Allein. Allein in meiner, jetzt wieder: meiner Wohnung. Was für ein großartiges Gefühl von wiedergewonnener Freiheit breitet sich in mir aus. Ich möchte hüpfen und oder schreien, laut singen oder hurra brüllen, aber das würde vielleicht nur lästige Anteilnehmer meiner neuen Freiheit auf den Plan rufen. Also bleibe ich in der Stille und genieße mein Glück – allein.
Ich habe gerade geduscht. Es ist Sonntag. Ich kann machen, was ich will. Einen Sekt trinken, eventuell? Lieber nicht, mein neues Glück möchte ich bei klarem Bewusstsein genießen.
Nur in Slip und BH durchwandere ich meine Wohnung. Sein Arbeitszimmer, sein ehemaliges Arbeitszimmer, ist leer. Komplett leer, darauf habe ich bestanden. Das eine oder andere Teil hätte ich vielleicht gebrauchen können...nein. Irgendwie riecht es noch nach ihm in diesem Raum, nicht unangenehm direkt, aber ich will ihn nicht mehr erschnuppern. Ich werde ein Räucherstäbchen dagegen anzünden. Überhaupt: Aus diesem Zimmer wird mein Yoga-Raum, das steht fest.
Im Wohnzimmer fläze ich mich in seinen Lieblingssessel, direkt gegenüber vom Fernseher. Sein Lieblingssessel aber war schon immer mein Sessel, den hatte ich mitgebracht. Also bleibt das Teil – ich könnte aber den verdammten Fernseher verschenken oder sonst wie entsorgen. Weg damit, und sein Blick, wenn sein Geist den Sesseln einnimmt, geht ins Leere.
Sein Geist wird mich nicht verfolgen, wird sich ganz mit den übrigen Sinnen auf das neue Abenteuer Weiblichkeit fokussieren. Hm, mein Glück oder mein Fluch...? Es sollte mir egal sein. Vielleicht zeugt er mit ihr ein Kind. Gottseidank sind wir bislang ohne Kind geblieben. Ein Kind kann nicht in die Freiheit des einen oder des anderen einbezogen werden, Kinder einer kaputten Beziehung bleiben Opfer.
Die Freiheit für ein Wunschkind habe ich noch, mit 38 ist diese Option nicht verspielt. Wenn sonst nichts dagegen spricht. Aber Familie – will ich das?
Das Wasser für meinen Tee meldet sich. Es soll heute mein Lieblingstee sein. Niemand wird mich mit meinem Tee stören. Von einer Kanne in die andere umgeschüttet, bis die Temperatur stimmt, die abgemessene Menge des duftigen Gyokuro hineingerieselt, mein Blick auf die Uhr. Herrlich blumig wird meine Nase berührt, Tee durchs Sieb - fertig.
Mit meiner Teetasse in der Hand passiere ich den großen Spiegel in der Diele. Ich sehe gar nicht übel aus. Wenn ich mir jetzt noch die Haare zurechtmache und mich schminke, bin ich einigermaßen attraktiv. Hey, warum eigentlich? Ich will doch frei leben und mich nicht über Begehrlichkeiten anderer definieren, schon gar nicht im Sinne von Männern. Für heute jedenfalls bleibe ich so, wie ich bin. Mir fällt auf, dass sich der Beinabschluss des Slips an einer Stelle kaputt ist. Egal, das sieht heute niemand.
Ich könnte mich salonfähig anziehen, tus aber nicht. Ich hocke mich auf mein Yoga-Kissen, neben mir eine Tasse des ebenso köstlichen wie immer noch heißen Getränks.
Das Telefon! Meine Mutter, zeigt das Ding an. Nein, liebe Mutter, du sollst nicht wissen, wie gut es mir geht. Ich brauche weder Trost noch sonstwelche Kommentare. Ich weiß, du findest es so schade, wie es gekommen ist. Ich aber nicht. Feierabend.
Meine Aufmerksamkeit folgt dem Ausschwingen Klangschale. Halbgeschlossen sind meine Augen, die Neugestaltung des Raumes zum Yoga-Raum hat Zeit. Ist es eigentlich ok, wenn ich beim Pratyahara Tee trinke? Ihr könnt mich mal, ihr Yoga-Weisen. Geschmacks- und Geruchssinn bleiben aktiv, ein wenig. Dem Rückzug der Sinne steht nichts im Weg, Aufrichtung und Atem als vertraute Freunde begleiten mich, sanft, helfend, liebevoll.
Abschließend singe ich 3mal „Gate, gate, paragate, parasamgate, bodhi svaha!“
Natürlich und merkwürdig zugleich, dass meine einsame Stimme unbeantwortet bleibt.
Die eben gewonnene „Leere meines Geistes" füllt sich schnell wieder. Nein, ich will nicht nachdenken über das, was ich heute tun könnte. Und anziehen tue ich das, was mir in die Finger gerät.
Musik wäre nicht schlecht. „I don’t want a lover, I just need aaa friend“. Sharleen singt das so glaubhaft... Lover gibt’s genug. Aber jetzt möchte ich weder noch. Ah – „Softly as in a morning sunrise“ vom MJQ. Die Töne des Vibrafons perlen wie Tautropfen.
Nach dem letzten verklingenden Ton versaut mir die Türklingel die Stimmung. Die Kamera zeigt mit Sally in ihren Jogging-Klamotten, offensichtlich etwas verschwitzt.
„Hi Sally, komm rein.“ Ich freue mich wirklich. Als sie über den Hof meine Wohnung erreicht hat, reiße ich die Tür auf. Sally sieht mich in Slip und BH.
„Wow, was ist los? Erwartest du Männerbesuch?“
„Nix is los! Ich habe geduscht und yogiert.“
„Ich habe meine Runde modifiziert um bei dir reinzuschauen, ok?“
„Das ist nett von dir. Trinkst du einen Tee mit?“
Ich drücke die schweißfeuchte Sally herzlich und biete ihr die Dusche an. Sally die Schnelle zieht sich schon vor dem Bad das T-Shirt über den Kopf, schlüpft aus ihrer Hose und verschwindet im Rauschen der Regendusche.
Sally kommt raus und rubbelt sich trocken. „Hast du Lust mit mir bei Griechen zu essen?“ Ich überlege, ob sie mir damit einen Gefallen tun möchte, aber mein Bauchgefühl meint, dass sie es ehrlich meint. Ich schaue zu, wie sie ihre Brüste trockenreibt. „Ja, gern“, lautet meine Antwort, denn ich denke an Lammkotelettes und Retsina.
„Aber ich möchte was anderes anziehen. Hast du was für mich?“
In Sachen Figur gleichen wir uns wie ein Ei dem anderen, sonst überhaupt nicht.
Mein hellblaues Sommerkleid vom letzten Jahr passt ihr wie angegossen, aber man ahnt ihren schwarzen Slip darunter. Auch da kann ich ihr helfen und schaue beim Höschenwechsel ungeniert zu.
Einen Moment lang stelle ich mir Sally und Jakob im Bett vor, wie er gierig von ihrem Körper Gebrauch macht, wie sie genießt und sich gut fühlt.
Zwei süße Mädchen haben die beiden, darum beneide ich sie. Sonst um nichts, auch nicht um den ebenso liebevollen wie intelligenten Jakob. Aber Kinder, wenigstens eins, hätte ich gern.
Als wir starten, hätte ich gern meinen Arm um Sally gelegt. Alles an ihr ist mir so sympathisch, buchstäblich alles. Ob Jakob seine Sally mit mir teilen würde? Was würde er sagen, wenn ich jetzt meine Hand auf ihren Po legen würde, während sie läuft. Was würde Sally sagen, wenn ich es jetzt täte, während sie sich schon auf dem Weg zum Akropolis zwischen Moussaka und einem Grillteller zu entscheiden versucht.


© Leandra


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