Dämmerung

© Dan Prescot

Dämmerung

Jean war jetzt das zweite Jahr an das Bett gefesselt. Ich hatte ihren langen Kampf gegen die Krankheit mitverfolgt. Mitverfolgen müssen! Dieses aussichtslose Auf-lehnen und die täglichen vielen kleinen Schlachten gegen das Vergessen. Ihr allmähliches abgleiten in die Dunkelheit.
Ich wusste, dass der heutige Tag ihr letzter war. Seit einigen Stunden saß ich nun an ihrem Bett und wartete. Meine Gedanken weilten in der Vergangenheit und schreckten vor der Zukunft zurück. Dieses stumme Stehenbleiben während alles weitergeht. Dieses entsetzliche Verblassen von allem was Jean einmal ausmachte.
Sie lag auf dem Krankenbett und ihre Augen blickten lichtlos, ohne Fokus in das Nichts. Schwer hob und senkte sich ihr Brustkorb. Rang um jeden Atemzug. Ich stand auf und schaute in ihr Gesicht. Die Wangen eingefallen und fahl. Die Augen leer.
Ich hielt den Atem an. Da war etwas, nicht greifbar und formlos. Doch da war etwas. Anders als in den Erinnerungen, ungezwungener, freier doch eindeutig Jean. Nur flüchtig und nur einen winzigen Augenblick. Dann war der Faden wieder verloren. Noch immer hielt ich den Atem an. Dann senkte sich ihre Brust ein letztes Mal. Ruhig verströmte sie ihren letzten Atemzug. Ihre Augen brachen und alles war ruhig.
Nur draußen in der Nacht trommelte der Regen gegen die Fensterscheiben.

Das Geräusch drang an ihr Ohr. Zusammenhang und bedeutungslos. Früher mochte sie das Geräusch. Es vermittelte ihr Geborgenheit und Ruhe.
Ihre Augen sahen Licht und Schatten, Farben und Bewegung. Doch nichts davon nahm sie wirklich war. Der schwache, säuerliche Geruch von Verfall erreichte sie längst nicht mehr.
Jeans Welt bestand ausschließlich aus Gefühl und Reaktion. Sie kannte kein Gestern und kein Morgen. Das Jetzt war unmittelbar. Immer seltener durchbrach etwas ihre Isolation. Die Müdigkeit ließ ihre Perioden des Dahindämmerns länger und inhaltsloser werden. Nur manchmal blitzte so etwas wie Erkenntnis, Erinnerung auf. Dann wurde Jean unruhig. Immer wieder entglitten ihr die Gedanken, sie ahnte den Verlust. Dann wurde sie traurig. Doch auch den Grund dafür vergaß sie bald. Dann war sie nur noch traurig. Und schließlich verging auch das.
Jean aß und trankt nicht mehr von allein. Sie fühlte den Hunger und den Durst, doch kannte sie die Bedeutung nicht mehr. Irgendwo in ihrem Gehirn hatte sich das Leben verbissen. Millionen Jahre Evolution sorgten mit eiserner Kraft für die Kontraktion des Herzmuskels und der Lungentätigkeit. Herzschlag für Herzschlag. Atemzug für Atemzug. Der Geist hatte den Körper längst verlassen. Doch manchmal hob sich der dunkle Vorhang für Augenblicke, um entsetzt zurückzuschrecken. Ihre Träume waren bar jeder Erinnerung ohne Erkennen. Unbefleckt, ohne die Traumata des Lebens. Wie ein Neugeborenes, so rein. Licht und Farben ohne Namen, Freude und Traurigkeit. Immer öfter tauchte sie in diese reine Sphäre, die zu ihr gehörte. Ihr Schutz vor dem Unbehagen, der Angst und Hilflosigkeit.
Bald kannte sie die Grenze ihrer Welt. Diese Barriere die sie nicht durchblicken konnte. Diesen letzten Schritt, der sie zurückhielt und behinderte. Doch etwas Neu-es war da. Etwas zog sie auf die andere Seite. Einen kurzen Augenblick schaute sie zurück um dann ohne Mühe und gelassen hinüber zu schreiten.


© Dan Prescot


2 Lesern gefällt dieser Text.




Beschreibung des Autors zu "Dämmerung"

Manche Schicksale sind so grauenhaft, dass die Worte fehlen.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Dämmerung"

Re: Dämmerung

Autor: possum   Datum: 01.09.2020 3:38 Uhr

Kommentar: Ja dies ist sehr traurig ... Worte verlieren manchmal an Bedeutung, da verbleibt mit Tränen im Herzen still!

lieben Gruß!

Kommentar schreiben zu "Dämmerung"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.