Sie kennen das sicher: ein Geruch, eine Stimmung, ein Geräusch, irgend etwas rührt Sie plötzlich auf eine Weise an, dass Sie denken „hatte ich schon einmal“ oder „kommt mir bekannt vor“. Manchmal ist es so, dass Sie es nicht gleich einordnen können, eher unbestimmt und vage, vielleicht wie ein Tier, das vorbei huscht, bevor Sie es richtig wahrnehmen. Ein anderes Mal haben Sie gleich die dazu passenden Bilder vor Augen oder spüren das Gefühl, das damit verbunden ist. Sie kennen das sicher!

Ich werde auch manchmal von solchen Erlebnissen überrascht. Ein Lied bringt mich mit einem Mal zurück in die Jugendzeit und erinnert mich an den ersten Tanz mit meiner ersten großen Liebe. Ein bestimmtes Parfum lässt mich als kleines Kind in die Arme meiner Mutter sinken, und ein strahlender Sonntag rüttelt all die Gefühle und Stimmungen wieder wach, die mich an vielen Sonntagen während meiner Zeit auf dem Gymnasium heimsuchten. Der Geruch von frisch geschnittenem Gras im Sommer erinnert mich an viele Samstagnachmittage, wenn mein Vater den Rasen mähte und anschließend die Maulwürfe mit Kabit vertrieb, einem übel stinkenden Mittel, das in die Gänge hineingestreut wurde und für Stunden in der Luft hing. Seltsamerweise habe ich dabei oft auch ein Sommergewitter im Kopf, das den Himmel verdunkelte und mit warmem Regen und grollenden Donnerschlägen die Natur wieder reinigte. Doch nichts ist so stark in mein Herz und meine Erinnerung eingegraben, wie das mühsa-me Stampfen dieseliger Schiffsmotoren, wenn sie ihre Fracht stromaufwärts schieben.

Unser Haus stand etwa einen Kilometer vom Rhein entfernt, und als Kinder spielten wir oft an der alten Schleuse, sammelten Kaulquappen und sahen zu, wie die Schiffe ihre Nachrichten vom „Tower“ entgegennahmen, der sie ihnen per Megaphon übermittelte. Er bestand aus Holz und Glas und war nicht mehr als eine Kabine, die auf vier dicken Pflöcken stand. Obendrauf war der Lautsprecher montiert, und wenn es eine Nachricht gab, wehte draußen ein Wimpel im Wind. An dieser Stelle fuhren die Schiffe immer nah an Land, damit die Schiffer auch die Nachrichten verstehen konnten. „Rufen Sie bitte umgehend zu Hause an“ oder „Nehmen Sie bitte in Duisburg Ladung auf“ waren solche Nachrichten, und manchmal standen die Schiffer an Deck und legten den Zeigefinger an ihre alte Schirmmütze zum Zeichen dafür, dass sie verstanden hatten.

Der Rhein roch. Er besaß einen unverwechselbaren ölig-wässrigen Geruch, den man sein ganzes Leben lang nicht mehr vergisst. Bei Nieselregen und Nebel war er am stärksten. Wie ein nasser Hund. Dieser Geruch hatte etwas anziehend Abstoßendes. Kalt und warm zugleich. Er war „Heimat“, wie ich heute weiß, einfach nur „Heimat“, auch wenn dieser Begriff vielleicht längst aus der Mode gekommen ist.

Ich liebte es, flache Steine über das Wasser tanzen zu lassen, und einmal schaffte ich es sogar, dass ein Stein siebzehn Mal hintereinander auf dem Wasser aufsetzte, bevor er versank. Wir nannten das „Steine flitschen“ und veranstalteten richtige „Flitsch-Wettbewerbe“. Oft saßen wir auch einfach nur da und schauten den Schiffen nach. Sie hießen „Ingrid-Marie“ oder „Bloembak“, und trugen auf Wimpeln und Fahnen die buntesten Farben. Manche hatten ihr Fahrrad oder sogar ihr Auto mit an Bord. Bei anderen war eine Wäscheleine aufgespannt, und die weiße Wäsche flatterte im Fahrtwind. Am spannendsten war es, wenn ein Schubschiff kam. Die schweren Ladeeinheiten konnte man kaum über den Wellen sehen, so tief lagen sie im Wasser. Und die Motoren stampften, was das Zeug hielt, um die Ladung vorwärts zu bringen.

Wenn genügend Zeit war, führte uns der Heimweg oft über die Deichwiesen, die bei Hochwasser regelmäßig überschwemmt waren. Dort gab es immer viel zu sehen, denn wenn sich das Wasser zurückgezogen hatte, blieb stets „Strandgut“ zurück. Von der Öltonne über alte Wasserkanister bis hin zu toten Katzen und abgeschnittenen Rinderhufen fanden wir alles, was ein Kinderherz begehrt. Wir konnten Stunden dort verbringen und die Wiesen nach Schätzen absuchen. Einmal fanden wir sogar ein paar Münzen, eingewickelt in ein altes Taschentuch. Oft waren unsere Hände und leider auch unsere Kleider ölverschmiert, denn die Schiffe hinterließen nicht nur sauberes Strandgut im Rhein.

Abends, wenn wir Kinder schlafen gingen, lag ich oft lange noch wach im Bett und hörte die-ses Stampfen der Schiffe, wenn sie sich stromaufwärts quälten. Im Winter, wenn es kalt war, oder bei Nebel, konnte man es deutlicher hören. Und manchmal trug der Wind Teile davon fort, so dass es mitunter leiser wurde, um dann wieder um so lauter an mein Ohr zu dringen. Dumda, dumda dumda, dumda. Ich lag da und stellte mir vor, wohin die Schiffe ihre Fracht wohl brachten. Nach Rotterdam? Oder nur nach Emmerich? Ich wusste es nicht, und meist schlief ich auch darüber ein. Es war wie das Schnurren einer Katze, das einen ungemein beru-higen kann.

Als ich unlängst auswärts zu tun hatte, wohnte ich in einem kleinen Hotel am Rhein. Es ging auf den Winter zu, und am Morgen musste ich noch eine Strecke mit dem Auto hinter mich bringen, um mein Ziel zu erreichen. Die Straße führte eine ganze Weile am Fluss entlang. Dicker Nebel lag ringsum auf den Wiesen, die immer saftig grün aussehen, und die Sonne verbreitete dahinter geduldig ihr noch schwaches rötliches Morgenlicht. Hinter dem Deich sah ich undeutlich die Konturen eines Schiffes. Ich drehte die Scheibe herunter, und da war es wieder, dieses Stampfen des Dieselmotors. Dumda, dumda, dumda, dumda. Ich parkte den Wagen am Straßenrand und lief den Deich hinauf, um das Schiff in seiner vollen Größe zu sehen. Es war die „Maria-Elisabeth“, und sie war mit Eisenschrott beladen. Mühsam quälte sie sich gegen den Strom den Rhein hinauf, und der Motor stampfte, als gäbe es für ihn niemals ein unüberwindbares Hindernis. Ich roch den Diesel, roch das Wasser und sah die Wimpel, die an einer langen Leine längs über dem Schiff aufgespannt waren.

Ich schaute dem Schiff noch lange nach und versank dabei in Erinnerungen an meine Kindheit. Fast hätte ich darüber mein Fahrtziel aus den Augen verloren.


© Ulrich Kusenberg


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