich auf den Hof verpfiff. Dann trödelte ich ein wenig, um ein paar Minuten zu gewinnen, bis ich draußen war. So wie ich draußen war, kamen vereinzelt Mädchen aus meiner Klasse und nahmen mich mit in den Kreis, wo die anderen standen, dann sollte ich mich vor jemanden stellen, die Person schubste mich dann zu einer anderen und so ging es reihum. Jeder, zum dem ich fiel, sagte „iiih“ oder etwas anderes. Zum Schluss wurde ich mit einem angeekelten Blick angeschaut und eine Bemerkung gemacht, dass mein Schuh offen sei, meine Mütze blöd aussieht oder etwas anderes.
Die Mittagspause verlief meist so, dass ich mit den anderen aß und sich einer darüber lustig machte, wie ich essen würde. Die Regel war, dass der letzte den Tisch abwischt. Also habe ich meistens nicht aufgegessen, um nicht als letzter draußen zu sein. Dann haben mich die anderen zur Rede gestellt, dass ich absichtlich nicht aufesse, weil ich nicht abwischen will. Ab diesem Tag blieb ich immer sitzen, als letztes. Oft saß ich aber auch allein oder mit anderen Schülern an einem Tisch und sie gingen vorbei, lachten oder machten Bemerkungen.
Am Nachmittag stellten alle ihre Rucksäcke an die Hauswand, also stellte ich auch meinen dort hin. Wenn ich manchmal aufs Klo ging und wieder zurückkam, standen die anderen an meinem Rucksack und holten etwas heraus, spielten damit vor mir herum und wenn ich es wieder haben wollte, rannten sie damit vor mir weg. Es wurde von einem zum anderen geworfen, ohne dass ich es bekam. Irgendwann schmissen sie es mir vor die Füße und gingen dann. An manchen Tagen kamen sie und meinten, dass sie etwas versteckt haben, und ich es suchen sollte. Aber es hatte jemand in seiner Hand und dann lachten sie mich aus. Sie nahmen meine Zahnspangen-Dose und rannten damit weg.
Vor dem Sportunterricht in der Umkleidekabine, dies war mit deiner der schlimmsten Zeitpunkte. Alle zogen sich aus und mir wurde jedes Mal gesagt, dass ich so dünn sei, dass es eklig ist, ich wurde ausgefragt wie viel ich esse und das dies weder gesund noch schön ist. Voller Scham ging ich in die Turnhalle. Die Stunde verlief meist aushaltbar, ich lief für mich allein, mit geduckter Haltung, ich wünschte mir immer, einfach unsichtbar zu werden. Trotzdem kamen auch hier wieder Kommentare zu meinem Körper oder meinen Bewegungen.
Nach der Sportstunde wurde über meine Klamotten gelästert, warum ich den gleichen Schlüpfer wie letzte Woche Dienstag anhätte, dass ich stinken würde, ich eklig wäre und so weiter. Alle gingen raus. Ich ging als letztes. Im Klassenraum angekommen, setzte ich mich hin, aß etwas, oder eher gesagt, ich zwang es mir rein, während ich steif auf meinem Stuhl kauerte. Jeder Bissen war wie ein trockenes, hartes Stück Brot, das bitter in meinem Mund zerkaut wurde und wie ein harter Kloß in den Hals runterging. Ich aß, geduckt und mit dem Blick auf den Tisch, ich aß nur, damit ich etwas in den Händen hatte, etwas machte. Dieses dasitzen und essen, das fühlte sich wie eine Qual an, als hätte jeden Moment alles explodieren können.
Ich packte meine Sachen aus, ganz schnell und mit zittrigen Händen, immer in dieser geduckten Haltung. Ich achtete extrem auf jede einzelne Bewegung, dass nichts komisch aussah, ich atmete gedrückt, ich glaube manchmal hatte ich Angst, einfach keine Luft mehr zu bekommen.

Als der Schultag zu Ende war und ich Zuhause ankam, zog ich mich in mein Rollenspiel zurück: ich hatte zwei Puppen, um die ich mich kümmerte als wären es menschliche Babys. Ich unterhielt mich mit meinen Eltern, stundenlang fragte ich sie welche Antwort ich auf eventuelle Fragen geben soll, die mir die Mädchen in der Klasse stellen könnten.
Wir vereinbarten, dass ich mich in der Hofpause nahe der Aufsicht aufhalten soll, damit die Mädchen sich nicht trauen, an mich heranzukommen.
Doch ich hatte meist so viel Angst, dass ich mich dann der Pausenaufsicht direkt gegenüberstellte und sie über alle möglichen Dinge befragte, damit sie möglichst lang mit mir redete. Ich fragte sie, ob sie eine eigene Klasse hätte, ob sie selbst Kinder hat, welche Fächer sie an der Schule eventuell noch unterrichten will und viele andere Dinge die mir noch einfielen. Doch das funktionierte meist nur etwa 6 Minuten, und spätestens dann sagte sie mir, ich solle doch nochmal spielen gehen. So ging ich ein paar Meter weg von ihr und blieb in dem gewissen „Schutzradius“ stehen. Es dauerte meist nicht lange, da kamen sie vereinzelt. Erst Marie und Verenice, die mich fragten, was für Schuhe ich tragen würde. Warum ich so eine komische Mütze auf dem Kopf trage und andere Sachen. Es folgten Lucie, Nadine, Paula und Maria. Entweder sollte ich eine Aufgabe erfüllen, mich mit geschlossenen Augen in die Mitte stellen und danach wurde mir die Mütze vom Kopf gerissen, oder ich wurde hin und her geschubst. Manchmal wurde etwas anderes genommen und über der Mülltonne gehalten und wenn ich die Frage nicht beantworten wollte, die mir gestellt wurde, drohten sie damit, es wegzuschmeißen.

Irgendwann änderte Frau Hartmann die Tischordnung, ich saß jetzt an einem Vierertisch mit Maria, Lucie und Tom. Ständig gab Lucie Kommentare über mich ab, erzählte sie Tom oder Maria. Dabei guckte ich stumm auf meinen Platz oder drehte den Kopf woanders hin. Sie sagte etwas Schlechtes über mein Bild, was ich im Kunstunterricht malte oder sie spottete über mein Frühstück.
An einem Nachmittag saßen die Mädels zusammen und schrieben ein dutzend Papierzettel, die sie mir alle auf den Tisch legten. Ohne sie zu lesen steckte ich die Zettel in den Rucksack und setzte mich auf meinen Platz. Zuhause schüttete ich alle Zettel aus dem Rucksack. „H2o ist scheiße“ stand auf einem. H2o war meine Lieblingsserie. „du hast Verenice und Maria beleidigt, deshalb beleidigen wir dich jetzt“, stand auf einem anderen. „deine Zahnlücke sieht aus wie ein Pferd“, „du bist viel zu dünn“, „Lucie ist in Mathe viel besser als du“…

Vor dem Sportunterricht standen wir vor der Turnhalle und warteten, bis diese aufgeschlossen wurde. Verenice und Lucie gingen auf mich zu, allein jetzt wurde mir flau im Magen, ich spürte, wie ich immer kleiner wurde und fast verschwand. Ich schaute zu Boden, duckte mich leicht und Verenice sagte mir ins Gesicht „sag mal Hannah, hast du dich eigentlich schon mal im Spiegel angesehen? Du bist echt magersüchtig, ich meine das ist überhaupt nicht schön, das ist einfach nur eklig“. Lucie hakte nach „du müsstest mal mehr essen, was ist du denn Zuhause so?“, ich zählte mit ganz schwacher Stimme alles auf, von Frühstück bis Abendbrot. Ich sagte, bei MC Donalds hatte ich 2 Burger gegessen und dann noch ein Eis, oder dass ich immer Wurstbrote zum Abendbrot aß, weil mein Opa Metzger ist. Sie sagten, dass man davon nicht zunimmt oder nicht satt wird. Anschließend wurde über meinen Opa geredet, dass seine Wurst nicht gut genug sei um zuzunehmen, der Beruf Metzger eklig sei oder anderes. Dann wurde über meinen Rucksack gelästert und mit einem angewiderten Blick wurde ich stehen gelassen.
Eines Morgens saß ich wieder neben Lucie im Bus, öffnete meine Brotbüchse und sie sagte, wenn ich auch nicht mal etwas Obst oder Gemüse in der Schule esse, nehme ich nicht zu.

Vor dem Physikunterricht kam Verenice auf Maria und mich zu und sprach mich auf meine Zahnlücke an. Sie sagte „jaa, aber bei Marie stehen die Zähne so nach außen, das sieht wirklich aus wie ein Pferd“. Wenig später bekam ich mit, dass Verenice in Marie´s Beisein über mich gesagt hatte, dass Meine Zähne noch schlimmer aussehen würden als Maries Zähne.
Lucie erzählte Nadine, Paula und Verenice, dass ich oft mit offenem Mund dasaß, wenn ich träume. Sie machte es vor und die anderen schauten angeekelt und verwirrt.
Eines Morgens wurde ich von allen Mädels aus der Klasse zur Rede gestellt, weil ich vor gewisser Zeit etwas über Maria gesagt hatte und dafür zogen sie mich zur Rechenschaft. Es handelte sich dabei um ein Gespräch, dass ich mit Lucie geführt hatte, wir hatten uns über die Körperfiguren in der Klasse unterhalten, von sehr schlank angefangen. Dabei zählte ich Maria als letztes auf. Mit gar keiner Absicht, irgendwen ansatzweise zu bleidigen oder jemandem Unrecht zu tun. Meist war es so, dass ich Lucie auf etwas ansprach, was mir tief auf der Seele brannte und ich ihre Meinung dazu wissen wollte. Daraus entstand dann immer das Gespräch, und sie erzählte den anderen weiter, was ich gesagt hatte.
Ich wurde von Verenice mit großen hasserfüllten Augen angestarrt, als sie mir sagte, wie scheiße es von mir war, Maria als dick zu beleidigen, darauf erklärte ich mich, dass es absolut gar nicht beleidigend gemeint war und was ich wie gesagt hatte. Daraufhin erwiderte sie „ja aber du hast sie trotzdem als letztes aufgezählt, wie würde es dir denn gehen, wenn man dich als letztens irgendwo aufzählt“. Von allen Seiten wurde ich befeuert, ich sprach zu Maria, entschuldigte mich, versuchte mich zu erklären…
Ich kam mir vor wie im Löwengehege. Dieses Verhören, von allen Seiten mit Aussagen bombardiert zu werden, mich rechtfertigen zu müssen und ganz egal was ich sagte, es ging vorbei wie ein kalter Windzug. Nach diesen Gesprächen fühlte ich mich verlassen, komplett hilflos, in mir stieg ein tiefes Gefühl von ewiger Schuld auf, von Ekel auf mich selbst und als wäre ich ein Häufchen aus Leere und Müll. Ich fühlte mich, als hätte man mich mit Worten gefoltert, mir ins Gesicht gesagt, wie scheiße, schlimm, furchtbar und erbärmlich ich bin.
An jedem einzelnen Nachmittag ging ich mit genau demselben Gefühl nach Hause. Ich schloss die Tür auf, legte meine Sachen ab und ging mit geduckter Körperhaltung in die Küche. Dort setzte ich mich vorsichtig hin und hatte Angst, dass die Mädels hinter der Tür standen, mich belauschten, dass jemand Kameras in der Wohnung installiert hatte und das alles was ich sagte, dafür hätte sorgen können, dass ich am nächsten Tag wieder verhört und gepeinigt werde. Ich hatte das Gefühl, dass Schmerz für mich bestimmt war, ich wusste nicht wer ich war, ich hatte absolut gar kein Selbstwertgefühl, ich fühlte mich völlig schwach, mickrig und allem Übel dieser Welt ausgeliefert. Als wäre ich ein dreijähriges Kind, was in völliger Dunkelheit, zwischen Panzern, Gewehren und Bomben im Krieg herumkrabbelt und darauf wartete, von Soldaten erschossen zu werden.
Dieses Gefühl, ganz egal was du tust, egal was du am Morgen anziehst, egal was du magst und was du nicht magst, egal was du den Mobbern antwortest – scheißegal, es ist alles falsch und für wirklich alles wirst du ausgelacht oder als völlig dumm dargestellt. Du wirst als dumm und erbärmlich dargestellt, weil du Du bist und einfach nur das machst, was du halt machst. Nichts richtig machen zu können, dass alles an dir eklig ist, du dich eigentlich nur noch dafür schämst, dass du geboren bist, Scham für das was du bist, Scham für deine Existenz – dieses Gefühl, ich werde es nie wieder vergessen, das ist das ekelhafteste, schmerzhafteste Gefühl, dass ich im Leben gespürt habe. Das ist so erniedrigend, so menschenunwürdig, das ist wie KZ für die Seele.


Zuhause – als meine Mutter kam, begrüßte sie mich freundlich und fragte wenig später, ob alles okay sei. Ich antwortete ein ganz gedrücktes „ja“ und versuchte selbstsicher zu schauen, doch sie merkte sofort, wenn etwas nicht stimmte. Sie fragte, wie die Schule war, ich sagte sie war gut. Es dauerte eine halbe Stunde, eh ich überhaupt realisierte, dass ich Zuhause war, in Sicherheit und das ich das erzählen konnte, was wirklich los war und ein wenig erzählte ich es dann auch. Ich erzählte es und spürte dabei schonwieder die Angst vorm nächsten Schultag. So oft wünschte ich mir, dass der Nachmittag Zuhause niemals enden würde, dass niemals ein neuer Morgen käme, ich einfach Zuhause bleiben konnte, in Sicherheit. Diese Angst in mir, diese furchtbare Angst, das war nicht die Angst, die man vor einem Vorstellungsgespräch hat oder wenn man wandern geht, man sich in 2000 Metern Höhe befindet und es langsam dunkel wird, oder etwa die Angst, wenn man sein Passwort vergessen hat, oder wenn man die allerwichtigste Abschlussprüfung schreibt. Das ist auch nicht die Angst, wenn man denkt, die Oma im Hospiz könnte jeden Tag versterben oder die Angst, wenn ein riesiger Hund auf einen zukommt. Nein, diese Angst war eine andere. Dieses Gefühl, wenn du auch nur einen einzigen Fehler machst, der den Mobbern nicht passt, dann wirst du dermaßen erniedrigt und gedemütigt, dass du am liebsten heulend im Erdboden versinken möchtest, aber da dies nicht geht, musst du es aushalten. Du stehst im Raum und musst es immer und immer wieder über dich ergehen lassen, du bleibst da, aber deine Seele verlässt deinen Körper, du stehst da wie eine leere Hülle aus nichts.

Papa schüttete Daniel und mir jeden Morgen Früchtetee in leere Cola Flaschen. Warum das eine Zeitlang so war, weiß ich gar nicht. Es gab frühmorgens immer Tee und die Cola Flaschen standen eben da, so nahm ich die Flasche als Getränk zur Schule mit. Daraufhin fragte mich Verenice, warum ich meinen Tee in Cola Flaschen trank, dass das komisch sei und sie schaute die anderen verwirrt an.
Vor dem Unterrichtsanfang ging ich zur Lehrerin an den Tisch und fragte, was wir heute machten, ich fragte ganz detailliert nach. Wir hatten eine Stunde Unterricht bei Frau Häußler und ich sagte einmal, dass es mir nicht gut ging, daraufhin sagte sie, dass sie da jetzt nichts machen kann.
Ich setzte mich hin, und wartete schwitzend, dass der Unterricht anfing. An manchen Tagen hatte ich Glück und sie ließen mich in Ruhe, doch an deren Tagen gingen sie an meinem Platz vorbei, nahmen etwas und rannten damit durch den Klassenraum, zogen mir wieder an den Haaren oder redeten leise über mich und schauten mich angewidert an, während sie an mir vorbeigingen.
Ich wurde gefragt, warum ich noch kein Touchhandy hatte und stattdessen ein Klapphandy, oder das es scheiße aussah, weil ich Socken anhatte und meine Keenschuhe trug.
Es gab ständig und täglich etwas an mir auszusetzen.
Irgendwann machte Frau Hartmann eine Stunde mit uns, in der wir Grundsätze aufschrieben, an die sich jeder in der Klasse halten müsste. Alle schrieben etwas auf und jeder unterschrieben unter den Sätzen und ab dem Tag lies das Mobbing langsam nach.
Doch meine Angst blieb.
Noch heute sehe ich mich, wie ich frühmorgens halb 7 im Bad vor dem Lüfter stehe, die warme Luft an meinen Beinen genieße und nebenbei eine furchtbare Angst habe, dass ich wieder gemobbt werde. Ich redete mir selbst ein;
„heute ist Montag, da kommen alle erstmal aus dem Wochenende und haben mit sich selbst zu tun“.
„Heute ist Dienstag, da tauen alle so langsam wieder auf und bereiten sich auf das Mobbing vor“. „Es ist Mittwoch, heute könnte was passieren“.
„Es ist Donnerstag, auch heute kann was passieren“.
„Es ist Freitag, da freuen sich alle aufs Wochenende, da wird nicht mehr so viel kommen“.
Hin und wieder wurde ich dann nochmal zur Rede gestellt wegen irgendwelchen Situationen aus der Vergangenheit, das tat mir weh, aber ich dachte für mich, es ist eine milde Strafe und ich muss das über mich ergehen lassen, weil ich einfach von Natur aus ein schlimmer Mensch bin, der schuldig ist, ständig was falsch macht und dafür bestraft werden muss. Dieses Gefühl trage ich bis heute in mir und an den Stellen, wo ich beschimpft werde, gehe ich genau wieder in diese geduckte Haltung und fühle mich ganz klein und als wäre ich der schlimmste Mensch, der etwas ganz ganz Furchtbares getan hat.

Eines Morgens beschimpfte mich Lucie, weil ich Nadine am Schulmorgen zur Begrüßung umarmt hatte. Ich wurde dafür gemaßregelt und sie erklärte mir, was ich Schlimmes an mir habe und das ich deshalb Nadine nicht mehr umarmen sollte.
Zu Weihnachten schenkte Mama mir einen Disney Pullover auf dem ein „Motzzwerg“ abgebildet war, es war ein Zwerg der angepisst schaute. Ich zog ihn in der Schule an und an dem gleichen Tag wo ich ihn trug, hatte Verenice einen Angry Birds Pullover an. Sie beschwerte sich über meinen Pullover „Ja so was mit Angry Birds was ich anhabe das geht ja, aber dein Pulli ist wirklich kindisch“.
Zuhause achtete ich ganz genau darauf, dass ich bei der nächsten Sportstunde nicht den gleichfarbigen Schlüpfer anzog wie bei der letzten Sportstunde. Ich achtete darauf, dass keine Schmetterlinge, Streifen oder ähnliches auf dem Schlüpfer waren, denn genau darüber hätte Lucie geurteilt.
Einmal sagte sie, mein Zopf hänge zu tief, entweder ich mache ihn höher oder ich soll gar keinen Zopf tragen.

Irgendwann vergingen die Mobbingzeiten aber, doch mein Verhalten hatte sich drastisch verändert. Ich war überfreundlich zu jeder Person, die mir begegnete, ich erzählte niemandem mehr etwas über jemand anderen, und wenn ich nach einer Meinung gefragt wurde, sagte ich ausschließlich positive Sachen. Ich sagte ich mochte Verenice.
Etwa ab der 8. Klasse hatten wir mit zwei Klassen Sport – wir waren die 8b, dann kam die 8a und 8c noch dazu, die Umkleide war voll, und zu Lucie redete jetzt noch mit Delia über meine Figur. Ich stand immer ganz dicht an der Wand beim Umziehen und zog mich so rasch um, sodass es möglichst niemand bemerkte. Ich hatte solche Angst, etwas zu hören, mich rechtfertigen zu müssen oder etwas dergleichen.

Noch bis zur zehnten Klasse gab Lucie Kommentare über meinen dünnen Körper oder meine Klamotten ab. Sie sagte, was ich essen müsste um zuzunehmen, wie ich mich bewegen müsste und auf was ich achten soll.

Dann war die Regelschulzeit vorbei.


Ich hatte jetzt meinen Realschulabschluss in der Tasche und mich an einer Berufsschule beworben, wo ich die Sozialassistenten Ausbildung begann. In meinem Kurs waren 25 Leute, mich miteingeschlossen. Unter den Jungs befanden sich Eric, Yannik, Nick und Tobias. Die Mädels, welche mich später ins Visier nahmen waren Lisa, Marie und Josi. Es fing ganz harmlos an, Yannick pöbelte manchmal etwas, so wie es Teenager untereinander taten. Doch irgendwann wurden die Pöbeleien so viel, dass ich dem kaum noch Stand hielt. Yannick scherzte, ob ich mal im Puff arbeiten will, was für Unterwäsche ich trage, wann ich zuletzt gekifft hatte und andere Dinge. Er fragte, wie oft ich schon Sex gehabt hatte und sagte nebenbei, so wie ich aussehe, hatte ich garantiert noch nie einen im Bett. Er sagte, ich sei hässlich. Immer wenn ich den Raum betrat, riefen Yannick und Nick im Chor „iiiih, was ist das denn“.
Eric schien zunächst harmlos, doch er meinte, er erlebe mich immer als zu ruhig und zu naiv und er will mir helfen, dass ich aus mir rauskomme und mal so richtig ausraste, dazu würde er mich so lang reizen, bis genau dies passieren sollte. Jeden Tag sagte er etwas über mich oder zu mir. Ich ging an seinem Tisch vorbei und er schaute angewidert zu mir und sagte „junge, wie siehst denn du heute aus, echt eklig“, er drehte sich zu Annalena und sagte „also wie die willst du nicht aussehen oder?“.
An einem anderen Tag erzählte er, dass er in einem Bericht gelesen hatte, dass wenn man Menschen nicht jeden Tag Komplimente macht, die sich dann umbringen würden. Immerzu sagte er jedem aus der Klasse etwas nettes. Dann wendete er sich zu mir mit den Worten „Ich könnte ja auch zu Hannah mal was nettes sagen, aber bei der ist eh nichts mehr zu retten, die kann sich ruhig umbringen“. Er sagte „ey, wäre ich ihr Vater, ich hätte mir schon längst die Kugel gegeben, der ihre Eltern tun mir so leid“.
Lisa, Marie und Eric unterhielten sich über Namen, dabei sagte Eric, dass er den Namen „Hannah“ furchtbar fand. Welch Überraschung…
Einen Tisch weiter hinten unterhielten sich Yannick und Nick, was sie im Leben gern so hätten. Yannick sagte „ich würde auch gern so vieles“, er drehte sich zu mir und fragte mich was ich gerne hätte, nahm mir aber im selben Moment die Antwort aus dem Mund und fuhr fort „mal aussehen wie 18?“. Er sagte ich sei kindlich. Eric sagte, er dachte das aus mir mal eine richtige Frau wird und ergänzte „aber naja, guck dich doch mal an… echt schade“.

Wieder kam ich nach einem Toilettengang in den Raum und Yannick sagte „iiih… ey Hannah, du bist sooo hässlich, oh mein Gott“ und tat als würde er weinen. „Und du stinkst auch noch so“.
Ein Gespräch zwischen Eric, Lisa und Marie war zu hören. Eric sprach über seine Xbox und das diese kaputt war. Dann fuhr er fort „Naja, aber selbst meine kaputte Xbox ist wertvoller als die“ und schaute angewidert zu mir rüber. „Ohne Scheiß, auch meine Scheiße im Klo hat mehr Wert, als Hannah“. Ich ging in der Pause in die Kantine, kaufte mir etwas zu essen. Dann ging ich wieder in den Klassenraum und Eric sagte laut „oah Hannah, sag mal was machst du eigentlich noch hier, willst du nicht langsam mal gehen?“.
Auf dem Hof sollten wir zum Kunstraum gehen, also ging ich mit meinen Sachen in Richtung der Eingangstür und zog vorher nochmal an meinem Verdampfer. Dann sagte Eric „guckt mal, Hannah hat ihre E Zigarette wieder dabei“ und Lisa entgegnete „ja, da ist Scheiße im Liquid, deshalb dampft Hannah das gerne“. Inzwischen fertigte ich auf dem Handy eine Liste an von allen Dingen, die Eric, Yannick oder wer auch immer zu mir sagte. Jedes Mal, wenn Eric etwas sagte, folgte Marie mit den Worten „pass, auf das kommt auf die Liste“ und sie lachten laut.
Yannick sagte, dass meine Augenbrauen scheiße aussahen, ich so dünn und kindlich sei, dass mich nie jemand für voll nehmen würde. Auch Nick stieg meist ein mit dem „iiih“ Ausruf, wenn ich in den Raum kam. Egal welche Bewegung ich machte, wohin ich ging, es wurde alles kommentiert und darüber lachten sie sich tot.

Ich stand Zuhause an der Küchenzeile und sagte zu mir selbst, ich fühle genau das gleiche Gefühl, was ich damals in der Mobbingzeit der Regelschule gespürt hatte. Mein Magen war flau, ich fühlte mich wie das kleine hilflose Mädchen, ganz allein, ganz böse und widerlich.
Ich merkte, dass in meinem Kopf und meinem Körper etwas passierte, was ich noch nicht beschreiben konnte. Ich fing an, mich selbst fertig zu machen, ich tat mir weh, schminkte mich jeden Morgen zwei Stunden vor der Schule und zog mir nur die allerbesten Klamotten an. Ich schrieb seitenweise Texte, in denen ich mich schlecht redete und kam mir vor, als wäre ich ein Monster, ein ganz furchtbarer Mensch, der nicht in diese Welt gehört. Ich fing an, über Suizidwege nachzudenken. Ich ritzte mir beide Arme auf, ritzte mich an den Händen, an den Beinen und auch im Gesicht. Ich stellte mich vor den Spiegel und sah das widerlichste hässlichste Geschöpft, dass ich je gesehen hatte. Ich ritzte mir Sterne in die Stirn, schnitt mir in die Nase und biss mich auf die Lippen, bis sie leicht bluteten. Ich schlug mich, band mir ein Band um den Hals und zog es immer fester zusammen.
An den Wochenenden trank ich allein in meinem Zimmer. Ich trank so viel, bis alles sich drehte, zündete mir eine Zigarette an und lag rauchend auf dem Boden meines Zimmers, dann ritzte ich mich mit allen möglichen Dingen: mit Messern, Scheren, meinem Schlüssel, mit Stiften, dem Korkenzieher, ich zog den Klebestreifenabroller über die geritzten Linien. Ich weinte aus vollstem Halse, und dann trank ich noch mehr dazu.
Jeden Samstag wachte ich gegen halb 11 auf, völlig verkatert, meine Augen waren so dick angeschwollen, dass ich sie nicht komplett öffnen konnte. Mein Zimmer roch nach Alkohol und ich nach Schweiß. Jeden Morgen brannten meine Arme.

Die Zeit verging, ich weis gar nicht, wann und wie die ganzen Kommentare der anderen endeten, irgendwann ging es vorbei. Ich kam in eine Beziehung und bestellte mir zur gleichen Zeit ein komplettes Set zum Zunehmen. 500 Gramm Pulver, Tabletten und ein Rezepte Buch. Dreimal am Tag machte ich mir mit dem Pulver einen Shake und einmal am Tag nahm ich die Tabletten. Das Ganze kostete mich 150€. Doch ich nahm nicht zu, im Gegenteil, ich verlor den Appetit. Ein paar Monate waren wir schon zusammen und ich merkte, dass ich mich bei ihm nicht wohlfühlte und erstrecht nicht, wenn wir mit der Familie gemeinsam aßen. Nie bekam ich etwas runter und oft war mir am Abend so schlecht, weil ich so einen riesigen Hunger hatte, aber eben keinerlei Appetit und allein, wenn ich Essen roch, bekam ich einen Brechreiz, bekam kalte schweißige Hände und zitterte.
Ich saß an einem Donnerstag mit ihm auf dem Bett, er hatte ein paar Brote geschmiert und zwei Würsten dazugelegt. Ich freute mich so sehr, doch merkte, was es für mich eine Arbeit werden würde, die Hälfte davon essen zu müssen. Ich fing bei dem kleinsten Brot an, biss ab, schluckte es krampfhaft runter und musste fast brechen. Ich biss weiter ab, kaute langsam und schluckte es wieder. Fast eine Stunde saß ich auf dem Bett mit dem Brot in der Hand, ich bekam es einfach nicht runter. Er ging raus auf Toilette und sagte, wenn er wieder da ist, will er, dass ich das Brot aufgegessen habe.
Ich saß steif auf dem Bett, in meiner linken Hand hielt ich das Brot und zitterte am ganzen Körper so sehr, dass mir das Brot fast aus der Hand fiel. Fast schlief ich ein und mir war speiübel.
Er kam wieder rein und beschwerte sich, dass das Brot immer noch da war.
Die Beziehung lief aber weiter; wenn ich ins Zimmer kam sagte er „ey, du stinkst“ und grinste fies. Ein anderes Mal verließ er das Zimmer mit den Worten „bist sowieso hässlich“ und grinste wieder. Er nannte mich Gollum. Wir schauten Ted 2 und er stoppte den Film genau an der Stelle, wo Gollum zu sehen war und sagte „guck mal Schatz, dein Zwilling“.


Ich wollte nicht mehr rausgehen, mich nicht mehr anschauen, nicht mehr an mir runterschauen, ich machte mich immer weiter fertig. Bis dahin, als ich plante, meinen letzten Winter zu erleben, weil ich so hässlich, so wertlos, so dürr, so schlimm, zu nichts nutze und in dieser Welt nichts weiter als ein Haufen Müll sei…





Bloße Worte anderer Menschen können dein Leben und die eigene Sicht auf dich selbst verändern und dich krank machen. Egal wie viele Jahre mich die Zeit von den Zeiten trennt, in der diese Worte zu mir gesagt worden, im Herzen und im Kopf werde ich sie immer spüren. Bis zu meinem Lebensende. Denn die Erinnerungen sind so prägend, dass sie im Langzeitgedächtnis für immer abgespeichert sind. Mit diesen Erinnerungen werde ich ins Grab gehen, ob ich will oder nicht.


© ja


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Beschreibung des Autors zu "In der Schusslinie"

Über meine Mobbingerlebnisse und die Folgen davon

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