Manchmal denke ich darüber nach, was wohl passiert wäre, wenn ich es damals durchgezogen hätte. Wenn ich damals einfach gegangen wäre. Versteht mich nicht falsch, ich bin froh, dass ich es nicht getan habe. Dennoch frage ich mich, wie das Leben ohne mich ausgesehen hätte.

Würde meine Familie mich vermissen? Ich hatte in meiner Jugend selten das Gefühl, dass ich ihnen wichtig war. Es gab so viele Regeln, die wirkten als wären sie zu meiner Sicherheit, aber in Wirklichkeit waren sie nur um mich zu kontrollieren. Es ging nie um mich. Hätte ich dort wirklich gefehlt?

Hätten meine Freunde mich vermisst? Egal wo, ich habe mich so oft wie der Außenseiter gefühlt. So oft wurde ich einfach übergangen, wenn ich etwas erzählen wollte. Wie oft lief ich in der Gruppe hinter den anderen, weil der Platz auf dem Bürgersteig nicht ausreichend war. Gleichzeitig war ich in anderen Gruppen aber immer die, die darauf achtete, dass niemand zurückfiel.

Wäre jemand aus meiner Schule traurig darüber? Oder würden nur ein paar dumme Sprüche dazu fallen, so wie immer Kommentare zu meinem Aussehen fielen. Würden sie sich darüber lustig machen, dass ich mich umgebracht hätte?

Aber ich habe mich dagegen entschieden. So oder so hätte ich es ja nie erfahren. Und trotzdem habe ich aus irgendeinem Grund noch die Abschiedbriefe von damals. Ich bewahre sie sorgfältig auf. Manchmal lese ich sie noch. Selbst in den Briefen versuche ich niemandem die Schuld zu geben, alle irgendwie zu schonen. Bloß keinen Unmut verbreiten. Vielleicht wäre es mir besser gegangen, wenn ich damals nicht so darauf bedacht gewesen wäre keinen Streit anzufangen. Vielleicht hätten die Leute mich dann gesehen. Oder mich weniger kontrollieren können. Aber selbst denjenigen, die mir wirklich wehgetan haben, habe ich in meinen Briefen versichert, dass es nicht ihre Schuld sei. Was natürlich nicht stimmte, aber ich wollte nicht mehr Schmerz als nötig verursachen. Mein Tod sollte nicht als Rache aufgefasst werden.

Naja. Eigentlich ist es auch egal. Das waren vergangene Zeiten. Mein Leben ist nun viel besser. Und nur darauf kommt es an.


© Menschenblind


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